„Obwohl weitaus weniger geschah, verging die Zeit in der Stadt für mich entscheidend schneller, als sie auf dem Land vergangen war; es war, als ließen die fehlenden Ereignisse, indem sie ihr keinen Widerstand boten, die Zeit rascher verrinnen.“
Kritiker vergleichen ihn mit Stifter oder mit Josef Winkler … Stifter habe ich, ich gebe es zu, noch immer nicht gelesen, Josef Winkler mag ich sehr. Dennoch ist die Art wie Reinhard Kaiser-Mühlecker schreibt womöglich nicht vergleichbar. Es ist ein sehr eigener Stil, zeitweise empfand ich ihn als schlicht oder auch altmodisch, allerdings im besten Sinne. Da wird tatsächlich erzählt und nicht aufgeregt herumgeredet.
Es sind drei Geschichten, in die ich tief hineingezogen wurde. Sie spielen alle im dörflichen, zumindest ländlichen Raum, zwar im Heute, doch man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt, wo eine dichte Atmosphäre herrscht und alte Strukturen wirken. Wie schon zuvor in seinen Romanen, schreibt der 33-Jährige Kaiser-Mühlecker, der unter anderem auch Landwirtschaft studierte, in Anlehnung an die österreichischen Ursprungsorte. Das ist etwas ganz anderes, als all die hippen, coolen Großstadtromane, die derzeit den Buchmarkt überfluten. Da blinkt mehr echtes, existenzielles durch. Zudem gelingt es dem Autor eine enorme Spannung zu erzeugen. In der schaurig düsteren Stimmung der zweiten Geschichte war ich so gefangen, dass es schwer fiel mit der dritten zu beginnen, die dann auch gleich wie ein Märchen anmutete.
Die Charaktere der drei Erzählungen sind ganz unterschiedlich. Alle drei Hauptfiguren sind Männer. Doch während der Erste in „Spuren“ noch irgendwie sympathisch wirkte, war der Zweite in „Male“ mir zuwider und der Dritte in „Zeichnungen“ ging mir mit seiner rücksichtslosen Art gegen den Strich. Kaiser-Mühlecker schafft es innerhalb dieser 1oo-Seiten-Geschichten enorme Wirkung auf den Leser zu erzielen.
„Nie hätte ich gedacht, dass die Welt noch einmal kleiner werden könnte; jetzt sah ich es, vollkommen ungläubig, in jeder einzelnen Stunde. Die Welt, das war im Wesentlichen nur noch ich. Warten hätte mich, wenn schon nicht ausgefüllt, so doch auf eine Weise beschäftigt; es wäre etwas gewesen, das über mich hinausgegangen wäre; aber ich wartete nicht einmal.“
So der Protagonist aus „Spuren“. Er hat seine Arbeit verloren und seine Frau hat ihn daraufhin verlassen. So trudelt er durch die „leere“ Zeit und durch Erinnerungen. Durch Beobachtungen auf dem Grundstück am See löst er ein Familiengeheimnis. Er findet eine neue Arbeit und eines Tages kehrt auch unvermutet die Frau zurück.
“ Die Stimme war weniger heiser, dabei so bestimmt wie zuvor, und einen Moment lang schien es mir, als wäre es keine Stimme, sondern als wären es Augen, die mich durch alle Mauern und Wände hindurch beobachten und zu mir sprechen und mich, der ich, obwohl immer langsamer gehend, bis dahin keine Sekunde innegehalten hatte, lenken würden.“
Ein alter Mann in einer Kammer auf einem Bauernhof erzählt in „Male“ einem anderen seine Geschichte, er nennt sie Liebesgeschichte. Sie beginnt im 2. Weltkrieg und deckt üblen Verrat und die ungeheuren Intrigen seines Lebens auf. Angewidert und doch fasziniert hört der Jüngere zu und wird am Ende der Geschichte in einen ziemlichen Gewissenskonflikt gestürzt.
„Von klein auf hatte ich in dem Bewusstsein gelebt, dass mir alles zustehe: Alles würde einmal mir gehören. Das war meine Zeichnung … Obwohl nichts mehr mir gehörte, weil ich mit meinem Weggehen auf alles verzichtet hatte, lebte ich immer noch in diesem Bewusstsein – oder: lebte dieses Bewusstsein in mir. Plötzlich bemerkte ich, wie es zerbröckelte. Nichts mehr stand mir zu. Es gab keine weitere solche Zeichnung. Diese Erkenntnis erschreckte mich, und ich fühlte mich, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen … „
So der Protagonist in „Zeichnungen“. Und so geht er auf die Suche, sich alles was ihm vermeintlich zusteht wieder zu holen. Mit großer Cleverness und Rücksichtslosigkeit gelingt es ihm tatsächlich – er geht dabei buchstäblich über Leichen. Seinen Seelenfrieden findet er letztlich aber nicht, so dass er alles in einem Brief aufschreibt, den er einem Fremden übergibt, und somit sein weiteres Schicksal.
Beim Schreiben merke ich, dass die kurzen Inhaltsangaben bei Weitem nicht das preisgeben, was das Buch ausmacht. Denn die Stimmung und das Fesselnde der Sprache kann man nur durch eigene Lektüre erspüren. Ich empfehle sie sehr!
„Zeichnungen, 3 Erzählungen“ ist 2015 im S. Fischer Verlag erschienen.
Das ist eine wunderbare Leseempfehlung. Erzählungen haben mich mal mehr mal weniger in der Vergangenheit begleitet. Dieser Band wandert auf meine Wunschliste – auch wegen des wunderbaren Covers, das mich vermutlich auch im Buchladen überzeugt hätte. Viele Grüße
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Das freut mich! Ich war auch dankbar für diese Entdeckung. Ich werde immer mehr Fan von Erzählungen…
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Erzählungen, die nicht in der Großstadt und dort auch nicht im hippsten aller hippen Viertel spielen; das finde ich sehr anspechend. Ohne Deine Besprechung hätte ich diesen Erzählband wohl nicht zur kenntnis genommen, denn ich bin nicht so der Erzählungsleser. Aber was Du hier beschreibst, das liest sich sehr reizvoll…
Viele Grüße, Claudia
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Freut mich, Claudia! Ich bin über diese Entdeckung auch sehr froh und er hat ja auch Romane geschrieben, die ich mir auch noch anschauen werde…
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Das liest sich alles sehr schön, das Buch liegt hier auch rum und will gelesen werden – jetzt freue ich mich umso mehr darauf.
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Ich denke, als Thomas-Bernhard-Fan, (so wie ich), wird es dir gefallen …
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Sehr gut!
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