„Alpaufzug. Zoppo, der Tuinar und der Lombard sitzen im Jeep. Die Kühe sind im Lastwagen. Nach dem Tunnel sagt Zoppo, willkommen im Tal der Tränen.“
Ich freu mich! Ich freue mich so sehr über dieses Buch. Dass es so etwas noch gibt in der Literaturlandschaft, in der Bücherwelt, die auch immer mehr auf Schnelligkeit und Konsum setzt. Ich bin dankbar, dass es solche Verlage gibt, solche Autor*innen, solche Künstler*innen. Noëmi Lerch hat einen Text geschrieben, der auf Langsamkeit und Hingabe besteht, der, von der Sprache einer bald vergessenen Zeit lebt. Sie erzählt, wie es kaum jemand mehr tut. Aber ich schwärme noch weiter, denn das Buch ist eine Perle der Gestaltung, ein feinstes Kunstwerk. Dass es ausgezeichnet wurde mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ist vollkommen nachvollziehbar.
Das Buch ist eingeteilt in 4 Kapitel: Leben, Natur, Arbeit, Sterben. Jede Seite ist mit einer feinen Illustration immer weiß auf schwarzem Papier gearbeitet. Auf der gegenüberliegenden hellgrauen Seite steht der Text. Oft ist es nur ein Satz. Immer nicht mehr als eine halbe Seite. In dieser Reduzierung steckt auch die Besonderheit dieser Geschichte.
„Der Nachtfalter trägt einen pastellfarbenen Mantel und eine rote Lockenperücke. Er schläft an der Mauer hinter dem Radio, seit drei Tagen schon. Heute ist er heruntergekommen, um in der Kaffeetasse vom Tuinar zu ertrinken.“
Es ist auch keine Geschichte im üblichen Sinn, sondern lässt einfach Bilder aus dem Alltag der drei Bauern auf einer Alm in einem abgelegenen Tal im Tessin aufscheinen. Doch aus dieser Knappheit wächst auch die Schönheit. Denn es entstehen auch berührende Bilder aus dem Inneren der Männer. Die harte Arbeit prägt sie, doch sie leben auch aus ihrem ganz unterschiedlichen Inneren heraus und sie leben mit der Natur. Viel steht zwischen den Zeilen, eröffnet sich im Hingeben an die wenigen Worte, im Lauschen auf das eigene Innere oder in der Versenkung in die Abbildungen. Es ist ein meditatives Buch, dass dennoch hinweist auf die zunehmenden Veränderungen dieser archaischen Strukturen. Immer mehr Touristen kommen, die Natur nimmt Schaden, die Landwirtschaft muss subventioniert werden.
Drei Männer und ein lächelnder Hund. Der Tuinar, der vom Land am Meer kommt, dem das Sprechen schwerfällt und der nur der „Zusenn“ ist, dem nichts selbst gehört. Der singende Lombard mit dem lächelnden Hund und Zoppo, der dem Tuinar zeigt, wie man die Harfe durch den Käsebruch ziehen muss und wie still die weite Ebene ist.
„Der Tuinar weiss nicht mehr was sagen. Fallen ihm an einem Tag zwei Sätze ein, die er sagen könnte, spart er einen davon auf. Für den nächsten Tag.“
Noëmi Lerch schreibt so geheimnisvoll, so wissend und spürend, aber auch so poetisch und zart, wie man es sich für diese Arbeit gar nicht vorstellen kann, aber genau so ist es vielleicht, wenn etwas mit Hingabe und aus Liebe getan wird, egal, ob Schreiben oder Käse machen. Ein Leuchten!
Das Buch haben Alexandra Kaufmann und Hanin Lerch (Künstlerinnen-Duo Walter Wolff) bebildert. Sie haben dabei ihre ganz eigenen Gedanken als Bilder auf den Text gelegt, Bilder die die eigenen entstehenden nicht stören, vielmehr anregen. Außen in naturfarbenes grobes Leinen gebunden mit schwarzer Titelprägung geht es auch innen schwarz und und naturgrau auf schwerem Papier weiter. Beim Blättern riecht man noch die Druckfarbe. Das weiße Garn der Fadenheftung blitzt auf. Ein Lesebändchen reicht eigentlich nicht, um die vielen Seiten zu markieren, die besonders bemerkenswert sind.
Das Buch erschien im Schweizer Verlag Die Brotsuppe. Es ist bereits das dritte Buch der 1987 geborenen Autorin, die in Aquila im Tessin lebt, als Hirtin und Schriftstellerin. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Und hier ein Interview mit den beiden Gestalterinnen des Buches und eine kleine Lesung der Autorin:
Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.