Was hier mit einem so luftig leichten Titel beginnt, gewinnt beim Lesen schnell an Tiefe. Das Wasser spielt dabei eine Rolle: das wilde Meer in Wales, der zahme Bodensee.
„Jeden Morgen steht sie auf den Klippen, bei jedem Wind und Wetter, und jedesmal denkt sie, ich könnte springen. Denkt es, seit sie hier ist. Das Meer würde sie sofort verschlingen.“
Dass Karl-Heinz Ott ein großartiger Erzähler ist, war auch letzthin in seiner Lesung und Buchvorstellung (passenderweise am Wannsee) im Literarischen Colloquium zu erleben. Geschickt und kurzweilig erzählte er über sein Schreiben und über sein neues Buch. Beim Lesen nun kam mir vieles bekannt vor, Hintergründe die ich aus dem Gespräch erinnere. Doch auch ohne irgendwelches Vorabwissen ist dieses Buch ein Lesegenuss, wenngleich bei nicht gerade leichtem Thema. Doch Ott ist eben ein Könner – er arbeitet auch fürs Theater und ist Musikkenner – der Inszenierung und der Virtuosität. Alles passt. Jeder Satz sitzt. Am Wannsee erzählt er von seinem begonnenen Musikstudium, dass dann durch ein „Erweckungserlebnis“ durch die Lektüre Handkes ein Ende fand. Er wandte sich dem Schreiben zu.
Von einer katholisch-strengen Kindheit bei der Großmutter im Allgäu, später nach deren Tod bei den Nonnen im Waisenhaus, geprägt, möchte die Heldin später eigentlich nichts wie weg aus dieser Gegend. Sie lernt Bruno, einen Koch, bei der Ausbildung in Sankt Moritz kennen. Sie heiraten und übernehmen die Gastwirtschaft von Brunos Eltern. Ohne ihre Tatkraft und Energie wäre aus der Dorfwirtschaft am Bodensee nie ein 1-Sterne-Restaurant geworden. Ohne Ottos Kochkünste auch nicht. Doch als dann der Stern wieder weg ist, geht es mit Bruno bergab.
„Zuweilen ist ihr, als sei sie mit Bruno nie zusammen gewesen. Manchmal entschwindet er so weit, als hätten sie beide nie Seite an Seite gelebt. Er besteht dann nur noch aus einer Hülle, die eine Haube trägt und eine Schürze. Viel mehr sieht sie nicht mehr.“
Von Brunos Tod erfährt man schon zu Beginn des Romans. Langsam dröselt Ott dann die Hintergründe auf und baut damit Spannung auf. Seine Protagonistin, Mitte 60, sitzt auf einem Schuldenberg und findet keine Arbeit mehr. Bruno hat sie mit seinem Tod hängenlassen. Sie folgt schließlich dem Vorschlag eines Stammgasts und fährt, alles zurücklassend nach Wales, um dort ein in die Jahre gekommenes Hotel an der Küste zu bewirtschaften. Es gibt kaum Gäste. Sie hat dort viel Zeit zum Nachdenken und wir Leser/innen dürfen teilhaben an den zweifelnden, hinterfragenden, schmerzlichen, düsteren Gedanken, die sie verfolgen. Sie gibt sich den essentiellen (Glaubens-)Fragen hin, hadert mit der katholischen Erziehung. Selbst im Traum lassen Bruno und dessen Bruder Arno, der das verschuldete Restaurant am Bodensee übernommen hat, sie nicht zur Ruhe kommen. Nur am Meer, auf dem Klippenweg, dem tosenden Wind ausgesetzt, scheint der Kopf etwas leerer zu werden, sich die Unruhe etwas zu legen.
Wiederholte Äußerungen, wie etwa über ein Shakespeare-Gedicht in Sankt Moritz intensivieren das Gefühl der Hauptperson mit ihren ewig um das eine kreisenden Gedanken. Der Sinn des Lebens! Was war verloren? War etwas gewonnen? Was, wenn alles anders gekommen wäre? Großartig wie Ott eine Szene beschreibt, bei der sie einen Vortrag darüber besucht und sich ihrem Empfinden nach plötzlich alles allein auf sie gerichtet scheint. Und es kommen solch herrliche Sätze vor:
„Als Kind erblickte sie in diesen Strommasten lauter kleine Eifeltürme, deren endlose, am Horizont verschwindende Zahl irgendwann in Paris enden müsste.“
Trotz aller Kürze von 140 Seiten hinterlässt die Lektüre das Gefühl großer Fülle, in ihrer Komplexität und Nachdrücklichkeit liegt gerade die Kraft. Wer will, kann sich hier an kurzweiliger Lektüre erfreuen oder aber mit in die Tiefe tauchen, was ich durchaus empfehle. Ein Leuchten!
Bereits mit seinen Romanen „Wintzenried“ und „Die Auferstehung“ (wird auch verfilmt) hat mich Ott begeistert. „Und jeden Morgen das Meer“ erschien im Hanser Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.
[…] sehr ausführliche und sehr gut geschriebene Rezension zu diesem Roman finden wir hier bei LITERATURLEUCHTET. […]
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Ich habe auch schon frühere Werke von Ott mit Begeisterung gelesen und dieses muss ich offenbar auch lesen, wie du es beschreibst, ist es sicherlich ein Buch nach meinem Geschmack. Danke für die so lustmachende Besprechung und viele Grüße!
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Danke. Ich finde, er bringt in aller Kürze alles genau auf den Punkt und hat ein feines Gespür für „Menschlichkeiten“.
Viele Grüße!
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Ich muss das Buch im Auge behalten 🙂
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