Leseprojekt Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl von Uwe Johnson Suhrkamp Verlag

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Letztes Jahr am 20. August hat es begonnen: Jeden Tag einen Jahrestag. In dieser Dosis jeden Morgen gelesen, fand ich die Jahrestage geradezu ideal als Einstieg in meinen eigenen Tag. Angefangen hat das Vorhaben mit den Aktivitäten des Suhrkamp Verlags zum 50-jährigen Jubiläum mit einer vierbändigen Ausgabe im Schuber. Den ganzen Schuber traute ich mich nicht zu kaufen, da ich mir nicht sicher war, ob ich mit Johnsons sehr eigener Sprache klar kommen würde. Doch es war ein Ereignis und anhand der Lektüre spürte ich die Zeit vergehen, spürte die davon rasenden Tage, merkte wie schnell ein Jahr vergeht.

Zahlreiche Beiträge haben mich neugierig gemacht auf diese Chronik, die genau ein Jahr umfasst, und eigentlich im Jahr 1967/68 in New York spielt. Eigentlich, weil Johnson seine Hauptprotagonistin Gesine Cresspahl in wiederkehrenden Erinnerungsschleifen an ihre deutsche/mecklenburgische Kriegs/Nachkriegsbiografie denken lässt, animiert von der neugierigen, und oft auch altklugen 10 später 11-jährigen Tochter Marie, die natürlich vor allem die Ereignisse um den Tod ihres Vaters Jakob interessieren.

„Sie ist jetzt vierunddreißig Jahre. Ihr Kind ist fast zehn Jahre alt. Sie lebt seit sechs Jahren in New York. In dieser Bank arbeitet sie seit 1964.“

Die beiden leben nahe des Hudson am Riverside Drive. Gesine arbeitet in einer Bank, steigt sogar auf von einem Übersetzerinnenjob bis in die Chefetage und das obwohl sie eine Frau ist. Marie geht in eine katholische Mädchenschule und hinterfragt Dinge, die mich wundern lassen, ob sie wirklich erst 10/11 Jahre alt ist. Meiner Ansicht nach übertreibt Johnson da ein wenig, was die Klugheit und Reflektiertheit von Marie angeht.

Die „Tante“ New York Times spielt in Gesine und Marie Cresspahls Leben eine wichtige Rolle. Sehr schön zu lesen, wie wichtig damals noch Tageszeitungen waren, um an Informationen zu gelangen. Es ist zudem die Zeit des Vietnam-Kriegs, von dem die Times regelmäßig berichtet und von anderen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen in der Welt. Es ist die Zeit des Kalten Krieges in Europa.

Der Leser verfolgt mit Marie und Gesine („Dschisaini“) das Attentat auf und den Trauermarsch für J.F. Kennedy und das Attentat auf Martin Luther King und die anschließenden Unruhen in der schwarzen Bevölkerung. Ich schrecke immer ein wenig auf, wenn ich lese, wie unbedenklich Uwe Johnson das Wort Neger benutzt. Das war damals üblich in den USA und es gab auch die bestimmten Viertel, in die Marie eigentlich nicht gehen sollte. Dennoch hat Marie besten Kontakt zum schwarzen Portier und sie schafft es nach einiger Zeit näheren Kontakt mit der einen einzigen farbigen Klassenkameradin (die „Quotennegerin“) aufzunehmen.

„1968, zu Anfang unseres achten Jahres in der Stadt, höre ich zwei negerhäutige Herren vor mir reden an der Bushaltestelle 97. Straße, ohne sie belauschen zu wollen.“

Marie erklärt den Samstag zum „Tag der South Ferry“, er wird immer Ausflugstag bleiben, eh sei denn D.E. ist zu Besuch und hat andere Vorschläge. D. E. ist der potentielle Ehepartner und bester Freund von Gesine und Marie und stammt ebenfalls aus dem Mecklenburgischen. Er arbeitet für eine finnische Firma und ist ständig auf Reisen.

Die Rückblicke in die Kinder- und Jugendzeit von Gesine sind spannend und aufschlussreich. So wird von Gesines tragischer Kindheit erzählt: Die Mutter kommt zu Tode im Feuer, man munkelt von Selbsttötung. Tatsächlich war die sehr religiöse Frau extrem streng und geizig ihrer Tochter gegenüber und litt an Depressionen.

Die Leserin erfährt, wie die Vor- und Nachkriegszeit sich in einem Dorf in Mecklenburg anfühlte. Wie Menschen mit der Besatzung der „Ostzone“ klar kommen mussten, wie ehemalige Nazis plötzlich zu glühenden Kommunisten wurden. Gesines Vater, der im Krieg für die Engländer spionierte, wird Bürgermeister unter den Sowjets, kurz darauf in den Karzer geworfen und für viele Jahre weggesperrt und kommt gebrochen wieder heraus. Gesine wächst bei Bekannten heran und verliebt sich schon als Mädchen in Jakob. Doch der hat dafür zunächst kein Auge.

Mit dem nahenden Ende der Geschichte, kommt wieder ein Sprung zurück in Gesines Schulzeit in der DDR bis zum Abitur. Vom Blauhemd über Pioniertuch bis zur Freundschaft mit Anita, die auch später mit Gesine in Kontakt bleibt und zur vorgetäuschten Liebschaft mit Pius, der später in der neugegründeten Volksarmee Lorbeeren sammeln wird. Es dauert lange, bis Johnson von der Beziehung zwischen Gesine und Jakob erzählt. Und bis schließlich Marie geboren wird.

Gleichzeitig geschieht im aktuellen Leben ein bedeutender Schicksalsschlag, D. E. betreffend, der nicht so leicht zu verkraften sein wird, der aber seltsamerweise von Johnson sehr knapp abgehandelt wird (ebenso wie Jakobs Ableben).

„Marie hat sich verkuckt in die Chinesen von San Francisco, an die einverstandene Art, mit der das Auge des Durchreisenden die gelben, schwarzen und rosanen Leute mit einander umgehen sieht auf den Bürgersteigen, in den Seilstraßenbahnen, wo sie dem Fremden Platz einräumen nach der Gebrechlichkeit, dem Alter, in einer Kameradschaft.“

Johnsons Sprache durchziehen immer wieder Sequenzen, die im Mecklenburgischen Dialekt verfasst sind. Dann wird es schwieriger für den Leser. Den Zusammenhang versteht man aber dennoch. Auch mit Zeitsprüngen zwischen damals und heute muss man permanent rechnen. Doch auch daran gewöhnt man sich.  Für Johnsons Sprache braucht man generell ein wenig Ausdauer. Aber man hat ja 1700 Seiten Zeit. Mich hat die Lektüre sehr bereichert.

Zum Abschluß hin beginnt Johnson so etwas wie einen sehr kurzen Rückblick, indem er einzelne Ereignisse aus den Jahren der Verweildauer in New York herausgreift (So etwas, wie ein Abspann im Film oder der Film, der sich angeblich im Augenblick vor dem Tod abspult). Er beendet den Roman mit der Abreise der Cresspahls nach Prag, wo sie auf Wunsch von Gesines Chef im Namen der Bank dort eine neue Arbeit beginnen werden.

Alle Werke Johnsons, so auch die „Jahrestage“ sind im Suhrkamp Verlag erschienen. Einen schönen Einblick ins Werk erlangt man hier. Sehr ausführlich kann man sich auf der Seite der Uwe-Johnson-Gesellschaft über den Autor informieren: https://www.uwe-johnson-gesellschaft.de/

 

7 Gedanken zu “Leseprojekt Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl von Uwe Johnson Suhrkamp Verlag

  1. Hochachtung! Jeden Morgen einen Jahrestag lesen?! Dazu fehlte mir die Disziplin (und Kraft). Bei Frühdienst hieße das nämlich : Aufstehen um 5 Uhr. Nee, könnte ich nicht; der innere Schweinehund ließe sich einfach nicht niederringen. (So gesehen bleiben die Jahrestage weiter eines der großen Wunsch-Leseprojekte, aber irgendwann nehme ich sie in Angriff.) lg_jochen

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    • Ja, klar. nicht jeder kann sich das so in den Tag integrieren. Bei mir passte es und war Anstoß, es überhaupt anzugehen. Ich schaue nun schon nach dem nächsten Werk, was ich in Tagesdosen lesen werde.
      Viele Grüße!

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  2. Das Buch fehlt mir noch… Funktionieren die Jahrestage denn auch als Roman, oder sind die (wie ja oft bei solchen Mammuten) nur sporadisch gelungen aber im Großen und Ganzen eher so ein „Ich schreibe alles auf, bis mir nichts mehr einfällt“-Werk?

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    • Meiner Meinung nach sind sie extrem gut gelungen. Was nicht heißt, dass sich bei mir nicht manchmal Widerstand regte. Ich sehe es auf alle Fälle als Roman, aber eben sehr sprunghaft zwischen den Zeiten. Ohne genaues Lesen geht es nicht. Zudem finde ich prima, wie er die Zeitungslektüre, die New York Times, der Cresspahls mit einbezieht. so bieten sich immer wieder Anknüpfungspunkte an Politk und Zeitgeschehen und Erinnerungsmomente.

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