Gertraud Klemm: Einzeller Kremayr & Scheriau


Seit Herzmilch habe ich alle Romane von ihr gelesen (ältere Besprechungen hänge ich unten an), fast alle gefielen mir. Alle behandeln wichtige Themen, immer in Richtung Feminismus/Frausein. Der neue Roman Einzeller hat mich wieder besonders neugierig gemacht, da ich auch selbst spüre, wie stark sich doch der „alte“, für mich echte aktive Feminismus vom „neuen“, wie sagt Simone im Roman so schön: „Sternchenfeminismus“, unterscheidet.

Gästinnen. Wie sie dieses Wort hasste. Wie sie diese Sprachpolitik nervte. Dieses woke Erbsenzählen. Jeder Text eine Minenfeld, an jeder Ecke die neuen Moralistinnen, die einem an den Lippen hängen und jedem falschen Wort auflauerten und Aussagen auf Mikroaggressionen prüften.“

In einem renovierungsbedürftigen ungenutzten Schulhaus in Wien gründen die drei langjährigen Freundinnen Simone, Eleonora und Maren eine Frauen-WG, genannt der Bienenstock. Simone ist mit fast Sechzig bereits eine Ikone in Sachen Feminismus. Sie hat allerhand bewirkt und in Bewegung gebracht und versucht das noch immer. Die jungen Feministinnen sind ihr ein wenig suspekt, so sie doch vor allem auf Social Media-Kanälen aktiv sind und wenig im realen Leben, wo es dringender notwendig wäre. Dennoch wollen die drei sich zwei weitere Mitbewohnerinnen dazu holen um den „Bienenstock“, so der WG-Name, zu erneuern und zu verjüngen. Die Wahl fällt auf Flora, eine junge Juristin und auf Lilly, die noch Studentin ist. Das Kennenlernen und Zusammenleben lässt sich zunächst gut an. Alle sind aufeinander neugierig.

Klemm erzählt wechselweise aus der Perspektive von Simone und von Lilly. Aus Simones Sicht erfahren wir am meisten über feministische Themen. Lilly erzählt vor allem von sich selbst. Als Hauptthema am stärksten vertreten ist das Thema Abtreibung, da hier die Politik wohl am Status Entscheidungsfreiheit rütteln möchte, denn Wahlen stehen bevor. Bald schon zeigen sich Unterschiede bei den Prioritäten zwischen jung und älter. Lilly, die es eigentlich betrifft, kümmert sich wenig um das Thema, sie findet ihre Meinung vor allem beim Mainstream auf Instagram. Simone hingegen kämpft draußen gegen konservative Parteien und kirchliche Gruppen und in Interviews und Aktionen für „Mein Körper, meine Entscheidung“. Männer sind nicht erlaubt in der WG. Das macht Lily nichts aus, denn ihr Freund ist ohnehin viel auf Reisen.

Als Simone angesprochen wird, mit ihrer WG an einer TV-Show mitzuwirken, ist sie zunächst skeptisch, lässt sich aber doch überreden. Drei WG`s unterschiedlicher Ausrichtung und unterschiedlichen Alters sollen mit einer Person, die einen anderen Standpunkt vertritt live diskutieren und einander überzeugen. Das wird natürlich zum Desaster und Simone wird immer angefressener. Ihr wird generell alles zu viel. Sie arbeitet sich an Themen ab, die längst in Sack und Tüten waren, doch nun offenbar von vielen in Frage gestellt werden. Die Politik wird konservativer und rechter. Durch die Sendung driften die Bewohnerinnen immer mehr auseinander.

“ Die Cis-Hetero-Normalo-Frauen, die ihr als SWERFs und TERFs beschimpft, wissen gar nicht , was SWERFs und TERFs sind. Denen geht dein theoretischer Feminismus am Arsch vorbei, weil ihnen das Patriarchat die Zeit zum Lesen und Nachdenken über die weibliche Identität stiehlt. Die können nicht über Judith Butlers feuchte Träume diskutieren, weil sie in ihren ungeputzten Wohnungen und schlechtbezahlten Jobs „echte“ Sorgen haben.“

Lilly wird ungewollt schwanger vom Freund ihres Freundes, will das Kind nicht abtreiben, sondern zieht mit dem Vater zusammen. Auch Flora zieht aus. Viele Monate später, das Kind ist da, flüchtet Lilly in den Bienenstock, weil der Kindsvater sie schlägt. Die Frauen bieten ihr sofort Hilfe an. Doch nach einer Weile kehrt sie wieder zu diesem Mann zurück. Simone, nach einem Burnout und einer Reise nach Venedig, gerade von einem Besuch bei ihrer Tochter in Berlin zurückgekehrt, hat den Entschluss gefasst, nicht mehr aktiv zu sein. Einen Preis soll sie bekommen für ihre langen Bemühungen um Frauenrechte. Den Preis wird sie noch mitnehmen und dann wird sie in Rente gehen und nicht mehr kämpfen, nur noch leben.

„Sie sitzen in einem dieser Cafés mit idiotischen Namen, die den Kollwitzplatz säumen, weil Simone es mit eigenen Augen sehen wollte: das bourgeoise, grüne Ökoberlin, über das man sich in Wien lustig macht“

Das Ende empfand ich ziemlich erschütternd, möchte es aber hier nicht vorweg nehmen. Für mich ist eindeutig Simone die Heldin und Sympathieträgerin. Ihr Handeln und Denken sind mir vertraut. Sie sieht das Große und Ganze, die Zusammenhänge. Sie weiß, dass es nicht mit social media-Posts getan ist.

“ Der Netzfeminismus, den sie mitkriegt, schwebt gerade über dem Regenbogen ins Einhornland, während darunter so gut wie jedes Terrain, das in den Siebzigern erstritten wurde, von den Patriarchen zurückerobert zu werden droht.“

Mir hat die Geschichte richtig gut gefallen, denn sie ist trotz des Themas nicht mainstream. Ich habe bei unglaublich vielen Passagen genickt und zugestimmt. Die Autorin lässt sich nicht von irgendeiner Seite vereinnahmen und dadurch gelingt ihr ein eindrückliches Porträt der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Situation der Frauen. Sie blättert einzelne Frauenbiographien auf und lässt uns selbst sehen, wie es läuft und gelaufen ist. Es liegt an uns, wie es weiter geht. Bleibt zu hoffen, dass es in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen nicht wieder Rückschritte gibt

Das Buch erschien im Kremayr & Scheriau Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Michael Köhlmeier: Frankie Der Hörverlag


Michael Köhlmeier, der große österreichische Erzähler und Ehemann der Schriftstellerin Monika Helfer, hat nach vielen großen und kleineren Büchern nun wieder einmal einen Roman herausgegeben, der mich neugierig machte. Ich habe hier das Hörbuch gewählt, weil Köhlmeier selbst eingelesen hat und ich seine Stimme mit dem leichten Dialekt sehr schätze.

Es geht um den 14jährigen Frank, der mit seiner alleinerziehenden Mutter in Wien lebt. Als der Vater seiner Mutter nach 18 Jahren wegen guter Führung früher aus dem Gefängnis entlassen wird, ändert sich für die beiden, die in einer gut funktionierenden Routine zu zweit bestens zurechtkommen, alles. Und nicht zum Besseren. Bereits als die beiden ihn nach der Entlassung abholen und er einige Nächte bei ihnen verbringen muss, ändert sich die Stimmung zunehmend in Anspannung. In Andeutungen nur erfahren wir, dass der Großvater womöglich einen Mord begangen hat. Die Mutter hat merklich Angst vor ihm und Frank wird von ihm gleich vereinnahmt, obwohl er sich dem stets entziehen will. Auch als er in eine eigene Wohnung zieht, bleibt es bei dem unguten Einfluss. Das geht soweit, und da bin ich als Zuhörerin sehr erschrocken, dass er Frank brutal schlägt, als ihm eine seiner Äußerungen nicht passt. Wut und Jähzorn und der Hang zur Gewalt sind auch durch die Zeit in der Haftanstalt nicht verschwunden, im Gegenteil.

„Die Lider hingen ziemlich tief über den Augen, das kommt vielleicht auch vom dauernden elektrischen Licht. Ich muss zugeben, dieser Blick kam mir gefährlich vor, weil hinterhältig. Also, dass es ein Zeichen eines gefährlichen Mannes ist. Dabei braucht der da so ein Zeichen gar nicht. Wenn einer achtzehn Jahre eingesperrt wird, dann ist er gefährlich, auch wenn nichts an ihm gefährlich aussieht.“

Die Atmosphäre, die Köhlmeier heraufbeschwört, spürt man in jeder Zeile. Er macht das sehr gekonnt. Das beginnt schon von Anfang an mit der Weigerung Frank nicht Frankie zu nennen, was dieser hasst. Dennoch kann er sich dem Großvater nicht entziehen, er scheint eine hypnotisierende Wirkung auf Frank zu haben. Im Laufe der Geschichte wundere und ärgere ich mich über diese seltsame Beziehung, die die beiden da unbemerkt von Franks Mutter aufbauen. Die Mutter ist frisch verliebt und scheint dadurch ihren Sohn aus den Augen zu verlieren. Vielleicht trägt auch das dazu bei, dass sich Frank auf einen haarsträubenden Roadtrip mit dem Großvater begibt, die mit einer Wanderung nachts durch Wien beginnt, mit dem Diebstahl eines Autos weitergeht und auf einem Autobahnrastplatz böse endet.

Ab hier bin ich mir nicht sicher, ob das ganze noch glaubwürdig ist, ob Köhlmeier nicht zu dick aufträgt. Wahrscheinlich ist es aber gar nicht so wichtig. Jedenfalls taucht sowohl die Polizei in Franks Wohnung auf, da der Großvater sich seit Tagen nicht bei seinem Bewährungshelfer gemeldet hat, und es kommt zu einer unerwarteten Begegnung mit dem Vater, den er seit wohl zehn Jahren nicht gesehen hat. Frank wünscht sich ein Treffen, sein Vater willigt ein. Auch mit dem Vater und seiner neuen Freundin geht es auf die Autobahn. Die Geschichte endet mit einem Showdown auf dem gleichen Autobahnrastplatz …

Mehr wird nicht verraten. Sonst bleibt es nicht spannend. Köhlmeiers Geschichte ist sowohl kurzweilig, als auch nachdenklich machend. Wie ist das mit dem „Bösen“? Ist der Hang zur Kriminalität womöglich erblich? Wie kann es sein, dass ein Mensch andere perfekt manipulieren kann? Abgesehen von der ungewöhnlichen Geschichte begeistert mich Köhlmeier ja sehr mit Worten wie „Spundus“ oder „Garderoberin“. Typisch Österreich. So kann dieser Beitrag auch noch als Nachtrag zum Thema Buchmessegastland gelesen werden.

Das Hörbuch erschien im Hörverlag. Eine Hörprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für den Rezensionsdownload.

Olga Tokarczuk: Empusion Kampa Verlag


Auf diesen Roman von Olga Tokarczuk war ich sehr neugierig, wurde er doch als eine Art Pastiche auf Thomas Manns Zauberberg, den ich sehr liebe, gehandelt. Und, ja, tatsächlich gibt es sehr viele gelungene Anspielungen auf den Zauberberg (wie etwa die berühmte Bleistiftszene!), aber auf seine ganz eigene Art, ist er womöglich noch einen Tick besser, jedenfalls moderner, obwohl durchaus im altmodischen Sprachstil Manns gehalten. Ich bin jedenfalls sehr begeistert – im wahrsten Sinne des Wortes – denn es gibt sehr viel hochprozentige Getränke und eben auch geisternde gespensterartige Wesen zuhauf. (Wikipedia: „Empusa (altgriechisch Ἔμπουσα Émpousa) ist in der Griechischen Mythologie eine weibliche Spukgestalt und ein Schreckgespenst.“) Was ich nicht so wirklich finden kann, ist der vom Verlag angekündigte „feministisch-ökologische“ Schauerroman. Das war aber vermutlich ein Marketingkniff, der zum Kauf anregen soll. Der Roman jedenfalls, feministisch hin, ökologisch her, beginnt mit einem Foto des Schauplatzes (siehe unten) mit einem Zitat aus Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ (welches ich sehr liebe).

Görbersdorf in Niederschlesien (heute Sokolowsko) im Herbst 1913 ist der Tokarczuk`sche Zauberberg. Ein Sanatorium für Lungenkranke und ein Gästehaus für Herren sind die Orte, an denen sich die unterschiedlichsten Tuberkulose-Kranken aufhalten. Einige von ihnen lernen wir näher kennen. Allwissende Erzählerinnen führen die Hauptperson ein, den um die 20-jährigen lungenkranken Mieczyslaw Wojnicz aus Breslau. Ihn umgibt ein Geheimnis, dass erst sehr spät im Roman zu Tage tritt.

„Wir sehen, wie die Kleidung Schicht um Schicht seinen schlanken Körper bedeckt, bis seine Gestalt, nun gänzlich verschieden von der gestrigen, die mit gelblichem Gesicht von Hustenstößen geschüttelt wurde, an der Tür steht, die Hand auf der Klinke, und sich mit geschlossenen Augen vorzustellen versucht, welchen Eindruck sie wohl machen würde, auf jemanden, der sie eben jetzt sähe.“

Er kommt im Gästehaus für Herren unter und trifft dort auf eine illustre Gesellschaft von vier weiteren Gästen und dem Pensionswirt Opitz. Hier ähneln sich die Gesprächsthemen denen des Zauberbergs. Jedoch kann ich mich nicht an solch frauenfeindliche Diskussionen, bei denen sich alle einig sind, bei Thomas Mann erinnern. Unten auf dem Foto kann man lesen, was es mit diesen herabwürdigenden Textstellen auf sich hat. Tokarczuk hat diese nicht etwa erfunden, sondern allerhand bekannte männliche Persönlichkeiten hatten sie geäußert.

Tokarczuk erzählt absolut kurzweilig vom Kuralltag der Gäste. Von den Arztsitzungen, bei denen es auch manchmal psychoanalytisch zugeht, von der Liegekur und der Hydrotherapie, von den Spaziergängen und Ausflügen. Man trifft sich zum Essen im Kurhaus und am Abend in Opitzens Gasthaus mit den anschließenden tiefschürfenden Gesprächen. Hier wird ein geheimnisvoller selbstgebrauter Likör namens „Schwärmerei“ ausgeschenkt, der die Gäste in entspannte, mitunter in bewusstseinsverändernde Zustände versetzt. Wie man sich später zusammenreimen kann, werden hier halluzinogene Pilze verarbeitet. Doch es gibt auch verstörende und irritierende Geschehnisse, die besonders Mieczyslaw in Erregung und Angst versetzen. Zunächst begeht die Wirtin Suizid. Dann erzählt einer der Gäste von seltsamen Todesfällen unter Männern, die immer zur gleichen Zeit im Jahr stattfinden. Thilo, ein Kunststudent, zu dem sich Mieczyslaw sehr hingezogen fühlt, geht es von Tag zu Tag schlechter. Von ihm lernt er, einen anderen Blick auf die Dinge zu finden, optische Täuschungen wahr zu nehmen, genau hinzusehen.

„Es gibt Dinge, die wir noch nicht erfassen können. Über die wir kaum etwas Verlässliches zu sagen wissen. Zumal sie nicht auf rationale Weise erklärbar sind. Aber wenn sie existieren, müssen sie auch ihren Platz haben in der Ratio der Welt.“

Immer wieder blicken wir auch in Mieczyslaws Vergangenheit. Er wuchs ohne Mutter nur mit dem Vater auf. Der Vater ist streng und hart und hält hin für verweichlicht, für „weibisch“. Deshalb soll er Ingenieur werden, was aber aufgrund der Erkrankung scheitert. Sehr spät erfahren wir Leser dann noch in Andeutungen, warum er als Kind mit dem Vater zig Arztbesuche über sich ergehen lassen musste.

Sehr schade finde ich, dass die Autorin zwar eine Art „Madame Chauchat“ in den Roman einführt, sie dann aber nicht mehr auftauchen lässt. Auch der Freitod der Pensionswirtin, der ja viele Fragen aufwirft, wird nicht auserzählt, dient letztlich vielleicht nur, um dem Helden einen geheimen Platz zu schenken, an dem er sie selbst sein kann, die Kammer der toten Wirtsgattin. Mehr werde ich zur inhaltlichen Entwicklung nicht schreiben, denn sonst wäre einiges an Spannung verloren.

Olga Tokarczuk hat einen unbedingt lesenswerten Roman in virtuoser Sprache geschrieben. Die ganze Atmosphäre, die melancholische, geheimnisvolle Stimmung hat sie gekonnt widergespiegelt. Skurrile Szenen wechseln sich mit philosophischen Themen ab. Die Natur spielt eine Rolle, eine nicht immer sanfte. Eins greift ins andere. Die Geschichte ist höchst vielschichtig und wirft unentwegt neue Fragen auf. Und das Sanatorium gab es tatsächlich. Es wurde durchaus bekannt durch die neuen Heilarten die ein Dr. Brehmer einführte, und an denen sich wohl sogar Thomas Mann für seinen Roman orientierte. Davos in der Schweiz ist es natürlich nicht. Ich habe jedenfalls einmal wieder den Zauberberg aus dem Regal gezogen und einzelne Passagen nachgelesen. Ein schwärmerisches Leuchten!

Der Roman erschien im Kampa Verlag. Die Übersetzer*innen sind Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Fotos: aus dem Roman

Andreas Maier: Die Heimat Suhrkamp Verlag


Im Nachwort von Andreas Maiers neuem Roman lesen wir, dass die Ortsumgehungsstraße tatsächlich gebaut wird. Die, die sie bauen sind in der Fremde. Der, der schon jahrelang an einer autobiographischen Buchreihe mit dem Übertitel „Ortsumgehung“ schreibt, ist hier zuhause. Für ihn ist es die Heimat. und wie er die Heimat nach all den schriftstellerischen Bemühungen in der „Pissrinne“ eines alten Ausflugslokals in der Wetterau findet, beschließt den neunten Band der Serie (wie immer kann jeder Band auch unabhängig von den anderen gelesen werden), der auch diesmal wieder amüsant zu lesen ist.

Maier arbeitet diesmal chronologisch und teilt den Roman in die Siebziger, Achtziger, Neunziger und Nuller Jahre auf.

„Wir Kinder wuchsen in völliger Geschichtslosigkeit auf, alle taten so, als sei alles schon immer so gewesen, wie es zu der Zeit, also Anfang der siebziger Jahre war.“

Sofort tauche ich in meine eigene Kindheit ein. Ich bin der gleiche Geburtsjahrgang wie Maier, nur nicht wie er im kleinstädtischen Hessen, sondern im kleinstädtischen Franken aufgewachsen. Vieles ähnelt sich. Die Situation zuhause, in der Schule, der Beginn des Englisch-, des Französischunterricht, der gruselige Religionsunterricht, die Heimatfilme, die im Fernsehen geschaut wurden. Der Austauschschüler der Schwester aus England. Die „Gastarbeiterkinder“, die in den Klassen auftauchten. Die „Ausländer“, die in der Stadt einen türkischen Imbiss, eine italienische Eisdiele, ein jugoslawisches Restaurant eröffneten.

„Dann trat eine deutliche Verschlechterung der Stimmung ein, etwa um die Zeit, als die Schule wieder losgegangen war. […] Plötzlich lag den Leuten etwas auf der Seele, es war für mich aber ungreifbar, was die Ursache sein konnte. Sie tuschelten und senkten die Stimme, wenn wir Kinder an den Tisch kamen.“

Maier beschreibt damit die Atmosphäre sehr gut. Auch ich erinnere mich wage daran. Zu dieser Zeit wurde im Fernsehen die Serie „Holocaust“ gezeigt und es war wohl das erste mal, dass die Gräueltaten der Nazis so explizit an die Öffentlichkeit kamen. Eventuell wurde sogar in der Familie darüber gesprochen. Aber eben nicht mit den Kindern, da wurde die eigene Geschichte meist verschwiegen. Die Kriegskinder und Enkelkinder leiden noch heute darunter. Erst später in der Schule ab der Achten oder Neunten wurde das Thema dann auch im Unterricht behandelt. Die Teenagerzeit beschreibt Maier sehr treffend mit ihren manchmal skurrilen Merkwürdigkeiten.

„Heimat war in dieser Epoche ein Unwort. Wir, nun fünfzehn, sechzehn Jahre alt, fanden das Wort grauenhaft. Es war reserviert für die diversen Heimatverbände, die im Fernsehen immer folkloristisch herüberkamen und deren Versammlungen, über die berichtet wurde, wir befremdlich rechts und CDU-haft fanden. „

Maier erzählt von Joachim Fests Dokumentarfilm über Hitler, wie von der Parodie Charlie Chaplins. Er erzählt wie die Terroristen der RAF in jeder Familie Thema waren. Ich sehe heute noch die „Gesucht“-Plakate vor mir und wie ich meinen Vater frage, wer diese Menschen sind … Damals als die Linken noch gegen den Staat waren und die Antifa eine echte Antifa. Damals als es sogar ein NPD-Mitglied in den Kreistag in Maiers Heimatgegend schaffte.

Dann beginnt in den 80er Jahren im Osten der Widerstand. Der Vater Maiers, Rechtsanwalt und CDU-Mitglied, zeigt sich skeptisch.

„Daß das alles ein verdammter Betrug sein könne, diese angebliche Öffnung der Gesellschaft unter Gorbatschow, hielt er für absolut möglich. Dem Russen ist nie zu trauen, das hatte ihm schon sein Vater gesagt.“

Bald darauf gehen die Grenzen auf. Maier besucht 1990 seine gleichaltrige Cousine in Sachsen und sieht einen schwarz-verrußten Meißner Dom, die sorbischen Gemeinden Nähe Bautzen und verbringt eine kurze verliebte Zeit dort.

Es folgt die Zeit an der Universität in Frankfurt. Die politischen Ereignisse dieser Zeit. Die vielen Kriege, die neuen Diktatoren, die neuen Demokratien, die eigene Suche nach einem Ort zum Leben, nachdem die Gefährtin an der Seite gefunden wurde. Maier zieht es nicht ins Ausland, nicht nach Berlin. Er bezieht schließlich nach dem Tod des Onkels (J.) das Haus der Großmutter in Bad Nauheim und wird dort sesshaft. Er schreibt die ersten Romane und beobachtet die Ideen zur Ortsumgehung, der Wirklichen und seiner eigenen.

Nachdem der letzte Band etwas schwächer war, empfinde ich diesen wieder als tragende Säule der auf elf Bände angelegten Reihe. Kurzweilig, witzig und auch klug. Das Buch erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar.

Zu den vorher besprochenen Bänden über diesen Link:

Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit Suhrkamp Verlag


In der letzten Besprechung zu Heins Roman „Guldenberg“ schrieb ich „Möge der nächste Roman an Spannkraft gewinnen“. Hat er. Im Prinzip ist der neue Roman ein Internatsroman, auch ein Coming of Age-Roman. Es ist aber auch, wie fast immer ein Roman, der sich mit Kapiteln aus der DDR-Geschichte befasst. Er liest sich leicht und fließend, unspektakulär gut, wie viele von Heins Romanen zuvor. Er hat mir einen unterhaltsamen Lesetag beschert.

Die Handlung beginnt 1958 und endet 1961. Das Ende fällt mit dem Mauerbau zusammen, der für die Hauptfigur des Romans, Daniel, auch das Ende seiner Aussicht aufs Abitur und ein Studium bedeutet. Denn Daniel ist Sohn eines Pfarrers im sächsischen Guldenberg. Wie bereits dem älteren Bruder David, wird auch Daniel verboten im Osten eine höhere Schule zu besuchen. Der Vater hat einen in der DDR unliebsamen Beruf. Deshalb wird Daniel, wie auch schon David nach Westberlin in ein Gymnasium geschickt. Untergebracht ist er in einem kirchlichen Heim im Grunewald für ebensolche ostdeutschen Schüler, die in der DDR ausgeschlossen werden.

Hein erzählt nun unterhaltsame Episoden aus der Pennälerzeit. Wie Daniel, sich Geld als Zeitungsverkäufer dazu verdient, sich in der Theatergruppe engagiert, mit den Schulkameraden ins Kino oder ins Theater geht. Wie das Bill Haley-Konzert im Sportpalast für Aufregung sorgt (mir fiel gleich ein, dass ja auch Lutz Seiler in seinem letzten Roman „Stern 111“ Bill Haley eine besondere Rolle zukommen lässt). Wie man auf einen Erweckungsprediger hereinfällt. Die Ostdeutschen sind auch hier im Grunewald wieder die Aussätzigen, wie schon vormals in der DDR. Allerdings können sie in Ostberlin billiger einkaufen und bekommen mit dem Ostberliner Pass Ermäßigungen z. B. fürs Kino.

„Auch jene Eltern, die nicht in einer Villa wohnten, sondern in einfachen Mietwohnungen, betrachteten die Verehrer ihrer Töchter mit Skepsis. Wir galten als Hungerleider aus dem Osten, die aus der Staatskasse finanziert wurden, nichts hatten, nichts konnten und überdies in der Kindheit von einem kommunistischen Staat indoktriniert worden waren.“

Sehr früh erfahren wir, dass Daniel bereits mit 16 an eigenen Theaterstücken schreibt. Ruhe dazu findet er nur, wenn die Freunde aus dem Sechserzimmer im Heim zum Schwimmen am Wannsee sind. Er entdeckt für sich die Vagantenbühne im Westen Berlins und beginnt bei den Proben zuzuschauen, so oft er Zeit findet. Zeitweise bindet man ihn sogar in die Diskussionen zum Stück mit ein. Und mit einer jungen Schauspielerin hat er eine kurze Liebelei.

Als er in den Sommerferien 1961 in Dresden ist, hört er im Radio von den Geschehnissen in Berlin. Er kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es möglich sein soll, Berlin zu teilen. Wie will man da bitte eine Grenze durchziehen, wie das kontrollieren? Leider zeigt sich, dass es machbar ist. Daniel fährt sofort nach Hause. Die Eltern wohnen inzwischen in Ostberlin. Obwohl er und der Bruder das Angebot bekommen, mit einem gefälschten West-Pass weiter ins Gymnasium zu gehen, lehnen beide das ab. Wer weiß, ob sie dann die Familie wiedersehen?

„David und ich gingen jeden Tag einmal an die Grenze. Es gab keinen öffentlichen Widerstand gegen die Abriegelung der Sektorengrenze, keine Demonstrationen, keine lauten, wuterfüllten Proteste, die Berliner schauten den Bauarbeitern zu, die noch immer mit Stacheldraht und stählernen Barrikaden den Zutritt nach Westberlin unmöglich machten und bei dieser Arbeit selbst von bewaffneten Polizisten und Soldaten bewacht wurden.“

Hier wird mir auch selbst noch einmal bewusst, welch ein Wahnsinn damals geschah mit der Teilung zuerst Berlins und dann Deutschlands. Und hier wird mir auch klar, dass das „niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ nur eine von unzähligen Lügen der Machthaber, egal ob in Osten oder Westen, ist. Und wie stark und mutig der Widerstand in der DDR um ´89 gewesen sein muss. Es ist gut und wichtig, dass diese Themen immer und immer wieder in der Literatur zur Sprache kommen.

Letztlich tritt unser Held Daniel eine Ausbildungsstelle an. Nicht wie gewünscht als Tischler, sondern als Buchhändler. Er will nebenher das Abitur an der Abendschule machen, doch auch das wird im verwehrt, da er die „falschen“ Antworten bei einer Befragung gibt. Auch in der Buchhandlung ist seine Stellung brüchig, da er nicht in die FDJ eintreten will. Doch lernt er dort ein Mädchen kennen „und damit begann eine andere Geschichte“, wie Christoph Hein so schön am Schluss schreibt.

Der Roman erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Tipp: Mein allerliebster Roman von Christoph Hein ist und bleibt Frau Paula Trousseau. Leuchtet!

Zur letzten Hein-Besprechung:

Christine Dwyer Hickey: Schmales Land Unionsverlag


Ein Buchcover von Edward Hopper? „Sea Watchers“ heißt es und gemalt wurde es 1952. 1950 spielt auch der Roman der irischen Autorin Christine Dwyer Hickey. Ihr Name war mir bisher kein Begriff, doch mit dem Roman „Schmales Land“ schreibt sie sich in mein Leserinnenherz. Ich bin ja ohnehin Fan von Romanen, die Künstlerbiographien in Literatur verwandeln und hier geht es eben um Edward Hopper, oder vielmehr um dessen Frau Josephine, oder um deren Beziehung, oder vielmehr um den kleinen Waisenjungen Michael aus Deutschland. Es ist der Klassiker: Josephine ist auch Malerin, als sie Hopper kennenlernt. Erst malen sie gemeinsam und dann ist sie irgendwann nur noch Muse beziehungsweise stellt ihre eigenen Ambitionen hinter die ihres Mannes. Sprich, sie unterstützt seine Karriere, seinen Erfolg aktiv und wird selbst immer unsichtbarer.

„Nach allem, worauf ich für dich verzichtet habe. Nach allem, was ich für deine Karriere getan habe, dir den Vortritt gelassen, mich zurückgenommen. Weil ich dachte. Irgendwann. Irgendwann bin ich dran. Irgendwann würdest du mich unterstützen. Oh, wie dumm wir Frauen doch sind. Was habe ich mir dabei nur gedacht.“

1950: Die beiden verlassen New York in Richtung Sommerfrische und verbringen ihre Zeit wie jeden Sommer in ihrem Haus am Meer auf Cape Cod. Der eine Krieg ist vorbei, doch der nächste schon wieder da. Das Ehepaar ist zerstritten, dann wieder versöhnt, ein hin und her, doch verlassen sie einander nicht. Josephine ist verbittert, weil Edward immer die Hauptfigur ist und sie am Rand steht. Zunächst meidet sie den Kontakt mit den Nachbarn, obwohl sie sich eigentlich nach Gesellschaft sehnt. Das ändert sich, als sie plötzlich Bekanntschaft mit Michael, einem 10jährigen Jungen macht, der bei den Kaplans, entfernten Nachbarn für den Sommer untergebracht ist. Er ist ein deutscher Waisenjunge, der nach dem Krieg in den USA adoptiert wurde, vom Krieg und dem Verlust der Eltern jedoch sehr gezeichnet ist. Am Meer soll er sich erholen und Richie, dem Sohn/Enkel der Kaplans Gesellschaft leisten. Doch die beiden kommen nicht miteinander klar. Michael ist oft sehr direkt und ehrlich und hat gleichzeitig eine sehr scheue Art. Mit Josephine, die er Mrs. Aitch nennt, freundet er sich an, kommt sie besuchen im Haus und so kommen sich beide mit ihren Eigenarten näher und schließen einander nach und nach ins Herz.

In diesem Sommer kommt Edward kaum voran mit dem Malen, obwohl er fast täglich zu Erkundungstouren aufbricht und Skizzen mitbringt. Der Funke will nicht überspringen. Josephine versucht zu helfen, doch beide sind zu gereizt. Über Michael entsteht schließlich ein Kontakt zu den Kaplans. Man trinkt Tee miteinander, redet über den Sommer am Meer. Von den Kaplans werden sie schließlich zu einer Party anlässlich des Labor Days eingeladen. Edward ist bald fasziniert von der schönen, aber todkranken Katherine, die im Haus der Kaplans zu Gast ist und die auch Michael heimlich verehrt. Michael hat das Meer noch nie gesehen, ist ängstlich. Auch gegenüber Menschen. Er baut sich einen Unterschlupf in den Dünen und sammelt kleine Dinge, die er im Haus oder am Strand findet und taucht einfach ab, wenn es ihm zu viel wird. Sicherlich ist er traumatisiert von Kriegserlebnissen, doch näheres aus Michaels Vergangenheit erfahren wir nicht. Seine Adoptiveltern werden kurz erwähnt.

Die Spannung in der Geschichte steigert sich hin bis zum Höhepunkt: der Party am Labor Day. Josephine ist nervös und aufgeregt, gleichzeitig fühlt sie sich minderwertig gegenüber den anderen. Penibel plant sie beispielsweise, wann und wie man einen Blumenstrauß überreichen könnte, damit möglichst im Gedächtnis bleibt, dass er von ihnen, den Hoppers, kommt. Damit und mit vielem anderen, z. B. auch mit Eifersucht, treibt sie Edward mitunter zur Weißglut. Edward hingegen verheimlicht ihr, dass der befreundete Galerist, der Josephines Bilder ausstellen sollte, dieses in einem Brief ablehnt. Er hält sie nicht für gut genug. Josephine indessen wartet sehnlichst auf den Brief mit einer Zusage. (Natürlich findet sie es später heraus.)

Wie Hickey die Reibereien und auch die noch so kleinen Missverständnisse der Hoppers beschreibt, ist große Erzählkunst. Sie schafft eine Atmosphäre, die oft drückend ist, wie die Sommerhitze. Auch Michael, für mich die eigentliche Hauptfigur ist eindringlich ausgearbeitet und kommt mir sehr nah. Michael schafft es sogar zeitweise, wenn auch unbewusst, die Hoppers sich wieder annähern zu lassen. Mir scheint, auch Michael merkt, was auch ich zu erkennen glaube: die Hoppers lieben einander innig, trotz aller Streitigkeiten, brauchen diese sogar, um sich nah zu bleiben.

„Und dann wird es doch noch ein sehr netter Spaziergang. In der Luft ist noch die Sommerlust, die Wege schäumen vor Wildblumen, die nicht ahnen, dass ihre Tage gezählt sind. Geißblattduft überall, fast ein bisschen zu viel. Außerdem lockt am Ende dieses wirklich sehr angenehmen Gangs immerhin eine Party. Und was wäre schöner – als eine Gartenparty an der Schwelle zum Nachsommer?“

Den Höhepunkt, das Fest, beschreibt die Autorin ganz faszinerend genau. Sie, und damit wir Leser, blickt hinter die Kulissen, sieht kleine und große Gesten und wirkt entlarvend. Die Reichen und Schönen werden zu Überheblichen und Verlogenen. Für Michael geht das Fest nicht gut aus, für ihn ist der Labor Day der letzte Tag seines Aufenthalts. Er wird eines Diebstahls beschuldigt, den er nicht begangen hat und wird von den Adoptiveltern abgeholt. Gut, dass die Hoppers den tatsächlichen Dieb kennen und das „Missverständnis“ aufklären können … Und letztlich hat Edward am Ende des Sommer dann auch das Bild gemalt, dass wirklich stimmig ist.

Ein Leuchten für dieses Buch, das als Sommerlektüre aber auch sonst immer bestens geeignet ist!

Schmales Land erschien im Unionsverlag. Übersetzt aus dem Englischen hat es Uda Strätling. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.