Heidi Furre: Macht Dumont Verlag

Foto gemeinfrei: pixabay Mond, Niki de Saint Phalle, Giardino dei Tarocchi

Die Norwegerin Heidi Furre hat einen bemerkenswerten Roman über ein schweres Thema geschrieben. Was mich daran vor allem überzeugt hat, ist die Form und die Sprache, die sie dafür wählt. Zudem schafft sie es auf nur 170 Seiten das Thema derart komplex zu gestalten, dass es einen tiefen Eindruck hinterlässt. Und nicht zuletzt ist es das Auftauchen der Künstlerin Niki de Saint Phalle und ihr selbst gestalteter Garten „Giardino dei Tarocchi“ in Italien an der Grenze zwischen Toskana und Latium, der die Geschichte zu einem positiven Ende hinführt. Mit der Künstlerin habe ich mich selbst schon manches Mal beschäftigt – leider war der Garten jedes Mal geschlossen, wenn ich in der Toskana war.

Inhaltlich geht es um eine Vergewaltigung. Scheinbar ganz assoziativ in teils kurzen Sequenzen erzählt die Autorin die Geschichte der Protagonistin nach dem „Vorfall“, wie sie es oft nennt. Denn allein das Wort auszusprechen, scheint eine große Hürde. Es würde dadurch deutlich, dass es wirklich passiert ist. Denn die Hauptfigur wünscht sich nichts sehnlicher, als das Geschehnis auszublenden, zu verdrängen, einfach normal weiterzuleben, was sie letztlich auch tut. Für sie ist es ein Albtraum Opfer zu sein und immer als „Vergewaltigte“ gebrandmarkt zu sein. So geht sie auch nicht zur Polizei, um die Tat anzuzeigen und nimmt auch keine psychologische Hilfe in Anspruch.

„Was mir Angst bereitet, ist der Gedanke, in diesem andächtigen Gerichtssaal zu sitzen, unter diesen hochgebildeten Menschen mit Geld und Macht und all dem. Und sie dann sagen hören, das alles sei nur eine Lüge. Alles, was sie gesagt haben, ist erlogen. Er hat es nicht getan.“

Erzählt wird aus der Sicht der Frau viele Jahre später. Liv, Mitte 30, ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder und arbeitet als Krankenpflegerin. Ihr Mann Terje taucht selten auf, doch die Kinder, vor allem der erstgeborene Sohn Johannes spielen eine wichtige Rolle, da er sie immer wieder an ihre Körperlichkeit erinnert und sie besonderen Wert darauf legt, dass er frei und ohne Ängste aufwächst, dass sie ihren Kindern die Sicherheit geben kann, die ihr so oft fehlt.

Von der tatsächlichen Tat erfahren wir erst gegen Ende des Buches, was stimmig ist. Vorher wird erzählt, was die Tat aus der jungen Frau gemacht hat, die nie Opfer sein wollte und immer selbst Macht darüber haben wollte. doch auch fünfzehn Jahre später ist nichts vergessen. Alltägliche Situationen lassen das traumatisierende Ereignis immer wieder auftauchen. Das können Kleinigkeiten sein, wie ein Geräusch, ein Duft oder aber der Routinebesuch bei der Frauenärztin. Schnell erfahren wir auch, dass die Frau kaum ohne Medikamente auskommt. Schmerzmittel, Schlaftabletten oder Tranquilizer sind immer zur Hand.

„Alles war in bester Ordnung, niemand hielt mich an oder konnte mir ansehen, was passiert war. Alles normal. Es war völlig normal, vergewaltigt zu werden, ich hatte keine zerzausten Haare oder Blutergüsse. Eine Vergewaltigung war klein, sie passte genau in meinen Körper. Ich würde es aushalten, es mit aller Macht hinkriegen, weiterzulaufen. Mit aller Macht und aller Macht und aller Macht.“

Liv kommt an die Medikamente an ihrem Arbeitsplatz, einem Pflegeheim. Manchmal reicht es schon, sie in der Nähe zu wissen. Als eine neue Patientin aufgenommen wird, deren Bruder, ein bekannter Schauspieler, sie regelmäßig besucht, wirft das Liv wieder in die Vergangenheit zurück. Denn der Schauspieler stand vor längerer Zeit wegen einer Vergewaltigung vor Gericht und wurde frei gesprochen. Sein Auftauchen im Heim wird zum regelmäßigen Trigger für Livs Trauma. Wie sehr sie sich dadurch wieder mit den eigenen Erlebnissen auseinandersetzt, merkt man beispielsweise daran, dass sie akribisch den Schauspieler mittels Internet durchleuchtet, alles zu seinem Gerichtsprozess liest und sich ausmalt, wie es bei ihrem eigenen Prozess gewesen wäre, hätte sie den Mann damals angezeigt. Dabei geht sie soweit, sich auszumalen, welche Kleidung, welches Make up sie vor Gericht tragen würde. Es geht immer darum, nicht wie ein Opfer auszusehen. Generell dreht sich bei Liv sehr viel um das Äußere, sie kauft teure Markenkleidung, geht oft ins Fitnessstudio, geht regelmäßig ins Spa um sich mit Botox die Falten wegspritzen zu lassen. Es scheint mir wie ein Davonlaufen, um sich nicht mit dem inneren Zustand auseinander zu setzen. So wechselt sie immer wieder von Stolz bis zur Selbstverurteilung. Redet sich den Vorfall mitunter klein: wie vielen anderen Frauen ist es schließlich auch passiert? Oder gibt sich selbst die Schuld. Sie hätte viele Male anders entscheiden können und dann wäre es nicht passiert.

„Meine Mauer besteht nicht nur aus Tabletten. Sie besteht aus Ritualen und Regeln. Meine Klamotten sind ein Panzer. Wie bei Kindern die sich als Piraten, Prinzessinnen und Feuerwehrleute verkleiden. Sie verkleiden sich, um keine Kinder mehr zu sein, so wie ich mich verkleide, um keine Vergewaltigte mehr zu sein.“

Furre bringt alle Aspekte stimmig ein in diesen Gedankenstrom der Hauptfigur. Ich war erstaunt, in wie viele Richtungen Livs Gedanken gingen, auf welche Weise sie innerlich mit sich verhandelt und wie sie schließlich langsam aktiver wird und damit wieder mehr sie selbst. Beispielsweise spricht sie den Schauspieler direkt auf seine Tat an, ohne jedoch Antwort zu bekommen, sie fährt mit dem Bus zum Haus ihres Vergewaltigers und erzählt es dem Nachbarn. Schließlich kann sie es sogar ihrem Mann erzählen. Das ist die einzige Szene, die mir etwas zu wenig ausgearbeitet ist.


Und eine weitere große Veränderung bewirkt die Entdeckung der Künstlerin Niki de Saint Phalle, die erst sehr spät über ihre Vergewaltigung reden konnte und in ihrer Kunst mit verarbeitete. Deshalb das Vorsatzblatt des Romans mit der schießenden Niki. Liv beschäftigt sich mit ihrem Werk und ist beeindruckt von ihr als Frau und Künstlerin und fliegt schließlich mit einer Freundin, die ebenfalls Künstlerin ist, nach Rom und von dort aus in den Giardino dei Tarrocchi. Auf dieser Reise findet Liv ein Stück weit zu sich selbst. Große Empfehlung für dieses vielschichtige Buch! Leises Leuchten!

Der Roman erschien im Dumont Verlag. Übersetzt aus dem Norwegischen hat es Karoline Hippe.

Zwei weitere sehr unterschiedliche Romane zum Thema hier bereits besprochen:

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