
2019 hat sie mit einem starken Text den Bachmannpreis gewonnen. Dann kam ihr Roman „Ich an meiner Seite“ und mit dem neuen Roman „Wovon wir leben“ hat die Österreicherin Birgit Birnbacher, wie ich finde, einen noch besseren Roman geschrieben. Schon bei den ersten Zeilen merke ich, das ist ein geerdeter Text, der ist wunderbar bodenständig, wenngleich gedankenvoll klug und mitunter auch sehr witzig und unverblümt direkt. Es braucht keine Großstadt, keinen Mainstream-Inhalt, keine woken Themen, keine formelle Außergewöhnlichkeit, um einen richtig guten Roman zu schreiben. Den Zauber dieses Textes macht für mich ein richtig gutes Händchen für Sprache, ein tiefes Verständnis für Menschen, Lebenserfahrung und ein sicheres Reflexionsvermögen aus.
Dass Birnbachers Romane von ganz normalen Menschen mit all ihren Fehlern handeln, gefällt mir und nimmt mich sofort für den Text ein. Bereits der Titel weist darauf hin, worum es haupt- und nebensächlich geht: Wovon wir leben. Physisch und psychisch. Was brauchen wir, um ein gutes, womöglich ein glückliches Leben zu führen? Warum geht es bei manchen Menschen leichter, bei manchen schwerer, das Leben? Was baut uns auf? Oder wer? Wie wichtig ist das, was wir tun? Unsere Arbeit? Und was ist die richtige Arbeit für uns? Ist Beruf Berufung? Oder geht es vor allem darum Geld zu verdienen? Und was wenn durch Krankheit die Arbeit nicht mehr getan werden kann? Was, wenn man die Chance bekommt, ein Jahr ein Auskommen zu haben und nicht arbeiten zu müssen? Arbeitet man trotzdem?
Anhand von Julia und Oscar, den beiden Hauptfiguren spielt die Autorin das ganz wunderbar durch. Julia, Ende 30, Krankenschwester verliert ihre Arbeit, weil sie aufgrund von Unachtsamkeit einen Fehler gemacht hat, mit weitreichenden Folgen. Aufgrund dessen wird sie selber krank, wird aus der Bahn geworfen, bekommt keine Luft mehr, muss wieder neu lernen durchzuatmen.
„Mit jedem eingetragenen Häkchen in die Datenmaske, jedem abgearbeiteten Kreuzchen meiner Aufgabenliste wurde der Mensch vor mir abstrakter. Sein Mitteilungsbedürfnis, seine Sorgen oder Nöte waren auf einmal ein Extra, das eigentlich nicht mehr zum Auftrag gehörte.“
Sie fährt deshalb in die Heimat, von der Stadt ins Dorf, auf den Hof der Eltern, in der Hoffnung dort umsorgt zu werden. Doch schnell stellt sich heraus, dass auch dort alles ganz anders geworden ist. Die Fabrik, in der das halbe Dorf arbeitete, geschlossen. Der Vater hypochondrisch, die Mutter einfach weg. Nach Italien zu einem anderen. Für Julia gänzlich unvorstellbar. War die Mutter doch immer die angepasste, die alles beisammen hielt. Der Vater vollkommen verloren ohne die Frau. Der Vater aber auch mit einer Schuld, gegenüber dem eigenen Sohn, der im Heim lebt, und doch nie schuldbewusst.
„Der Vater fühlt sich nicht rücksichtslos. Er fühlt sich gar nicht. Er ist, wie seine Kultur ihn hervorgebracht hat.“
Bereits auf der Fahrt lernt sie Oscar kennen, der fortan „Der Städter“ genannt wird. Auch er wurde aus dem bisherigen Leben geschoben durch einen Herzinfarkt. Er sucht auf dem Land Erholung und findet sich ungewöhnlich schnell gut zurecht. Er hat für ein Jahr lang eine Art bedingungsloses Grundeinkommen gewonnen und kann sorglos tun, was ihm gut tut. Julia ist erstaunt, wie leicht bei ihm alles geht. Und anfangs auch neidisch. Bei ihr geht es um viel mehr. Um ein drohendes Berufsverbot und die schlimme Vorstellung nun auf dem väterlichen Hof womöglich die Mutter ersetzen zu müssen.
„Mir fällt ein, wie ich jahrelang gerührt war, weil er (Anm: der Vater) einen Arm um Mutters Autositz legte, wenn er rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Ich musste ganz schön große werden, um zu kapieren, dass er ihren Sitz auch umarmt, wenn sie gar nicht dabei ist.“
Der Städter macht Julia nach und nach leichter. Zwischen Kartenspielen im Wirtshaus und der Betreuung einer krankenden Ziege entwickelt sich ein Miteinander, dass beiden gut tut, dass aber auch Fragen nach der Zukunft aufwirft. Wie das immer so ist. Denn für Julia scheint die neue Zukunft wieder in der Stadt zu beginnen – durch eine alte Freundin besinnt sie sich auf frühere Fähigkeiten und bekommt die Chance einen neuen Beruf zu erlernen – und der Städter hingegen entschließt sich zu bleiben. Für ihn scheint alles traumwandelnd leicht zu gehen, Julia spürt eine ewige Schwere und vor allem eine Unentschiedenheit, ein Hin- und Hergerissensein. Er als ehemaliger Büro- und Amtsmensch sucht die Begegnung und Gemeinschaft. Julia hat genug von Menschen und wünscht sich einen Bürojob.
„Wie er da so kniet, denke ich, dass er für das Glück wirklich begabt ist und ich genau gar nicht, obwohl wir wahrscheinlich gleich viel Glück oder Unglück haben, nur dass es ihm überwiegend freudig gleichgültig ist und ich auch an guten Tagen von einem anderen spezifischen Gewicht bin, mich fürchte, hässlich fühle oder schäme, irgendetwas ist da immer.“
Als Julias Entscheidung schon fast getroffen ist, verletzt sich der Vater und muss versorgt werden. Hat er es absichtlich getan, um Julia zu zwingen zu bleiben und ihn zu versorgen? Wie entscheidet sich Julia? Lässt sie sich erpressen? Wird sie die Ersatzfrau? Ist Familie wichtiger als der Job? Reicht ihre Energie, ihr Durchsetzungsvermögen, um ihren eigenen neuen Weg unbeirrt weiter zu gehen? Hilfe kommt aus unerwarteter Richtung. In dieser letzten Phase des Romans zeigt sich für mich das Thema Feminismus eleganter, geistreicher und zugleich kraftvoller, als das in den derzeitigen oft plakativ unter der `Feminismus-Keule` geschriebenen Romanen der Fall ist.
Dieser Roman ist durchweg gelungen bis hin zum passenden schönen Cover und eines meiner Highlights des bisherigen Lesejahres. Helles Leuchten! Große Empfehlung!
„Wovon wir leben“ erschien im Zsolnay Verlag im Hanser Verlagshaus. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.