„Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt. Er sagt, dass er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman besteht aus einem einzigen Satz, vielleicht auch aus zweien oder dreien.“
Jörn Winter ist Jürgen Beckers alter ego und Jörn zieht mich mit diesen Worten sofort in seinen Bann. Es sind die ersten Zeilen aus Beckers neuestem Buch „Jetzt die Gegend damals“. Jörn ist bereits bestens eingeführtes Personal, auch in den vorherigen „Journalromanen“ ist er die Hauptfigur.
Jürgen Becker erhielt 2014 den Büchner-Preis und die Laudatio hielt damals der Lyriker Lutz Seiler. Seit dieser Rede hatte ich mir vorgenommen mich mit Jürgen Becker zu beschäftigen. Ich kannte einige exzellente Gedichte von ihm, mehr nicht. Jetzt endlich lese ich das neue Buch und ich bin beglückt. Ich spüre, das ist wichtig, das ist Literatur, die bleibt. Ich empfehle es eindringlich. Ich jedenfalls habe etwas sehr Kostbares entdeckt!
„Es gibt Zeiten, Orte, Vorgänge, von denen nichts anderes existiert als die Gedächtnisbilder, in denen sie aufgegangen sind. Und zwar so vollkommen, dass die Erinnerung nur das noch findet, was in den Bildern erscheint. Und das stimmt eben nicht, sagt Jörn, denn alles Vergangene hat mehr zu bieten, als was mein Gedächtnis festgehalten hat. Es geht darum, dass die Erinnerung sich in Unbekanntes aufmacht; dass sie über die Grenzen ihrer Reichweite hinauskommt; dass sie vergisst, was sie alles schon kennt.“
Es ist ein Spiel, was Becker da treibt. Ein zeitweise höchst amüsantes vielfach philosophisches Spiel mit „Ich“ und „Er“ und letztlich mit „Wir“. Becker stellt klar, dass Jörn nicht er ist, dass der zwar vieles von ihm weiß, aber er vorab niemals weiß, was Jörn tut oder sagt. Es sind Szenen, teilweise wie auf einer Bühne, Dialoge, einer erzählt dem anderen, widerspricht, ergänzt.
„In diese Tagen wurde es wärmer und wärmer und Jörn wäre gerne ans Meer gefahren. Er fuhr aber nicht ans Meer. Jörn sagte, ich würde gerne ans Meer fahren, aber immer hat es einen Grund, etwas nicht zu tun, was man gerne tun möchte, und so gibt es eine Lebenszeit, die man nur im Konjunktiv verbringt, im Erleben von etwas, das man nicht erlebt, aber erlebt haben könnte.“
Das ist kein Roman im klassischen Sinn. Es findet sich keine stringente Handlung. Der Text bleibt fragmentarisch und überlässt das Fortführen der Gedankensplitter dem Leser. Becker oder Jörn vermischen Alltägliches, ihre Handlungen, ihre Beobachtungen mit Erinnerungen und Bildern aus vergangenen Zeiten. Episoden aus der Kindheit, Familienkonstellationen, Reisenotizen, Traumdeutungen, Gedankenblitze wechseln einander ab. Das eine steht gleichwertig neben dem anderen. Beides wird gebraucht. Becker selbst nennt sein neues Buch eine „Chronik der Augenblicke“.
„Nachts wachliegend, versuchte er, den vergangenen Tag, Stunde um Stunde, zu rekapitulieren. Dabei mischten sich Vorgänge ein, die Tage, Wochen, Monate, Jahre zurücklagen; unendlich schien er sich auszuweiten, der Raum der Gleichzeitigkeit.“
Ich erinnerte mich beim Lesen an Anne Webers großartiges Buch „Ahnen“ und an Julian Barnes Roman „Vom Ende einer Geschichte“, die sich ja beide, auf ganz unterschiedliche Weise, auch mit Zeit und der Erinnerung an Vergangenheit und Herkunft beschäftigen und wie Geschichte auf die Gegenwart einwirkt. Mir fiel aber auch Peter Kurzecks Zyklus “ Das alte Jahrhundert“ ein.
Jürgen Beckers Journale sind ganz anders, ganz eigen und behandeln doch die gleiche Thematik. Es ist wohl auch so, dass das Thema mit dem Älterwerden eine immer größere Bedeutung gewinnt…
„Ein Blick in den Kalender, und entweder weißt du, dass du noch jede Menge Zeit hast, oder du weißt, dass du dich jetzt ein bisschen beeilen musst.“
Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren, verbrachte seine Kindheit während des 2. Weltkriegs in Thüringen, lebt heute wieder teils in Köln, teils auf dem Land. Er schreibt Lyrik, Erzählungen, Journale. Mit seiner Frau, der Künstlerin Rango Bohne, veröffentlichte er gemeinsam Künstlerbücher.
Jürgen Becker spricht hier über sein Buch:
http://www.suhrkamp.de/mediathek/juergen_becker_gespraech_und_lesung_1033.html
Empfehlenswert zum Einlesen ist auch „Wie es weitergeht“, eine Sammlung von Prosa aus 5 Jahrzehnten, wie alle Bücher Beckers bei Suhrkamp erschienen.
Spannendes Interview übers Schreiben Jürgen Beckers:
http://www.logbuch-suhrkamp.de/juergen-becker/da-wagt-einer-mich-zu-zerreissen
[…] Eine weitere Besprechung von Jetzt die Gegend damals findet man von Marina Büttner auf literaturleuchtet. […]
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