Nataliya Deleva: Übersehen eta Verlag

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Wer kennt das nicht? Man sitzt im Cafe, richtet sich ein, zieht das Buch aus der Tasche und wartet. Einen Kaffee will man trinken. Endlich … Doch es kommt niemand, der die Bestellung aufnimmt. Die Kellner wuseln durch den Raum, doch man wird übersehen.      „Übersehen“ heißt auch der Roman der Bulgarin Nataliya Deleva. Doch hier bedeutet Übersehen werden etwas Anderes, etwas Größeres, Überlebenswichtiges. Gerade erschienen ist dieser Debütroman, der mich mit seinen ersten Sätzen sofort ergriff:

„Unsichtbare Menschen sind überall um uns herum. In der Bahn, auf der Straße, im Wohnblock, im Laden, in der Schule, auf der Arbeit, seltener in Nachtclubs, aber auch dort tauchen sie ab und zu auf. Sie gehen in der Menge auf und beobachten die Leute ringsumher mit ihren traurigen, unsichtbaren Augen. Doch weil sie unsichtbar sind, bemerkt sie niemand.“

Deleva porträtiert Menschen, die wir überall finden könnten, wären sie nicht  in unseren Augen unsichtbar. Es geht um Außenseiter, um Zurückgelassene, um Einsamkeit und Sehnsucht. Ihre Geschichte beginnt sie mit einem fiktiven Dialog zwischen Mutter und kleiner Tochter. Ein Dialog, den eine Tochter sich ausdachte, weil sie wünschte, es hätte ihn gegeben. Doch die Mutter war nicht da. Es gab nur das Heim, die anderen Kinder und die Betreuerinnen. Auch wenn an Besuchstagen Paare kamen, die sich ein Kind aussuchen wollten, sich ein Adoptivkind wünschten, fiel deren Blick nie auf die verlassene Tochter. So entstand das Gefühl, des Übersehenwerdens, so wurde das kleine Mädchen unsichtbar.

„Ich frage mich, ob die Mütter ins Heim kommen, um einen von uns zu retten, oder weil sie Rettung für sich selbst suchen.“

Geschickt schildert die Autorin auf Nebenwegen, was Unsichtbarkeit bedeutet. In Zwischenkapiteln tauchen aus den unterschiedlichsten Gründen Übersehene auf. Nicht von ungefähr sind es oft Mädchen oder Frauen. Wie der Begriff der Unsichtbarkeit auf künstlerische Art bereits in Galerien Einzug fand, beschreibt Deleva. Leere Leinwände, ungefilmte Filme, ungespielte Musik. Alles als Anregung, die Leerräume mit dem Eigenen, mit Phantasie auszufüllen. Oder das Experiment: Was passiert, wenn sich zwei Menschen vier Minuten lang nur in die Augen schauen (man denke an Marina Abramovic). Oder, haarsträubend, die App, mit der man Eltern und Bekannten vorspielen kann, man hätte eine/n feste/n Partner/in.

Diese Phantasie, vielmehr dieses Improvisationsvermögen der Übersehenen erfährt eine kuriose Steigerung, wenn sich beispielsweise ein Straßenjunge auf die Suche nach einer neuen Niere für die im Krankenhaus liegende Mutter macht und in einer Fleischerei landet. Wenn eine Frau an Elektroschocktherapie denkt, um ihre Traumata vergessen zu machen. Wenn eine Mutter in ihrem zweitgeborenen Sohn die zuvor bei einem Verkehrsunfall getötete Tochter reinkarniert glaubt und der Sohn leidet. Wenn zwei Frauen ihre gleichgeschlechtliche Liebe lieber im Geheimen leben, weil sie sonst angepöbelt werden. Und wenn eine dieser Frauen ein Mädchen aus dem Heim, das sie lieb gewinnt, nicht adoptieren darf, weil das Gesetz so etwas nicht vorsieht.

Die Heldin des Buches, und so nenne ich sie hier bei dieser Lektüre besonders gerne, schafft es ihre eigenen Traumata zu heilen oder zumindest zu lindern, indem sie sich um Kinder kümmert, denen es ähnlich erging wie ihr selbst und ihnen so gut es geht beisteht und ihnen Freude bereitet. So gibt es zwischen den oft sehr traurigen Kapiteln doch auch Momente des Trostes. In diesem Buch geht es um Nähe, um das Bedürfnis nach Nähe und den Verlust von Nähe im Übersehenwerden. Es ist ein Plädoyer für die Abschaffung der Unsichtbarkeit durch Fürsorge, Mitgefühl und Menschlichkeit.
Ein unübersehbares Leuchten für dieses intensive Buch!

Die Übersetzerin aus dem Bulgarischen ist Elvira Bormann-Nassonowa. Der eta Verlag ist ein kleiner unabhängiger Verlag mit Sitz in Berlin, der südosteuropäische, vorwiegend bulgarische Literatur verlegt. Es gibt viel zu entdecken. Unter anderem einen Gedichtband von Georgi Gospodinov, der durch einen Roman und Erzählungen im deutschsprachigen Raum bereits etwas bekannter ist.

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