Annie Ernaux: Die Jahre Suhrkamp Verlag

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„Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“

Es ist eine Biografie, obgleich kein einziges Mal das Wort ich benutzt wird. Es ist eine indirekte Biografie, die aus den äußerlichen Gegebenheiten einer Vergangenheit das Bild einer Person zusammenfügt. Gleichzeitig ist es die Biografie einer ganzen Generation und ein Gesellschaftsporträt Frankreichs. Annie Ernaux wählte diese Form ganz bewußt. Sie nennt es kollektive Biografie.

Die 1940 geborene Annie Ernaux, in Frankreich weitaus bekannter als hierzulande, hat, wie man an der Banderole des Suhrkamp Verlages sehen kann, mit „Die Jahre“ einen Bestseller geschrieben. Es erschien dort bereits im Jahr 2008. Im Zuge der Frankfurter Buchmesse 2017 mit Gastland Frankreich ist das Buch auch hierzulande endlich entdeckt worden. Gehört man Ernauxs Generation ganz oder teilweise an, spricht das Buch Bände. Man erkennt sich selbst oder die eigene vergangene Welt wieder und Erinnerungen werden geweckt.

Annie Ernaux erschafft eine Kindheit, eine Jugend, eine Nachkriegswelt, in der es vor allem um Materielles geht. Um neue technische Errungenschaften, die man auf Raten oder Kredit kauft, um ein beschauliches Familienleben, weitab von den Träumen und Plänen, die eigentlich gelebt werden wollten. In diesem Fall etwa das Schreiben, das Lernen und Wissen, das anders sein wollen, das Aufstreben, das Ausscheren aus der Arbeiterfamilie.

Als die 68er Revolution beginnt, als die Studenten auf die Straßen gehen, scheint sich alles zu ändern scheint ein neues Denken zu beginnen. Es geht um die Pille, Abtreibung, die Rechte der Frau, die Emanzipation. Es geht um die sexuelle Befreiung, Selbstfindung, den kreativen Ausdruck, Landleben, Yoga etc.

„Wir, die wir in Küchen abgetrieben hatten, die wir uns hatten scheiden lassen, die wir geglaubt hatten, dass unsere Emanzipationsbemühungen es anderen leichter machen würden, waren mit einem Mal sehr müde. Wir wussten nicht, ob die Revolution der Frauen überhaupt stattgefunden hatte.“

Dann älter werdend: scharfe Blicke auf die Politik, die Veränderungen und Entwicklungen im Weltgeschehen.

„Man machte kurzen Prozess, die Sowjetunion wurde aufgelöst und in „Russische Förderation“ umbenannt. Boris Jelzin wurde Präsident, und Leningrad hieß wieder Sankt Petersburg, was auch praktischer war, so fand man sich besser in Dostojewskis Romanen zurecht.“

Ernauxs Fliesstext hat eine hohe Informationsdichte und ist spannend zu lesen. Da merkt man, welch gute Erzählerin sie ist, welch glasklaren klugen Blick sie für die wichtigen Ereignisse der jeweiligen Zeit hat. Ob Fernsehgerät, Mobiltelefon, Computer, Internet („Die Suche nach der verlorenen Zeit fand im Internet statt“): Alles wird beleuchtet. Dazu gehören auch die jeweils aktuellen Lieder, Bücher, Werbetexte, Krankheiten, Kriege etc.

Zwischendurch lässt Ernaux den Blick immer wieder konkret auf eine Einzelperson fallen, eine Frau, sie selbst, die sie anhand von Fotografien („Trouville, März 1999“) beschreibt: deren Gedanken, deren Standpunkt zu bestimmten Zeiten in der Welt. Welche Bruchstellen gab es? Wie fühlt sie sich? Diese Frau fragt sich auch immer wieder, wie sie ihr Leben schreiben könnte, verankert in eine Geschichte dieser Zeit.

„Sie will aus dem Abdruck, den die Welt in ihr und ihren Zeitgenossen hinterlassen hat, eine gesellschaftliche Zeit rekonstruieren, eine Zeit, die vor Langem begann und bis heute andauert – sie will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen.“

Gelungen ist ihr das unglaublich gut: In solch kurzer Form eine ausdrucksstarke französische Gesellschaftsgeschichte niederzuschreiben, die auch sprachlich überzeugt, das muß man Ernaux erst mal nachmachen. Ein Leuchten!

„Die Jahre“ erschien in der Bibliothek Suhrkamp, fadengeheftet, gedruckt auf feinem Papier. Das zarte Coverbild zeigt die Autorin im Alter von 20 Jahren. Übersetzt wurde das Buch von Sonja Finck. Eine Leseprobe und ein schönes Interview mit der Autorin gibt es hier.

6 Gedanken zu “Annie Ernaux: Die Jahre Suhrkamp Verlag

  1. Dein Literatürchen führte mich zu deiner Besprechung und auch wenn ich natürlich schon diverse Male über den Namen Annie Ernaux stolperte, weil sie in den Lesenden Kreisen geschätzt, verehrt und gelobt wird, muss ich zu meiner Schande gestehen, sie bislang noch nicht gelesen zu haben. Dein ausgewähltes Zitat, deine Besprechung hier und das Interview zu #MeToo (https://youtu.be/XqMXkARLgvM) das ich auf Suhrkamp fand zwingen mich geradezu dazu, diesen Fehler der Vergangenheit nun auszugleichen. Ich werde am Wochenende entweder das E-Book leihen oder mal schauen, wie ich zum gedruckten Buch komme, das ist in Anbetracht meines Wohnortes immer ein kleines Projekt für sich. Danke für deine Besprechung, deine Mühen und liebe Grüße in meine alte Heimat!

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  2. Ich kann Dir beipflichten, »Die Jahre« ist sehr gute Literatur.
    Mich hat besonders begeistert, mit welch geschickten Narrativ Dinge in aufklärenden Zusammenhang stellt.
    Das Buch erinnert mich ein wenig an den Norweger Ketil Bjørnstad, der in seiner Pentalogie »Die Welt die meine war« eine ähnliche, aber völlig anders geschriebene Zeitreise unternimmt.
    Annie Ernaux kommt mir übrigens ab dem Zeitraum 1990 etwas »unscharf« vor. Was sicher auch daran liegt, das man diesen Zeitraum selbst noch gut in Erinnerung hat.

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