Kerstin Beckers zweiter Gedichtband „Biestmilch“ erschien soeben in der Edition Azur. Die 1969 in Moosheim, Sachsen, geborene Lyrikerin lebt in Dresden und die Gedichte in Biestmilch haben einen starken Bezug zu ihrem ländlichen Herkunftsort.
Die Edition Azur ist ein kleiner Verlag aus Dresden, der vor allem auch Lyrik herausgibt, unter anderem Autoren wie Thomas Kunst und Ulrich Koch. Es ist ein schön gestaltetes, fein ausgewähltes Programm.
„wir lernten schon
in der Plazenta Kummer kaun
bittere Kost jetzt sind wir hier […]“
Kerstin Becker schickt uns mit „Biestmilch“ auf eine Zeitreise. Der Band ist in vier Kapitel aufgeteilt, in denen sie in ihren Gedichten den Erinnerungsbogen spannt von Kleinkind- bis Jugendalter. Von Kinderspielen und Erkundungsgängen, von Waldabenteuern und Wiesenträumen, wild ist die Kindheit, doch nicht zügellos. Es herrschen dörflich, archaische Strukturen und bei Bedarf setzt es was. Denn Kindsein ist hier kein Zuckerschlecken.
„[…] ein jeder spurt kein Lachen soll
bei Tisch die Bitterkeit bezwingen
sie wird mit unterkühlten Mienen
und Hieben in den Leib gestanzt“
Beckers Gedichte sind rauh, so wie das Erlebte, so wie die Lebenswelt, da ist nichts liebliches. Die Sprache ist passend zum Erzählten, knapp und direkt, sehr dicht und mit Auslassungen, die der Leser füllen mag oder nicht. Die vielen Zeilenbrüche scheinen die echten Brüche aufzuzeigen und zu verstärken.
Im ersten Kapitel „Erdäpfel“ der Blick auf das Dorf mit seinen Bewohnern, den Hof, die Umgebung – Wald und Feld, mal im Weitblick, mal herangezoomt. Dann im zweiten Kapitel zur Käserei, wo die Milch fließt und verabeitet wird und wieder in die Natur, ins Wasser, ins Fließende. Und im dritten Kapitel „Brennstoff“ findet sich sofort der Bezug zu Wolfgang Hilbig, dem schreibenden Heizer, aber auch zu den Schlägen und Prügel, die auf der Haut und im Innersten brennen. Hier findet sich auch mein Gedichtfavorit „Vektor“.
du siehst
schon so aus
(es war einmal
ein Mädchen das
hatte jedermann lieb)
kuck nicht so dumm (es
schaut nicht in Ecken herum)
frag nicht so dumm wage es
ja nicht sonst setzt es was hast du
verstanden hast du gehört (ich gehe
sittsam nie vom Wege ab) wenn ich dein
Gesicht schon seh (wie ängstlich wird mirs
heut zumut) jetzt mach aber halb lang stell dich
nicht an hör auf zu flennen dass ich nicht lache das
tut meinen Händen weher als dir (was hast du für entsetzliche)
halte den Rand
(niedersank)
Und schließlich das letzte Kapitel „Sperrgebiet“, da sind die Kinder schon auf dem Weg hinaus, die Pubertät, der jugendliche Leicht-sinn, die Entdeckung der (Un-)Möglichkeiten.
„je länger wir wie Wild
auf intimen Wiesenflicken
zwischen den Gehöften streunen
über Jahre Pickel Körper
haare und Gelüste kriegen […]“
Es ist beeindruckend mit welcher Schonungslosigkeit und dennoch mit wieviel Hingabe Kerstin Becker lyrische Abbildungen schafft, sei es die Arbeit auf dem Feld und im Stall, die Strenge der Erwachsenen, das am-eigenen-Leib-erleben, was ein Mädchen darf und vor allem, was nicht, das Siechen und Sterben der Alten, den Schmutz der Fabriken, das Arbeiterleben, die vorbestimmten Wege, das Kleine im Großen, alles wird in stimmige lyrische Form gebracht.
Und dann ist da noch dieses „wir“ in den meisten Gedichten, dass eine Gemeinsamkeit anzeigt, eine Zugehörigkeit und das letztendlich dann eine Ausdehnung zulässt und auf mich wie eine kleine Befreiung wirkt.
Eine Leseprobe gibt es hier:
https://www.edition-azur.de/buecher/tx_books/biestmilch-gedichte/
Ich lese die Gedichte gerade nach und nach … und finde Deine Besprechung wunderbar treffen. Rau, spröde, irgendwie kommen einem sofort Bilder einer Landschaft, eines Dorfes in den Kopf.
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[…] Nicht nur ich bin von dieser rauen, spröden Sprache, die zwischendurch so zarte Momente, mitten in Libellenwolken birgt, begeistert – hier die Links zu zwei weiteren Besprechungen bei fixpoetry und literatur leuchtet. […]
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[…] Nicht nur ich bin von dieser rauen, spröden Sprache, die zwischendurch so zarte Momente, mitten in Libellenwolken birgt, begeistert – hier die Links zu zwei weiteren Besprechungen bei fixpoetry und literatur leuchtet. […]
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