Kürzlich stellte Barbara Hahn, Professorin für Germanistik und Autorin, ihr neues Buch „Endlose Nacht – Träume im Jahrhundert der Gewalt“ im Literaturforum im Brechthaus Berlin vor. Sie las Auszüge aus verschiedenen Kapiteln der Buches und erzählte über ihre Herangehensweise an das Schreiben. Es war ein spannender Abend, der Interesse weckte, sich mit den diversen Schriftstellern und deren Träumen weiter zu beschäftigen.
So berichtet Hahn, dass sie über Jahre hinweg in der Literatur nach Traumnotaten Ausschau hielt. Aus all diesen Fundstücken setzt sich nun ihr Buch zusammen. Es ist ein Sachbuch, kein wissenschaftliches Werk und dennoch ist manches nicht ganz einfach zu verstehen. Aus dem Gespräch geht hervor, dass es keine leichte Arbeit war, dieses Buch zu schreiben, waren doch die gefundenen Träume alles andere als hell und positiv. Sie kommt zu dem Schluss, dass das 20. Jahrhundert selbst, also unter anderem die Zeit der Kriege und des Nationalsozialismus diese Träume hervorbrachten, selbst bei Personen, die nicht direkt betroffen waren, ähneln deren Träume doch immer wieder stark denen der Opfer.
Hahn betont, dass es ihr wichtig war, den Schwerpunkt nicht auf die Deutung und Interpretation der Traumnotate zu setzen, sondern die Texte für sich selbst wirken zu lassen, was eine ungewöhnliche Art ist, sich mit Träumen auseinanderzusetzen. Dennoch kommt Freuds Traumdeutung, die ja genau Anfang des 20. Jahrhunderts erschien mit ins Spiel: viele der Autoren hätten sich durchaus mit Freud beschäftigt.
Anfangs kommen Anna Achmatowa, die in einem Traum quasi Geschichte vorabträumt, Primo Levi, der vermutet „Träumen sei kein individuelles nächtliches Abenteuer“ und Wieland Herzfelde zu Wort. Es folgt eine Traumszene aus Benjamins „Einbahnstraße“, zu der sich sowohl Adorno (der selbst Traumprotokolle aufzeichnete), als auch Bloch äußerten und darüber gar in Streit gerieten.
Dass Benjamins letztes Buch, das er in Deutschland veröffentlichen konnte, Träume enthält – `bloß mitgeteilt` und ´uninterpretiert` – hat damals nachhaltig irritiert. Offenbar trafen diese kurzen Notate einen Nerv. Sie öffneten die Tür zu den wichtigsten Fragen der Zeit. Die bürgerliche Welt zerfiel, am Horizont drohte der Faschismus.“
Jorge Semprun, unter anderem mit Träumen aus dem Lager, kommt zu Wort und Franz Fühmann mit dem Traum, in dem er mit Freud nach Neufundland schwimmt.
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts finden sich immer mehr Traumjournale, Bücher mit Traumnotaten, Traumprotokollen. Von Elsa Morante, Marguerite Yourcenar über Graham Greene, Horst Bienek, George Perec, bis zu weniger bekannten Namen führt Hahn ihre Leser. Erstaunlich, wie oft sich manche Träume ähneln … immer wieder Sequenzen aus dem Lager, aus Gefangenschaft, von Zugwaggons, von Kannibalismus, von der Verwandlung in ein Tier.
Sowohl Adorno, Benjamin als auch Anna Achmatowa berichten von Weltuntergangsszenarien in ihren Träumen. Schalamow träumt während seiner Zeit im Gulag folgendes:
„Ich schlief ein, und in meinem wirren Hungertraum sah ich diese Schestakowsche Dose Kondensmilch – eine gigantische Dose mit wolkenblauem Etikett. Die riesige dose, blau wie der Nachthimmel, war an tausend Stellen durchlöchert, und die Milch, breiter Strom der Milchstraße, sickerte hervor: Und ich reichte mit den Händen an den Himmel und aß die dicke süße Sternenmilch.“
Nicht verwunderlich ist, wie stark Franz Kafka und sein Werk offenbar auf Träumende wirkt. Von Kafka geht es weiter über Bruno Schulz zu David Grossman. Kafka und Goethe (geträumt von Heiner Müller und Walter Benjamin) widmet Hahn ein eigenes Kapitel, welches sich für mich am bewegendsten erweist.
Auch das letzte Kapitel ihres Buches wird unter anderem mit einem Zitat Kafkas eröffnet. Es ist mit „Vom Aufwachen“ überschrieben und stellt die Frage, ob Träumen gleich zu setzen ist mit Schlafen, also mit Erholung oder ob es sich nur um eine andere Art des Wacherlebens, einen Parallelzustand handelt.
„Ich kann nicht schlafen. Nur Träume, kein Schlaf.“
Barbara Hahns „Endlose Nächte – Träume im Jahrhundert der Gewalt“ erschien im Suhrkamp Verlag. In der Bibliographie am Ende des Buches finden sich umfangreiche Hinweise über verwendete und somit weiterführende Literatur. Eine Leseprobe gibt es hier.
Danke für den Hinweis auf das schöne und interessante Buch…
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Jetzt verstehst du auch meine Frage nach den „Gulag“-Autoren …
Liebe Grüße!
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ist dazu nicht auch die gefühlte Verwandschaft von Traum und Traum a ta Trauma interessant?
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Die ist allerdings interessant, aber Frau Hahn behandelt sie nicht in diesem Buch … es geht ihr nicht um Psychologie.
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ja klang so.. werd dem mal nachgehen
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