Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben Hanser Verlag

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„Schnell, dein Leben“ ist eigentlich zu kurz. In diesem schmalen 160 Seiten-Roman wird zwar einerseits alles gesagt, dennoch entsteht durch Schenks Erzählweise der Wunsch noch viel mehr über dieses „schnelle Leben“ zu erfahren, ausführlicher durch die einzelnen Lebensstationen begleitet zu werden. Doch vielleicht, und das macht die Lektüre für mich umso interessanter, ist genau die Kürze eben die Absicht Schenks, worauf sogar der gewählte Titel hinweisen könnte.

Sylvie Schenk wurde 1944 in Frankreich geboren, sie stammt aus den französischen Alpen, lebt aber vorwiegend in Deutschland. Sie schreibt auch Gedichte, die sie in französischer Sprache verfasst. Ihr Roman aber ist in Deutsch geschrieben, in einer oft sehr poetischen Sprache, so dass das Erzählte von vornherein verdichtet wirkt. Schenk ist eine Grenzgängerin der Sprache, sei es zwischen Lyrik und Prosa, als auch zwischen Französisch und Deutsch. „Schnell, dein Leben“ trägt autobiografische Züge. Da sie ihre Geschichte allerdings aus der ungewöhnlichen Du-Perspektive erzählt, schafft Schenk einen gewissen Abstand zum Eigenen, bezieht aber gleichzeitig den Leser stärker ein. Ein geschickter Schachzug!

Der Text lebt von kurzen Sätzen, knappen Schilderungen, die sich dann wieder überraschend mit weichen, lyrisch klangvollen Passagen abwechseln. So scheint immer wieder eine zweite Ebene hindurch; die Dinge, die nicht gesagt werden, die unausgesprochen bleiben, wiegen schwer. Und als Leser spürt man das, ahnt, was fehlt. Das passt stimmig zum Inhalt, in dem es ebenfalls vorrangig um das Verschweigen geht.

Sylvie Schenk las Auszüge aus diesem Roman bereits bei den diesjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, fand aber bei der Jury nicht hinlänglich Anklang. Erstaunlich ist das nicht, denn ihr Roman ist keiner, der laut oder spektakulär daherkommt, sondern leise und innig. Dennoch oder eben deshalb ist es ein kraftvoller Text.

„Als kleines Mädchen der fünfziger Jahre weißt du von deiner Minderwertigkeit und möchtest lieber ein Junge sein. Der Wunsch bewirkt, dass du nie zum knallharten Feminismus konvertieren wirst. Männer sind die wichtigsten Akteure der Menschheit.“

Mit diesem Absatz beginnt der Roman, der in sehr kurze Kapitel unterteilt ist, die wichtige Lebensabschnitte markieren. Trotz dieser Kürze gelingt es der Autorin, die jeweilige Essenz genau herauszufiltern.

Im ersten Kapitel, das schlicht „Mädchen“ heißt, legt die Autorin gleich den Grundton des Romans fest. Lakonisch wird berichtet, was ist und wie es sich aufgrund dessen zukünftig entwickeln wird. Und wie es war: denn die Mutter lebt nur als Ehefrau, sitzt strickend im Zimmer am Fenster und holt sich das immer knappe Haushaltsgeld, vorsichtig an die Tür klopfend, in der Zahnarztpraxis des Vaters ab. Schon dem Kind wird klar, wo die Unterschiede zu finden sind. Männer und Frauen. Arm und Reich. Gut und Böse. Bereits hier entdeckt das Mädchen Louise die ersten Geheimnisse: Die Mutter wurde adoptiert. Niemals wird darüber geredet. Das ist ohnehin das Credo der Familie. Der Vater, der im zweiten Weltkrieg Soldat war, schweigt. Die Mutter sowieso. Das Kind spürt aber das Schwelen des Nichterzählten. Alles Leben baut sich um dieses Nichterzählte herum.

Louise wächst heran. Sie liebt die Natur, die Berge. Sie geht zur Schule, lernt Lesen und wer liest, lernt eigenständig zu denken.

„Die Zeit bleibt sehr lange eine unreflektierte Dimension.“

Als Louise nach dem Abitur zum Studium nach Lyon zieht, verändert sich ihre Lebenswelt entscheidend. Sie findet eine Freundin, besucht mit ihr Jazzclubs. Sie kauft sich Platten, geht zu ihrer ersten Demo und diskutiert mit den neuen Freunden. Sie lernt junge Männer kennen und obgleich sehr zurückhaltend, macht sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Da gibt es den attraktiven, unsteten, stets kritisch hinterfragenden Jazzpianisten Henri, dessen Eltern im zweiten Weltkrieg von den Deutschen ermordet wurden. Henri leidet schwer unter diesem Verlust; er ist politisch engagiert und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gräueltaten der Deutschen immer wieder allen in Erinnerung zu rufen. Und da ist der nette, unkomplizierte, eher unscheinbare deutsche Student Johann, bei dem Louise sich sicher und geborgen fühlt. Beiden ist jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet. Letztlich entscheidet sich Louise für den bodenständigen Johann und gegen den sprunghaften Henri. Ihren Eltern teilt sie mit, dass Johann und sie zusammenleben wollen. Doch der Vater ist entsetzt. Ein Deutscher!

Spätestens an diesem Punkt in Schenks Roman wird überdeutlich, wie schwierig sich die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg gestaltete, im Großen wie im Kleinen. Dieses Thema zieht sich durch die Beziehung von Louise und Johann, und somit wie ein roter Faden durch den ganzen Roman .

Louise gibt nicht klein bei und schließlich willigt der Vater ein. Was Louise bei ihrem ersten Besuch bei Johanns Familie erlebt, ist eine sehr gelungene Milieustudie einer deutschen Mittelschichtfamilie der Nachkriegszeit. Die Hochzeit findet in Frankreich statt, ganz bürgerlich und spießig, wie Louise feststellt. Die Eltern wünschen es so. Doch Louise ist skeptisch, macht sich viele Gedanken zum Thema Liebe, Beziehung und Heirat.

„Oder wie wäre es, wenn eure Liebe nur eine Vorstellungsvariante von Liebe wäre? Angelernt, nachgeahmt, seit Jahrhunderten in der Literatur überliefert? Muss man lieben? Ist die Liebe eine Zivilisationserscheinung? Das glänzende Geschenkpapier um den Sex herum?“

Als Johanns Frau lebt sie nun in Deutschland, lernt die Sprache und bleibt doch immer „die Französin“, die mit dem charmanten Akzent. Sie arbeitet schließlich als Französischlehrerin, und auch hier zeigt es sich, dass die Geschehnisse des Krieges in den Köpfen der nächsten Generation weiter wirken.

„Hast du das Richtige gesagt, das, was diese Heranwachsenden brauchen? Am Abend dieses Tages lernst du deutsche Wörter, die dich in eine undefinierbare Traurigkeit versetzen. Schuld, schuldig, Schuldbewusstsein.“

Louise ist die, die alles hinterfragt, Johann nicht. Johann nimmt hin, was kommt. „Johann ist einer, der zahlt“. Er ist auf Harmonie eingestellt. Auseinandersetzungen sind ihm fremd. Was folgt, ist Schweigen.

„Du nimmst dir vor, das Wortfeld Verdrängung aufzustellen, Verdrängung, ein Wort, das klingt wie ein unkontrolliert und ruppig zusammengequetschtes Akkordeon.“

Bei einem Besuch in Frankreich bei Freunden begegnet Louise auch wieder Henri, der ihr beim Abschied einen Brief übergibt, darin die Anschuldigung, dass Johanns Vater während des Krieges in Lyon direkt für die SS als Handlanger gearbeitet hätte. Sie ist schockiert, will dem aber keinen Glauben schenken.

Sie wird Mutter von Zwillingen, beginnt zu schreiben und hat Erfolg damit. Die Familie zieht um, Johann hat eine neue Arbeitsstelle, alles scheint gut zu laufen, jedoch wird er krank. Atemnot und Ängste suchen ihn heim. Nichts scheint zu helfen. Was in Wirklichkeit die Krankheit auslöst, ist die Verdrängung. Erst als Johanns Vater stirbt, ergibt sich aufgrund einer unglaublichen Entdeckung Louises im Hause der Schwiegereltern die Chance auf eine Aussprache zwischen beiden. Louise findet Beweise, dass die Anschuldigungen Henris zutreffen. Vor diese Tatsachen gestellt, beginnt Johann schließlich aus seinem Leben zu erzählen …

Damit werden auch die Rollen vertauscht; Johann wird zur Hauptfigur. In dieser Schlusssequenz sieht es so aus, als wäre der ganze Roman nur auf die Person Johanns hin geschrieben worden – nur, um ihn zu befreien.

Sylvie Schenks Roman erzählt vom Thema der Schuld und des Schweigens der Generation, die den Nationalsozialismus und den zweiten Weltkrieg erlebte. Darüber wurde bereits vielfach in Romanen und in Sachbüchern geschrieben. Doch Sylvie Schenk hat aufgrund ihrer Herkunft einen anderen Blickwinkel und zeigt uns eine weitere Lesart dieser Zeit, die uns alle prägte. „Schnell, dein Leben“ bleibt trotz seiner Kürze nachhaltig präsent.

Der Roman erschien im Hanser Verlag.

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