Saša Stanišić: Herkunft Der Hörverlag

Dass ich Saša Stanišićs neues Buch „Herkunft“ als Hörbuch auswählte war klar. Denn seine Texte sind von ihm selbst gelesen einfach ein großer Genuss und eine Freude,.

„Dreißig Jahre später, im März 2008, musste ich zum Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft unter anderem einen handgeschriebenen Lebenslauf bei der Ausländerbehörde einreichen. Riesenstreß! Beim ersten Versuch brachte ich nichts
zu Papier, außer dass ich am 7. März 1978 geboren worden war. Es kam mir vor, als sei danach nichts mehr gekommen, als sei meine Biografie von der Drina weggespült worden.“

Er beginnt seine Erzählung mit der Großmutter, die in ihrem Heimatort auf der Straße nach sich selbst ruft, nach dem Mädchen, dass sie einmal war. Die Großmutter wird dement, vergisst viel, vergisst aber nicht, ihren Enkel beim Besuch oder am Telefon wie früher liebevoll „Esel“ zu nennen. Immer wieder kehrt die Geschichte an den Ort der Großmutter zurück, in das Dorf Oskoruša, in dem noch traditionelle mythische Überlieferungen erzählt werden, wie etwa die vom Drachen. Damit löste sich auch meine Frage, weshalb auf dem Cover ein eher chinesisch anmutender Drache abgebildet ist.

Die Familie lebt dann in Višegrad, einer Stadt an der Drina. Vater und Mutter haben eine gute Arbeit. Die Mutter hatte sogar studiert. Doch sie trägt einen Namen, der nach Muslima klingt und als es zu ersten Verfolgungen und Kriegshandlungen im zerfallenden Jugoslawien kommt, flieht sie mit dem Sohn nach Deutschland. Die Familie folgt später nach.

Wenn Stanišić über die Erfahrungen seiner Zeit als Flüchtlingskind erzählt, zunächst allein mit der Mutter in Heidelberg, dann mit der ganzen Familie in einer Flüchtlingssiedlung auf engstem Raum mit vielen anderen Nationen, wird sehr deutlich, was es heißt, fremd zu sein. Dass er das alles auf seine verschmitzte, heitere Art erzählt, verbirgt nicht die Traurigkeit, die auch darunter lag und auch die Scham. Scham, ein „Jugo“ zu sein, über die prekären Verhältnisse, in denen die Familie lebt, da die Eltern nicht in ihren ursprünglichen Berufen, sondern als Hilfskräfte ihr Geld verdienen müssen. Für ihn wird es einfacher, er lernt schneller Deutsch, er wird schneller integriert. Die Schulklasse, die vorrangig aus nichtdeutschen Kindern besteht, prägt diese Zeit positiv.

aus Kapitel: Die Häkchen im Namen

„Allerdings kommt man auch bei der 20. Wohnungsbesichtigung nicht auf die Shortlist, dann wird aus Saša schon mal Sascha mit sch. Es klappt dann zwar auch nicht, aber jetzt liegt es wenigstens am Beruf.“

Stanišić springt in der Zeit hin und her, es ist nicht seine Art chronologisch zu erzählen. Mir scheint es dadurch als eine sehr persönliche, zugewandte Art zu erzählen. Beinah wie ein Zwiegespräch …
Sehr besonders, dass er zwei im Text vorkommende Lieder des Vereins der Jugoslawien-Freunde vorsingt (das hat man im Buch nicht!), Lieder, die er aus der Kindheit kennt, und die heute wieder vermehrt Anklang finden bei all jenen, die sich in die Tito-Zeit zurück sehnen und die vermeintlich besseren Zeiten wieder herauf beschwören und den Nationalstolz feiern.

Wenn Stanišić von seiner Großmutter erzählt, die erst langsam, dann sehr schnell in die Demenz gleitet, ist es berührend zuzuhören …

„Welcher Tag ist heute, Oma?“, frage ich und meine Großmutter sagt, „Alle Tage.“

… oder witzig, wenn er von seinem ersten Verliebtsein in der Schulzeit erzählt, das sich, ob der zunächst geringen Sprachkenntnisse nicht ganz so einfach gestaltet. Und sogar der Bericht über ein Fussballspiel von Roter Stern Belgrad, dessen Fans er und sein Vater waren, fesselt mich in seiner Art, obwohl ich eigentlich Fussball nichts abgewinnen kann. Stanišić ist ein magischer Geschichtenerzähler!

Ob lesen oder hören, „Herkunft“ lohnt sich. Das Hörbuch erschien bei Der Hörverlag. Es liest der Autor selbst. Die Hörfassung ist leicht gekürzt. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Eine Hörprobe gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=rJegzFqo76A

Eine feine, sehr tiefgehende Besprechung des Buches findet man auf dem Blog LiteraturReich.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

8 Gedanken zu “Saša Stanišić: Herkunft Der Hörverlag

  1. Hey Marina! Ich mag Deinen Blog sehr gerne und hab schon einige tolle Bücher so entdeckt, auf die ich ansonsten nicht gestossen wäre! Das vorgestellte Hörbuch reizt mich auch! … Und darf ich eine off topic Frage stellen? Wie funktioniert das eigentlich bei Deinem Blog mit den Rezensionsexemplaren? Bittest Du Verlage Dir solche zu schicken für spezifische Bücher, die Dich interessieren, oder kommen Verlage bzw. Autoren auf Dich zu? Fragen die erst, ob Du Interesse hast, ein gewisses Buch zu lesen oder schicken sie es mal und hoffen auf eine Rezension? Ich frage weil ich eine Kollegin habe, die ein Buch veröffentlicht hat, das ich sehr toll finde und ich hab mich gefragt, ob Du es wohl auch rezensieren würdest oder wie das geht…. zudem nimmt mich das „Hinter den Kulissen“ Deines Blogs auch sonst wunder. 🙂 Danke und liebe Grüsse!

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    • Ich bekomme selten Bücher einfach so zugeschickt. Das finde ich auch gut. Ich wähle selbst aus, was ich wirklich lesen und besprechen will. Lese vorher Leseproben, bis ich mir sicher bin. Leihe viel aus der Bibliothek und ja, einige Titel frage ich dann bei Verlagen an.
      Viele Grüße!

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