Andreas Maier: Die Heimat Suhrkamp Verlag


Im Nachwort von Andreas Maiers neuem Roman lesen wir, dass die Ortsumgehungsstraße tatsächlich gebaut wird. Die, die sie bauen sind in der Fremde. Der, der schon jahrelang an einer autobiographischen Buchreihe mit dem Übertitel „Ortsumgehung“ schreibt, ist hier zuhause. Für ihn ist es die Heimat. und wie er die Heimat nach all den schriftstellerischen Bemühungen in der „Pissrinne“ eines alten Ausflugslokals in der Wetterau findet, beschließt den neunten Band der Serie (wie immer kann jeder Band auch unabhängig von den anderen gelesen werden), der auch diesmal wieder amüsant zu lesen ist.

Maier arbeitet diesmal chronologisch und teilt den Roman in die Siebziger, Achtziger, Neunziger und Nuller Jahre auf.

„Wir Kinder wuchsen in völliger Geschichtslosigkeit auf, alle taten so, als sei alles schon immer so gewesen, wie es zu der Zeit, also Anfang der siebziger Jahre war.“

Sofort tauche ich in meine eigene Kindheit ein. Ich bin der gleiche Geburtsjahrgang wie Maier, nur nicht wie er im kleinstädtischen Hessen, sondern im kleinstädtischen Franken aufgewachsen. Vieles ähnelt sich. Die Situation zuhause, in der Schule, der Beginn des Englisch-, des Französischunterricht, der gruselige Religionsunterricht, die Heimatfilme, die im Fernsehen geschaut wurden. Der Austauschschüler der Schwester aus England. Die „Gastarbeiterkinder“, die in den Klassen auftauchten. Die „Ausländer“, die in der Stadt einen türkischen Imbiss, eine italienische Eisdiele, ein jugoslawisches Restaurant eröffneten.

„Dann trat eine deutliche Verschlechterung der Stimmung ein, etwa um die Zeit, als die Schule wieder losgegangen war. […] Plötzlich lag den Leuten etwas auf der Seele, es war für mich aber ungreifbar, was die Ursache sein konnte. Sie tuschelten und senkten die Stimme, wenn wir Kinder an den Tisch kamen.“

Maier beschreibt damit die Atmosphäre sehr gut. Auch ich erinnere mich wage daran. Zu dieser Zeit wurde im Fernsehen die Serie „Holocaust“ gezeigt und es war wohl das erste mal, dass die Gräueltaten der Nazis so explizit an die Öffentlichkeit kamen. Eventuell wurde sogar in der Familie darüber gesprochen. Aber eben nicht mit den Kindern, da wurde die eigene Geschichte meist verschwiegen. Die Kriegskinder und Enkelkinder leiden noch heute darunter. Erst später in der Schule ab der Achten oder Neunten wurde das Thema dann auch im Unterricht behandelt. Die Teenagerzeit beschreibt Maier sehr treffend mit ihren manchmal skurrilen Merkwürdigkeiten.

„Heimat war in dieser Epoche ein Unwort. Wir, nun fünfzehn, sechzehn Jahre alt, fanden das Wort grauenhaft. Es war reserviert für die diversen Heimatverbände, die im Fernsehen immer folkloristisch herüberkamen und deren Versammlungen, über die berichtet wurde, wir befremdlich rechts und CDU-haft fanden. „

Maier erzählt von Joachim Fests Dokumentarfilm über Hitler, wie von der Parodie Charlie Chaplins. Er erzählt wie die Terroristen der RAF in jeder Familie Thema waren. Ich sehe heute noch die „Gesucht“-Plakate vor mir und wie ich meinen Vater frage, wer diese Menschen sind … Damals als die Linken noch gegen den Staat waren und die Antifa eine echte Antifa. Damals als es sogar ein NPD-Mitglied in den Kreistag in Maiers Heimatgegend schaffte.

Dann beginnt in den 80er Jahren im Osten der Widerstand. Der Vater Maiers, Rechtsanwalt und CDU-Mitglied, zeigt sich skeptisch.

„Daß das alles ein verdammter Betrug sein könne, diese angebliche Öffnung der Gesellschaft unter Gorbatschow, hielt er für absolut möglich. Dem Russen ist nie zu trauen, das hatte ihm schon sein Vater gesagt.“

Bald darauf gehen die Grenzen auf. Maier besucht 1990 seine gleichaltrige Cousine in Sachsen und sieht einen schwarz-verrußten Meißner Dom, die sorbischen Gemeinden Nähe Bautzen und verbringt eine kurze verliebte Zeit dort.

Es folgt die Zeit an der Universität in Frankfurt. Die politischen Ereignisse dieser Zeit. Die vielen Kriege, die neuen Diktatoren, die neuen Demokratien, die eigene Suche nach einem Ort zum Leben, nachdem die Gefährtin an der Seite gefunden wurde. Maier zieht es nicht ins Ausland, nicht nach Berlin. Er bezieht schließlich nach dem Tod des Onkels (J.) das Haus der Großmutter in Bad Nauheim und wird dort sesshaft. Er schreibt die ersten Romane und beobachtet die Ideen zur Ortsumgehung, der Wirklichen und seiner eigenen.

Nachdem der letzte Band etwas schwächer war, empfinde ich diesen wieder als tragende Säule der auf elf Bände angelegten Reihe. Kurzweilig, witzig und auch klug. Das Buch erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar.

Zu den vorher besprochenen Bänden über diesen Link:

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