Mit schöner Regelmäßigkeit schreibt Christoph Hein fast jährlich einen Roman. Diesmal heißt er „Verwirrnis“ und ist (nach dem etwas schwächeren „Trutz“) wieder einmal richtig gut gelungen. Es ist für mich eine sehr emotionale Lektüre gewesen. Immer wieder kam ich beim Lesen in Rage: Was für ein fürchterlicher Vater! Was für grässliches Verhalten unter dem Deckmäntelchen der katholischen Religion! Welch schlimm konservatives Denken, welche Verbohrtheit in den 50er Jahren!
Wir befinden uns im Eichsfeld der 50er Jahre. Es ist die katholischste Region vermutlich ganz Deutschlands, zumindest aber der ganzen Ost-Zone. Im kommunistischen Teil Deutschlands ein Ausnahmefall. Hier wachsen Friedeward und Wolfgang auf. Der Sohn eines strenggläubigen katholischen Lehrers und der Sohn eines Kantors begegnen sich mit 15 zum ersten Mal in der Schule und werden die dicksten Freunde. Sie sondern sich ab von anderen, lesen und diskutieren und stellen sich eine Zukunft als Künstler vor. Als sie gemeinsam Urlaub an der Ostsee machen, entwickelt sich aus der Freundschaft ein gegenseitiges körperliches Begehren, was die beiden nur noch enger zusammenschweißt. Natürlich darf keiner davon erfahren, schon gar nicht Friedewards Vater, der seinen Sohn auch im fortgeschrittenen Jugendlichen-Alter zur Strafe noch mit einer Art Peitsche züchtigt. Dies hat die Geschwister Friedewalds bereits aus dem Haus getrieben.
Es kommt, wie es kommen muss: Pius Ringeling, Friedewards Vater erwischt die beiden auf frischer Tat. Er schafft es, dass Wolfgang die Schule verlassen muss und verdrischt den 17-jährigen Sohn.
„Die frommen Lehren bedrückten Friedeward, bescherten ihm schlaflose Nächte. Die Verdammnis wurde zu einem allnächtlichen Schreckgespenst, er hatte Albträume, er sah die Hölle, die Teufel, das Fegefeuer vor sich und fuhr im Halbschlaf laut schreiend in seinem Bett hoch.“
Dennoch schaffen beide es, wieder zusammen zu kommen. Beide studieren in Leipzig, Wolfgang Musik und Friedeward Germanistik, führen dort ihre Beziehung, wenngleich immer noch heimlich, weiter. Die Freundschaft zur Theaterstudentin Jacqueline und deren Professorin Herlinde, die ebenfalls heimlich ein Paar sind, verschafft ihnen ungeahnte Möglichkeiten: Friedeward und Jacqueline geben sich als Paar aus und sind damit gefeit vorm Entdecktwerden. Eine Hochzeit wird geplant.
Wolfgang jedoch entfernt sich. Er beendet sein Studium in Westberlin, nimmt die westdeutsche Staatsangehörigkeit an und darf fortan nicht mehr in den Osten einreisen. Er bricht alle Beziehungen zu Freunden aus dem Osten ab, auch die zu Friedeward, für den die Trennung ein schwerer Schlag ist.
Beide machen Karriere, sind Könner ihres Metiers, Musik und Literatur, und es scheint sich der Künstlertraum der Jugendlichen zu erfüllen, nur eben nicht gemeinsam.
Ein wenig seltsam mutet es an, dass Friedeward so gelassen zuhört, als im Radio vom Bau der Berliner Mauer berichtet wird. Einzig wegen Wolfgang vergisst er einige Tränen, die Idee eines eingemauerten Berlins scheint ihn kalt zu lassen, vielleicht weil sie so unvorstellbar ist oder in der Überzeugung, dieser Staat sei der Richtige. An der Universität in Leipzig herrscht ein freies, vom Regime wenig beeinträchtigtes Klima. Bis dem Leitenden Professor, genannt Goethe-höchstselbst, eine Ausreise zu einem Kongress in Wien verweigert wird. Bei nächster Gelegenheit bleibt er im Westen. Nun ändern sich die Verhältnisse. Wer nicht linientreu ist/wird, hat keine Chance auf einen höheren Posten. So auch Friedeward, doch er behält zumindest seine Dozentur, weil er zum Zeitpunkt der „Säuberungen“ bei der Beerdigung seines Vater im Eichsfeld ist. Offensichtlich wird auch er längst bespitzelt und steht trotz der „Schein“-Heirat mit Jacqueline, unter Beobachtung. Seine Sexualität lebt er weiterhin nur im Geheimen, obwohl Homosexualität kein Strafdelikt mehr ist.
Für Friedeward vergehen die Jahre bis zur politischen Wende in der DDR dennoch friedlich. Erst die Wiedervereinigung mit der damit verbundenen Abwicklung, mit Stellenabbau auch an der Universität Leipzig, stellt ihn vor eine schwerwiegende Entscheidung …
Heins Sprache ist wie immer unspektakulär, seine Stärke liegt im fließenden Erzählrhythmus, was er mit diesem Roman einmal mehr beweist.
Der Roman erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier.
Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Weitere begeisterte Besprechungen findet man bei Zeichen & Zeiten, bei Ruth liest und Peter liest.
Für mich bereits jetzt eines der Bücher des Jahres. Es hat mich sehr berührt. Es hat Szenen gegeben, da musste ich das Lesen unterbrechen, um die Passage aufzunehmen. Vielen Dank für die Verlinkung und viele Grüße ins große Berlin
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