Edna O’Brien: Die kleinen roten Stühle Steidl Verlag

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Der Steidl Verlag, weltbekannt für seine Buchkunst, verlegt auch ein kleines belletristisches Sortiment. Hier habe ich eine Perle entdeckt, die mich stark beeindruckt hat. Ist es doch ein Roman, bei dem ich so wenig erklären kann, warum ich ihn für außergewöhnlich gute Literatur halte. Womöglich ist es ganz einfach das spürbar große Können einer versierten Schriftstellerin.

Edna O`Brien kannte ich bisher nicht. Nun erfahre ich, dass die 87jährige Irin bereits eine große Menge Literatur geschrieben hat und mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde. Auf dem Cover liest man ein Zitat von Philip Roth: „Die große Edna O`Brien hat ihr Meisterwerk geschrieben“. Dem stimme ich zu. Ein Leuchten!

Es beginnt alles mit einer Kleinstadtidylle im irischen Norden. Ein Fremder, Dr. Vladimir Dragan mit weißem Rauschebart, kommt und wickelt in kürzester Zeit mit seinem Charisma vor allem die Frauen um den Finger. Er lässt sich nieder und betätigt sich als naturkundlicher Heiler mit viel Einfühlungsvermögen und meist mit großem Erfolg. Einer der Frauen hilft er sogar (auf gänzlich unorthodoxe Weise) bei ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Er ist freundlich, packt schon mal im Garten mit an oder liest auf einem der Abende des Literaturkreises. Aus seiner Vergangenheit weiß man nichts. Bis er eines Tages auf einem Ausflug verhaftet wird und herauskommt, dass es sich um einen berüchtigten Kriegsverbrecher handelt.

Der Leser erfährt bereits früher, um wen es sich handelt. In einer Art Traumsequenz lässt die Autorin Vlads besten Freund von den gemeinsamen „Heldentaten“ erzählen. Es geht um Radovan Karadzic, den Kriegsverbrecher aus den Jugoslawien-Kriegen. O`Brien hat hier genau recherchiert und war selbst beim Prozeß vor dem Den Haager Tribunal zugegen. In der Tat konnte sich Karadzic 13 Jahre vor seinen Verfolgern verstecken. Faszinierend schildert die Autorin in ihrem Roman diesen Mensch, der mal Wolf (Vuc war sein Spitzname) mal Lamm war, mal brutaler Massenmörder, mal empfindsamer Mensch, der anderen half und Gedichte schrieb. Wobei wir wieder bei der Frage wären: Gibt es den von Geburt an bösen Menschen? Was bringt Menschen zu solch grausamen Taten?

„Ja, elftausendfünfhunderteinundvierzig rote Stühle zur Erinnerung an die Gefallenen. Angeblich sind den Touristen erst in dem Moment die Tränen gekommen, als sie auf die sechshundertdreiundvierzig roten Stühlchen für die toten Kinder stießen.“

Wird im ersten Teil noch aus verschiedenen Perspektiven erzählt, wendet sich O`Brien im zweiten Teil Fidelma zu, die zur Hauptfigur wird. Sie ist es, die von Vlad schwanger war, aber auf gewalttätige Weise ihr Kind und beinah auch ihr Leben verlor. Der Leser begleitet sie auf dem Weg, sich wieder im Leben zurecht zu finden. Sie verlässt ihren Ehemann, verlässt Irland und findet Arbeit in London als Putzfrau, später in einem Tierheim. Sie lernt dadurch Einwanderer kennen, teilweise illegale, und findet sich in mancher Lebensgeschichte gespiegelt. Besonders die Frauenschicksale berühren sie: was es in bestimmten Ländern bedeutet als Mädchen geboren zu werden, wie es ist beschnitten zu werden, wie es ist im Krieg unter unsäglichen Grausamkeiten aufzuwachsen.

Die eigene Scham und die Schuld, sich mit diesem Teufel eingelassen zu haben, die sie immer wieder und immer noch empfindet treibt sie schließlich dazu, sich in Den Haag einen Teil des Prozesses im Gerichtssaal anzusehen …

„Wurdest du nach den Gräueltaten gefragt, hattest du immer eine Antwort parat. Entweder hatten sie nie stattgefunden oder sie waren vom Feind inszeniert, und nach den Leichen auf dem Marktplatz gefragt, erklärtest du, das seien Schaufensterpuppen, die der Feind dort platziert habe, um die restliche Welt zu täuschen.“

Fidelma findet am Ende ein neues Zuhause und hilft mit, den weniger Privilegierten eine Stimme zu geben und Schutz anzubieten. Fazit: Dieser Roman wird trotz aller ungeschönten Schrecknisse und Kriegsszenarien zur Hommage an Heimat, Herkunft, Zugehörigkeit und vor allem an menschlichen Zusammenhalt ganz unabhängig davon. Ich empfehle dieses Buch nachdrücklich!

„Die kleinen roten Stühle“ von Edna O`Brien erschien im Steidl Verlag. Übersetzt wurde es aus dem Englischen von Kathrin Razum und Nikolaus Stingl. Eine Leseprobe und ein Interview mit der Autorin gibt es hier.

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