Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit Suhrkamp Verlag


In der letzten Besprechung zu Heins Roman „Guldenberg“ schrieb ich „Möge der nächste Roman an Spannkraft gewinnen“. Hat er. Im Prinzip ist der neue Roman ein Internatsroman, auch ein Coming of Age-Roman. Es ist aber auch, wie fast immer ein Roman, der sich mit Kapiteln aus der DDR-Geschichte befasst. Er liest sich leicht und fließend, unspektakulär gut, wie viele von Heins Romanen zuvor. Er hat mir einen unterhaltsamen Lesetag beschert.

Die Handlung beginnt 1958 und endet 1961. Das Ende fällt mit dem Mauerbau zusammen, der für die Hauptfigur des Romans, Daniel, auch das Ende seiner Aussicht aufs Abitur und ein Studium bedeutet. Denn Daniel ist Sohn eines Pfarrers im sächsischen Guldenberg. Wie bereits dem älteren Bruder David, wird auch Daniel verboten im Osten eine höhere Schule zu besuchen. Der Vater hat einen in der DDR unliebsamen Beruf. Deshalb wird Daniel, wie auch schon David nach Westberlin in ein Gymnasium geschickt. Untergebracht ist er in einem kirchlichen Heim im Grunewald für ebensolche ostdeutschen Schüler, die in der DDR ausgeschlossen werden.

Hein erzählt nun unterhaltsame Episoden aus der Pennälerzeit. Wie Daniel, sich Geld als Zeitungsverkäufer dazu verdient, sich in der Theatergruppe engagiert, mit den Schulkameraden ins Kino oder ins Theater geht. Wie das Bill Haley-Konzert im Sportpalast für Aufregung sorgt (mir fiel gleich ein, dass ja auch Lutz Seiler in seinem letzten Roman „Stern 111“ Bill Haley eine besondere Rolle zukommen lässt). Wie man auf einen Erweckungsprediger hereinfällt. Die Ostdeutschen sind auch hier im Grunewald wieder die Aussätzigen, wie schon vormals in der DDR. Allerdings können sie in Ostberlin billiger einkaufen und bekommen mit dem Ostberliner Pass Ermäßigungen z. B. fürs Kino.

„Auch jene Eltern, die nicht in einer Villa wohnten, sondern in einfachen Mietwohnungen, betrachteten die Verehrer ihrer Töchter mit Skepsis. Wir galten als Hungerleider aus dem Osten, die aus der Staatskasse finanziert wurden, nichts hatten, nichts konnten und überdies in der Kindheit von einem kommunistischen Staat indoktriniert worden waren.“

Sehr früh erfahren wir, dass Daniel bereits mit 16 an eigenen Theaterstücken schreibt. Ruhe dazu findet er nur, wenn die Freunde aus dem Sechserzimmer im Heim zum Schwimmen am Wannsee sind. Er entdeckt für sich die Vagantenbühne im Westen Berlins und beginnt bei den Proben zuzuschauen, so oft er Zeit findet. Zeitweise bindet man ihn sogar in die Diskussionen zum Stück mit ein. Und mit einer jungen Schauspielerin hat er eine kurze Liebelei.

Als er in den Sommerferien 1961 in Dresden ist, hört er im Radio von den Geschehnissen in Berlin. Er kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es möglich sein soll, Berlin zu teilen. Wie will man da bitte eine Grenze durchziehen, wie das kontrollieren? Leider zeigt sich, dass es machbar ist. Daniel fährt sofort nach Hause. Die Eltern wohnen inzwischen in Ostberlin. Obwohl er und der Bruder das Angebot bekommen, mit einem gefälschten West-Pass weiter ins Gymnasium zu gehen, lehnen beide das ab. Wer weiß, ob sie dann die Familie wiedersehen?

„David und ich gingen jeden Tag einmal an die Grenze. Es gab keinen öffentlichen Widerstand gegen die Abriegelung der Sektorengrenze, keine Demonstrationen, keine lauten, wuterfüllten Proteste, die Berliner schauten den Bauarbeitern zu, die noch immer mit Stacheldraht und stählernen Barrikaden den Zutritt nach Westberlin unmöglich machten und bei dieser Arbeit selbst von bewaffneten Polizisten und Soldaten bewacht wurden.“

Hier wird mir auch selbst noch einmal bewusst, welch ein Wahnsinn damals geschah mit der Teilung zuerst Berlins und dann Deutschlands. Und hier wird mir auch klar, dass das „niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ nur eine von unzähligen Lügen der Machthaber, egal ob in Osten oder Westen, ist. Und wie stark und mutig der Widerstand in der DDR um ´89 gewesen sein muss. Es ist gut und wichtig, dass diese Themen immer und immer wieder in der Literatur zur Sprache kommen.

Letztlich tritt unser Held Daniel eine Ausbildungsstelle an. Nicht wie gewünscht als Tischler, sondern als Buchhändler. Er will nebenher das Abitur an der Abendschule machen, doch auch das wird im verwehrt, da er die „falschen“ Antworten bei einer Befragung gibt. Auch in der Buchhandlung ist seine Stellung brüchig, da er nicht in die FDJ eintreten will. Doch lernt er dort ein Mädchen kennen „und damit begann eine andere Geschichte“, wie Christoph Hein so schön am Schluss schreibt.

Der Roman erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Tipp: Mein allerliebster Roman von Christoph Hein ist und bleibt Frau Paula Trousseau. Leuchtet!

Zur letzten Hein-Besprechung:

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Mariam Kühsel-Hussaini: Emil Klett-Cotta Verlag


„Eine Toteninsel ist Berlin, wenn man Angst hat.“

Ein Roman über Emil Cioran? Das interessierte mich. Cioran, ein rumänischer Philosoph (1911-1995), der mir vor allem wegen seiner Suizid-Gedanken, die er in vielen seiner Bücher auch schriftlich darlegte, faszinierte mich vor allem deswegen, weil er dann doch nie Suizid beging, sondern sogar sehr lange lebte. Vielleicht schützt es sogar vor dem tatsächlichen Begehen eines Suizid, wenn man sich hinreichend theoretisch damit befasst?

„Es tut wohl, auch nur zu denken, man könnte sich umbringen. Es beruhigt. Man atmet auf. Wenn man, so wie ich, ständig jenseits der Welt ist, bringt einen zumindest der Gedanke, man könne sich selbst abschaffen, auf ein Niveau der Lebenden zurück, ja führt einen dem Leben zu.“

Mariam Kühsel-Hussaini zeigt mir dann aber in ihrem Roman kurz eine andere Seite von Cioran, die ich noch nicht kannte. Sie erzählt über Ciorans Stipendienaufenthalt zunächst an der Humboldt-Universität Berlin im Jahr 1933, später in München und verknüpft dies mit der Geschichte des Chefs der damaligen Geheimpolizei, Rudolf Diels. Cioran fühlte sich vom Gedankengut der Nationalsozialisten angezogen. Es wäre interessant, dazu mehr Hintergründe zu erfahren. Doch das Buch handelt viel zu wenig von Cioran, sondern es überwiegen die Gräueltaten der SS und SA die mir zu oft zu detailreich und zu drastisch auserzählt werden.

Ich bekomme Cioran im Text nicht wirklich zu fassen, obwohl die Autorin ihn ja schon durch den Buchtitel in den Mittelpunkt stellt. Ich erfahre zu wenig über ihn. Nur ganz selten blitzen interessante Aspekte, meist philosophische Ideen auf, die ich dann auch sprachlich stark finde. Doch die meiste Zeit bleibt der Held in seinen Gedanken und Vorstellungen gefangen. Werden anfangs noch Begegnungen und Beziehungen zu Studenten beschrieben, verliert sich das im Laufe des Romans ganz.

„Mir wurde bewusst, in diesem Berlin der Theorien und der Ideale war ich nur ein Absteiger, ein Mensch ohne Geltung, ohne Teilhabe, ein Fremder, denn das Leben selbst war mir fremd und nur mit meiner unerschöpflichen Gabe der Geistesgestörtheit, die mir meine Mutter mitgegeben hatte, würde ich dieses ganze Dasein weiterführen können.“

Mitunter verzettelt sich Kühsel-Hussaini auch mit einem Wortschatz, der von poetisch bis pathetisch reicht. Oft steht die zierliche Sprache auch den inhaltlich grausamsten Szenen gegenüber. Da wird man hin und her geworfen. So verfährt sie auch mit dem Personal ihres Romans. Sprunghaft wechseln sich die Charaktere ab, mitunter geht es drunter und drüber. Und wenn ein kurzer Absatz über den jungen Josef Mengele mit einem über Carl Ossietzky und Hans Scholl konkurriert, frage ich mich, ob es nicht etwas zu viele Personen sind, die hier agieren. Ich hätte mir mehr Tiefe, vor allem bei Cioran gewünscht.

„Die Zeit ist meine einzige Heimat, ich bin kein Bewohner dieser Erde, ich betrachte sie, berühre ihr Glas. Ich lebe nicht, ich schaue das Leben an. Ich atme nicht, ich fange die Luft ein. Ich bewundere den Mond nicht, ich bemitleide ihn.“

Kurz werden Einzelschicksale angerissen: der Kommunist, der gefoltert wird, der jüdische Kunsthändler, der auf der Straße blind geprügelt wird. Otto, Medizinstudent, der Emil zu Beginn in Berlin als Stipendiat in Empfang nahm, wird im Laufe der Geschichte, weil drogenabhängig und (nicht offen) homosexuell, nun als SS-Mann als Aufseher und Peiniger ins KZ Dachau geschickt, um „clean“ zu werden. Heinrich Himmler kommt zu Wort und wir lesen von kruden Allmachtsfantasien. Rudolf Diels trifft mehrfach Adolf Hitler persönlich und klagt die grausamen Foltermethoden an. Er bringt wiederholt Männer hohen Dienstrangs vor Gericht, da sie sich nicht an geltende Gesetze halten, bis Hitler ihm irgendwann nicht mehr freie Entscheidungen zugesteht. Er steht hier im Roman fast noch als humanste Figur da, obwohl er sehr große Entscheidungsgewalt hat. Inwiefern das in der Realität so war, ist schwierig herauszufinden.

Ich finde es durchaus mutig aus diesen zwei realen Gestalten der Geschichte, die sich nie begegnet sind und die nichts verbindet, außer eine Zeit lang der Aufenthaltsort, einen fiktiven Roman zu machen. Für zart Besaitete und Sensible ist der Roman nicht zu empfehlen; und das liegt nicht an Ciorans Suizidgedanken, sondern vielmehr an der schlimmen Gewalt, die doch sehr viel Raum einnimmt. Mich hat das ziemlich abgeschreckt und ich habe mich gefragt, warum man als Autorin so etwas macht. Ich habe mich deshalb auch in den Zitaten auf die Cioran`schen Gedanken konzentriert, die mir sehr gefielen.

Der Roman erschien im Klett Cotta Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hier gibt es eine interessante Diskussion zum Buch, die meiner Meinung überwiegend auch entspricht:
https://www.swr.de/swr2/literatur/mariam-kuehsel-hussaini-emil-100.html

Andrea Scrima: Kreisläufe Literaturverlag Droschl

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„Wenn wir nur die Vergangenheit hinter uns bringen könnten und mit ihr die Fehler der Menschen, die uns erschaffen und dann beinah gebrochen haben, könnten wir glücklich sein.“

Es ist der zweite Roman der 1960 in New York geborenen und in Berlin lebenden Künstlerin Andrea Scrima. Nach Wie viele Tage , das mir sehr gefiel, lese ich nun „Kreisläufe“ und finde eine Art Ergänzung zum vorigen Roman vor. Ebenso wie zuvor ist es vor allem auch die Sprache, der Ausdruck innerer Vorgänge und Reflexionen, die Komplexität und die Vielschichtigkeit, die mir das Buch zu etwas Besonderem machen. Ging es zuvor vorrangig um die Lebenswege und Verortungen in der Vergangenheit und Gegenwart, wird nun einerseits die Beziehung zur Mutter und zum Vater thematisiert, aber auch die zum Lebensgefährten.

„Berlin war eine ganz eigene Variante von Nirgendwo; ich hatte meinen Platz unter den Außenseitern und Ausreißern der Stadt gefunden […] Ich redete mir ein, geblieben zu sein, um abseits des Kunstmarkts arbeiten zu können, in Wirklichkeit versteckte ich mich vor etwas, aber das war mir damals nicht bewusst.“

Die Künstlerin Felice lebt in Berlin und hat ihre erste Einzelausstellung in New York, ihrer Heimatstadt. Sie verbindet den Anlass ihrer Reise mit dem Besuch bei der Mutter. Der Vater ist bereits tot, die drei Geschwister an unterschiedlichen Lebensorten angekommen. Sobald sie das Haus betritt, umfängt sie die düstere Atmosphäre der Kindheit. Sie beschreibt gleich eingangs ganz wunderbar, was mit ihr passiert: Sie öffnet den Küchenschrank und findet Büchsen von Nahrungsmitteln vor, eine fällt ihr direkt entgegen. Und nun öffnet sich sinnbildlich eine nach der anderen, jede enthält Erinnerungen, die meisten davon sind keine schönen. Nach und nach und in vielen Zeitsprüngen gelangen wir tiefer in die Familie der Heldin. Anhand von einzelnen Ereignissen, zeigt sich das Bild immer deutlicher, das Bild einer dysfunktionalen Familie. Zwischen der unberechenbaren, manipulierenden Mutter und der Tochter herrscht ein gespanntes Verhältnis, das beide wie eine unsichtbare Mauer voneinander trennt. Jeder Versuch der Aussprache seitens der Tochter ist zum Scheitern verurteilt. Über eine Art Smalltalk geht es nie hinaus, die Mutter blockt, wo die Tochter sich Erklärungen und Anerkennung wünscht. Tatsächlich blitzt die Anerkennung dann einmal kurz hervor, als die Mutter, die Schwester und eine Nachbarin die Ausstellung Felices in der Galerie besuchen, obwohl es womöglich eher darum geht, diese mit dem Berühmtsein der Künstler-Tochter zu beeindrucken.

Zwischendurch erinnert sich Felice an die Zeit, als sie von zuhause auszog, an die Beziehung mit einem Mitstudenten, an die konzentrierte Atelierarbeit während des Studiums, diese magische Zeit, die immer auch mit Geldmangel verbunden war, aber auch ihr Schwangerschaftsabbruch wird thematisiert. Auch später beim Studium in Berlin öffnen sich manche Türen und Felice hat mehrere Ausstellungen an verschiedenen Orten Deutschlands.

„Meine Familie hatte mich aus der Bahn geworfen. Uns alle hatten unsere Familien aus der Bahn geworfen – Bobby, Rick, Sunny und mich – und die Kunst war unser Versuch wieder eine Ordnung herzustellen.“

Im zweiten Teil rückt der Vater in den Vordergrund, dessen Tagebuchkalender Felice nach dem Tod des Vaters findet und mit zurück nach Berlin nimmt. Sie entdeckt, dass der Vater an Depressionen litt und Psychopharmaka nahm, dass er fortweg arbeitete, um die 6-köpfige Familie zu ernähren. Ich spüre hier eine besondere Zuneigung der Tochter zum Vater; das Verhältnis scheint ein viel innigeres gewesen zu sein, als zur Mutter. Jeder Tagebucheintrag weckt Erinnerungen und ruft Bilder hervor; doch manches bleibt für immer im Dunklen. Scrima schreibt sich hier an den Tagebucheinträgen entlang, die meist nur aus kurzen Stichworten bestehen und auch keine spektakulären Ereignisse aufzeigen. Oft geht es um die Arbeit, manchmal ums Wetter oder neue Anschaffungen. Diese Art des Schreiben ist anders, als der erste Teil, der für mich persönlich ausdrucksstärker wirkte, weil sich die Sprache mehr ausdehnen darf. Auch Träume und ihre möglichen Deutungsvarianten spielen durchweg eine Rolle.

In beiden Teilen liegt auch immer wieder der Fokus auf der Partnerschaft mit Michael. Michael ist in der DDR aufgewachsen und wegen zu viel Widerstand und Eigenwillen gegen das System in einen Jugendwerkhof und in Haft gebracht worden. Die Geschehnisse haben in extrem traumatisiert, so dass er nach dem Fall der Mauer zunächst begeistert die neu gewonnene Freiheit nutzt, bald jedoch von der Vergangenheit wieder eingeholt wird und aus mangelndem Vertrauen immer mehr auf Rückzug geht. Auch Felice gegenüber. Gespräche sind kaum möglich. Scrima beschreibt hier sehr klar und eindringlich, wie stark die Veränderungen durch den Fall der Mauer, die Menschen, die in viel zu kurzer Zeit in einer vollständig anderen Staatsform leben sollten, verunsicherte und teils komplett aus der Bahn warf.

„Ich würde ihm (Anmerkung: dem Vater) erzählen, wie mit der Wiedervereinigung eine einzige entzweigerissene Psyche, deren eine Hälfte ihre schlimmsten Ängste auf die andere projizierte, in eine deutsch-deutsche Romanze verfiel, in einen plötzlichen Rausch, der die verheerenden Schäden verleugnete, die das Verschmelzen der beiden grundsätzlich verschiedenen Staaten an den Menschen der früheren DDR anrichtete, deren Land sich mit einer schwindelerregenden Plötzlichkeit in Luft aufgelöst hatte, mit allem, wofür es einst gestanden hatte.“

Die beiden bekommen einen Sohn und trotzdem bestreitet Felice fast allein den Lebensunterhalt mit Übersetzungen. Die Kunst bleibt dabei auf der Strecke. Erst mit der Trennung beginnt ein neues Kapitel, mit dem auch Sohn Max im Text in den Mittelpunkt rückt.

Der Roman ist sprachlich so gekonnt und formell so gut gelungen, dass ich einfach nur beeindruckt bin, wie die Autorin Erinnerungen so aufbereitet, dass sie literarisch leuchten. Dennoch hat mich die Geschichte, obwohl sie mich tief berührt, zeitweise ziemlich mitgenommen, da ich so einige Übereinstimmungen zu meinem eigenen Leben fand. Wenn Literatur so tief auf mich wirkt, ist das für mich doch immer ein großer Gewinn. Besonders intensiv und wunderschön zu lesen, fand ich die Sequenzen, in denen fast nichts passiert, die nur einen Augenblick einfangen, eine Betrachtung, eine Empfindung und diese dann durch Nachdenken und Nachspüren ausdehnen und ins Literarische überführen. Ein Leuchten!

„Kreisläufe“ erschien im Literaturverlag Droschl. Aus dem Amerikanischen übersetzt hat es Andrea Scrima selbst zusammen mit Christian von der Goltz. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Julia Franck: Welten Auseinander S. Fischer Verlag

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„Die einzige verlässliche Beziehung, die ich in meiner Kindheit entwickelte, war die zu meinem Tagebuch.“

Julia Francks Romane „Die Mittagsfrau“ und „Rücken an Rücken“ mochte ich sehr. In ihrem neuen Roman schreibt sie nun offen autobiographisch. Soweit ich mich erinnere ging es auch bereits in „Rücken an Rücken“ um Familienmitglieder (ich vermute Mutter und deren Bruder). Und angesichts dieses und vieler weiterer Romane, die ich in letzter Zeit las, bin ich immer wieder fasziniert, ja beinahe neidisch, aus welchen hochinteressanten, kreativen und künstlerischen oder zumindest aus der Rolle fallenden Familien die Autor*innen stammen und welche Tagebücher oder alte Briefe sie auf Dachböden oder im Nachlass finden.

Julia Francks Roman-Großmutter war eine in DDR-Künstlerkreisen bekannte Bildhauerin. Sie war eine Frau voller Energie, trotz ihrer Holocaust-Erfahrung. Sie wollte sich nach dem Krieg in den neuen Staat DDR einbringen. Sie versammelte zeitlebens berühmte Gestalten um sich, wie Wolf Biermann oder Nina Hagen u.v.m. Für Kinder hatte sie wenig übrig, dennoch verbrachte Julia mit ihrer Zwillingsschwester viele Sommer in deren Rahnsdorfer Haus, nahe Berlin. Auch Julias Mutter, eine Schauspielerin, hat so ihre Probleme mit Kindern, was mich während des Lesens immer wieder zu der Frage bringt: Warum zeugen und bekommen Menschen Kinder, wenn sie sie eigentlich nicht wirklich wollen und womöglich sogar weggeben? Julias Mutter hat immerhin drei Kinder, als sie ihren Ausreiseantrag aus der DDR stellt. Einer nach dem anderen wird abgelehnt. Die Zwillinge lebten teilweise in Heimen oder bei Pflegefamilien. Bis es nach Jahren endlich klappt mit der Ausreise in den Westen. Doch die lange Zeit im Aufnahmelager Marienfelde in großer Enge bringt für die Familie zunächst nicht die erhoffte Freiheit. Was vorab geflohenen Freunden gelang, schafft Julias Mutter nicht. Sie ist als Schauspielerin nicht mehr gefragt und lebt mit ihren nun vier Kindern in einem alten Bauernhaus im Norden Deutschlands von Sozialhilfe.

Wie die Hauptprotagonistin Julia dies schildert, zeigt den großen Mangel auf, der vor allem die Kinder trifft, die oft auf sich selbst gestellt sind. Die Mutter schafft es nicht, ihren Kindern Sicherheit und Liebe zu geben und die Kindheit ist von Armut geprägt, oft herrschen Chaos und Vernachlässigung. Julia flüchtet sich zunächst ins Bratschespielen, dann ins Lesen und bald ins Tagebuchschreiben. Sie muss früh selbständig werden und zieht bereits mit 13 von zuhause aus, was sie als ihre Rettung ansieht. In Berlin lebt sie bei Bekannten und kommt bald selbst für ihren Lebensunterhalt auf. Alles neben Schule und Studium. Wenn die Autorin aus Julias Tagebuch erzählt, geschieht das in der dritten Person, während die Geschichte sonst in der Ich-Form erzählt wird. Vielleicht um einen Gewissen Abstand zu wahren.

„Das Bratscheüben lehrte mich, dass auch Erwachsene irrten. Man kann alles lernen, wenn man es nur wirklich will, ist ein leeres Versprechen. Ein Irrtum. Zwischen Üben, Mühe, Anstrengung, Geduld einerseits und Erfolg besteht schlicht keine Korrelation. Die Musik war ein erstes Beispiel.“

Bald in einer linksbunten WG in Berlin lebend, überlegt sie auch zum ersten Mal ihren Vater kennenzulernen, der von Julias Mutter verlassen wurde. Sie treffen sich unregelmäßig, bis die tödliche Erkrankung des Vaters dem ein Ende setzt. Das hinterlassene Tagebuch gibt Julia Aufschluss über die komplizierte kurze Beziehung ihrer Eltern.

Als sie Stephan in der Schule kennenlernt, der aus einer wohlhabenden Familie stammt, entwickelt sich ganz langsam eine ernsthafte Beziehung. Sehr langsam beginnt Julia einem Menschen zu vertrauen. Wenn Stephan von sich erzählt, sieht Julia wie sie beide eigentlich Welten Auseinander lebten und leben. Und dennoch ziehen sie einander an. Nicht immer verstehen sie einander, aber das steht ihrer Verbindung nicht im Weg. Die Geschichte mit Stephan umklammert den Roman mit seinen Rückblenden und Erinnerungen und schimmert immer wieder funkelnd durch die Dunkelheiten.  Sprachlich ist die Geschichte durch mitunter kurze Sätze, die Gedankenfetzen ähneln, geprägt. Sie folgt auch keiner Chronologie. Eher folgt sie einem Bewusstseinsstrom, was ich für autobiographisches Schreiben und speziell in diesem Fall sehr stimmig finde.

Julia Francks Roman „Welten Auseinander“ erschien im S. Fischer Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Jenny Erpenbeck: Kairos Penguin Verlag

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Ich habe fast alle Bücher von Jenny Erpenbeck gelesen und schätze sie für ihre Sprache und ihren besonderen Blick, die Dinge zu betrachten. In ihrem neuen Roman, nach dem sehr erfolgreichen „Gehen, ging, gegangen“, erzählt sie in „Kairos“ eine Geschichte, die mich manchmal ziemlich zur Weißglut getrieben hat, nicht etwa sprachlich, sondern inhaltlich.

Kairos, der Gott des glücklichen Augenblicks

Eine Frau sitzt über zwei Kartons gebeugt und sortiert den Nachlass ihres ehemaligen Geliebten und sie erinnert sich:

Es ist 1986 in Ostberlin. Katharina, 19, die eine Setzerlehre in einem Verlag macht, um später Gebrauchskunst zu studieren, begegnet eines Tags im November an der Bushaltestelle Hans, einem über 30 Jahre älteren verheirateten Schriftsteller. Die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Es beginnt eine Beziehung, die meiner Meinung nach nur anfangs Liebesgeschichte ist und sich schließlich vor allem aufgrund der narzisstischen Persönlichkeit von Hans in eine höchst toxische Beziehung verändert. Wie Erpenbeck diese Beziehung beschreibt, machte mich sprachlos, wütend und letztlich verständnislos. Ich wollte den beiden zurufen: Lasst es! Trennt euch! Es tut keinem mehr gut! Doch scheinen die beiden in einer besonderen Form der Abhängigkeit vom jeweils anderen festzuhängen, die sich durch Schuldzuweisung und einer Art Hörigkeit, sowohl sexueller als auch emotionaler Natur zeigt und verstärkt. Gleich eingangs zeigt sich die Verschiedenheit der Blickwinkel, sicher auch durch den Altersunterschied bedingt:

„Nie wieder wird es so sein wie heute, denkt Hans. So wird es nun sein für immer, denkt Katharina.“

Wenn es nur um diese Liebe gegangen wäre, hätte ich das Buch sicher bald zur Seite gelegt. Aber Erpenbeck ist eben eine großartige Erzählerin und sie weiß die Geschichte so zu erzählen, dass sie gute Literatur wird. Neben dem Paar ist außerdem auch die Stadt Ostberlin Hauptprotagonist. Überhaupt ist es auch die Stimmung der letzten Jahre der DDR und es sind vor allem auch die starken Schilderungen des kulturellen, intellektuellen Lebens, welche das Paar miteinander teilt, die Orte an denen sie sich treffen, das Restaurant Ganymed oder das Cafe Tutti. Beide sind kultur-, kunst- und musikinteressiert. Etwas, was sie meiner Meinung nach auch stark verbindet sind eben Gespräche über dieses oder jenes klassische Musik- oder Theaterstück. Zumindest ist es das, was die Beziehung anfangs festigt.

„Katharina sitzt im Café Arkade und wartet auf Hans. Seltsam denkt sie, dass die Zeit, die an sich unsichtbar ist, nur indirekt sichtbar wird in dem, was an Unglück geschieht. So, als sei Unglück das Gewand der Zeit. Aber gleichzeitig, denkt sie, ist dieses Unglück auch nicht nur eine Hülle, sondern selbst ein Inneres, ein Wesen, das, einmal geboren eigener Wege geht und seine eigene Zeit hat. Denn seltsam bleibt es, denkt sie, dass sie auf Hans` Enttäuschung seit beinahe einem Jahr nicht den geringsten Einfluss nehmen kann.“

Als Katharina in Frankfurt/Oder ein Praktikum am Theater als Bühnenbildnerin macht, hat sie eine kurze Affäre mit einem Kollegen. Als Hans das zufällig herausfindet, beginnt eine seltsame Szenerie der Schuldzuweisungen und Abhängigkeiten. Er, der selbstverständlich verheiratet nebenher eine Geliebte haben kann, verurteilt Katharina und bindet sie im Namen einer „Aufarbeitung und Wiedervertrauensgewinnung“ vollkommen an sich. Waren es zuerst zahlreiche Briefe von Hans, so sind es nun Cassetten, die er für sie bespricht, in denen es Vorwürfe hagelt und die wie ein Tribunal wirken. Eine sehr ungesunde Entwicklung, der sich Katharina zwar immer wieder zu entziehen versucht, – sie geht eine kurze lesbische Beziehung ein und schläft mit einem Freund – die sie letztlich aber erst nach mehreren Jahren und zwei kurzen Trennungen dauerhaft beenden kann. Erst als auch die DDR sich in Auflösung befindet und sie leider in der Fusion mit Westdeutschland endet. Katharina, die den Westen nicht nur als Wohltat empfindet, sondern auch als Gefahr, wundert sich (ebenso wie ich heute noch), weshalb nicht der Versuch „o-ton Christa Wolf: … in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln„,  stattfand, wieso der Übergang (die Übernahme?) allzu schnell gehen sollte.

Die Autorin hat großes Geschick darin zu hinterfragen, zu beobachten, zu reflektieren und hinein zu spüren. Abwechselnd wird aus Katharinas und Hans` Perspektive erzählt, zusätzlich kommen noch die inneren Gedankenvorgänge und sowie im Fall von Hans, der während des zweiten Weltkriegs Kind war, die Erinnerungen aus seiner Vergangenheit, als die DDR voller Hoffnung neu entstand. So ist Jenny Erpenbecks neuer Roman eben viel viel mehr als die Geschichte einer unguten Beziehung, sondern ein Berlin- und ein DDR-Roman, aber eben auch ein sprachlich gelungenes perfekt komponiertes Leseereignis. Mich hat er auch an sehr persönliche Erfahrungen bei DDR-Verwandten-Besuchen und aus der Wendezeit erinnert. Große Empfehlung!

Kairos erschien im Penguin Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere Besprechung gibt es bei Zeichen & Zeiten.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Hari Kunzru: Red Pill Liebeskind Verlag

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Welch ein Roman! Er stellt die große Frage: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

„Das Sonnenlicht war kein Sonnenlicht, sondern Code, das visuelle Ergebnis unglaublich komplexer Berechnungen. Der Baum, das Geländer, der schnüffelnde Hund, alles war modelliert, eingefärbt, strukturiert und ausgeleuchtet, um möglichst lebensecht zu wirken. Nichts davon hatte vor meinem Hinsehen existiert, …)

Red Pill kommt auf jeden Fall auf meine diesjährige Bestenliste. Es ist mein erster Roman von Hari Kunzru und ich bin begeistert von seiner Sprache und den komplexen philosophischen Gedankengängen. Dass er hochliterarisch und nicht plakativ und künstlich aufgeblasen, wie derzeit so oft, brisante politische Themen aufgreift, macht diesen für mich noch bedeutender. So sieht gute Literatur aus.

Ein amerikanischer Schriftsteller hat ein Stipendium einer Berliner Kulturstiftung am Wannsee erhalten. Es kommt ihm zupass, denn zuhause kriselt es gerade etwas mit Frau und Kind, er selbst steckt in einer Sinnkrise und er hofft dort wieder gut ins Schreiben und Leben zu finden. Doch die Stiftung, die sich Transparenz und Weltoffenheit auf die Fahnen schreibt, wird für ihn eher zu einer Art Gefängnis. Er soll im großen gläsernen Arbeitsraum mit den anderen Stipendiaten schreiben und das geht für ihn gar nicht. Er muss dafür allein sein. Gleich mit dieser ersten Beschwerde eckt er bei den Betreibern der Stiftung an. Er müsse sich nur öffnen und darauf einlassen. So versucht er auf seinem Zimmer zu arbeiten, doch lässt sich immer wieder ablenken. Er trifft bei langen Spaziergängen auf das Kleist-Grab und beschäftigt sich fortan mit der Lektüre seiner Werke und den Umständen des Suizids. Die Mahlzeiten mit den anderen Stipendiaten sind für ihn eine Qual, da er von seiner Arbeit kaum etwas berichten kann. Oft sitzt er im Zimmer und konsumiert eine brutal-gewalttätige Fernsehserie, zugleich angezogen und angewidert. Er denkt über das Böse nach. Was, wenn dunkle Mächte die Welt zunehmend beherrschen? Wenn die Katastrophe direkt bevorsteht?

Dass er kurze Zeit später zufällig auf einer Berlinale-Party in Berlin, auf die ihn zwei Kollegen mitschleppen, auf den Regisseur jener Serie, Gary Bridgeman, auch Anton genannt, trifft und sogar mit ihm ins Gespräch kommt, findet er zunächst hoch interessant. Doch im weiteren Verlauf des Abends, der in einem Döner-Imbiss in Kreuzberg mit illustren Begleitern endet, gerät er ins Abseits: Er wird real mit den merkwürdigen Theorien des Regisseurs konfrontiert, die ziemlich rassistisch und identitär sind und die dessen Begleiter direkt an ihm ausprobieren. Erschüttert macht er sich auf den Rückweg zum Wannsee. Doch auch dort lässt ihn Anton nicht los. Er recherchiert alles, was er über Anton im Netz finden kann.

Im Haus geschehen seltsame Dinge: Werden die Stipendiaten tatsächlich mit versteckten Kameras beobachtet? Ist er der einzige, der das bemerkt? Warum werden seine Arbeitszeiten am Computer kontrolliert? Der Kontakt zu seiner Frau in New York wird immer sporadischer. Als dann auch noch Anton unter einem falschen Namen am Wannsee auftaucht, und sich vermeintlich für die Historie des Wohltäters der Stiftung interessiert, und sich vom Leiter des Hauses alles zeigen lässt, brennen die Sicherungen unseres Helden durch. Er fühlt sich verfolgt und gleichzeitig angezogen. Statt vorzeitig nach Hause zu fliegen, wie es seine Frau sich wünscht und die Stiftung es mittlerweile verlangt, da er beständig gegen die Regeln des Hauses verstößt, fliegt er nach Paris, weil Anton dort einen Film vorstellen wird. Dort kommt es in einem Kino zu einer kurzen scharfen Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit, bei der unser Held wegen seiner unbequemen Fragen rausfliegt.

„Meine üppige Geistesausstattung, meine Feinfühligkeit, meine Intelligenz und mein Geschmack, alles würde zu Asche und Staub. Und so würde es allen auf dieser Welt gehen. Die Zerstörung der Kultur war nur der Anfang. Sinn und Bedeutung würden als Artefakte einer Zeit entlarvt werden, die hinter dem Vorhang der Geschichte verschwand. Danach würde es nur noch Funktion geben.“

Er recherchiert weiter und findet im Netz einige Gruppen, die die rechten Theorien Antons verbreiten und Vorbereitungen treffen, um nach der Macht zu greifen. Er hat Angst, dass die Demokratie in Gefahr ist. Er zweifelt an sich selbst und daran, dass er seine Familie schützen kann. Auf Anrufe seiner Frau reagiert er indes gar nicht mehr. Als er glaubt, den nächsten Aufenthaltsort Antons gefunden zu haben, ja, dass dieser ihm Zeichen gibt, reist er dorthin, um das Schlimmste zu verhindern. In einer schottischen Wanderhütte kommt es dann nicht etwa zu einem Treffen mit Anton, sondern mit der Polizei …

Kunzru lässt uns an der Seite seines Protagonisten in eine verwirrende Welt eintauchen, bei der nicht mehr ganz klar ist, ob der Held sich diese zusammenspinnt oder ob sie der Realität entspricht. Dieser verstrickt sich immer mehr in eine Geschichte, die böse enden kann, für ihn und damit auch für seine Familie. Er glaubt, dass es in dieser Welt bald keine Menschlichkeit mehr geben wird, dass Macht und Gewalt herrschen werden, dass demokratisches Denken bald von faschistischem abgelöst wird und dass Kultur und Kunst langsam verschwinden werden, dass die meisten Menschen, neben einer kleinen Elite zu Untertanen werden.

Und mit solch einem Szenario liest sich dieser Roman mitunter zwar wie eine unrealistische Dystopie, aber andererseits auch wie ein womöglich nicht auszuschließendes Schreckensbild einer nahen Zukunft. Dass am Ende des Romans (unser Held ist inzwischen wieder zuhause in den USA) der von den meisten ausgeschlossene Wahlgewinn Donald Trumps bei der Präsidentschaftswahl 2017 in den USA steht, kommt nicht von ungefähr. Manche Horrorszenarien treten also doch ein. Und in diesem Sinne wirkt auch das eingeschobene Kapitel, in dem eine ehemalige DDR-Punkerin, nun Reinigungskraft in der Stiftung, dem Schriftsteller aus ihrer Zeit erzählt, als Stasi-Überwachung ihr Leben bestimmte und sie gleichzeitig vom individuellen Leben abhielt, zu einem stimmigen Teil des Romans. Es gab und gibt Diktaturen. Und die Sorge um die Demokratie ist aktueller denn je.

„Meine Ärzte waren grundsätzlich Diener des Status Quo. Ihre Arbeit fußte auf der Annahme, dass die Welt erträglich ist, und jeder, der es anders sieht, sollte lernen oder medikamentös dazu gebracht werden, sie zu akzeptieren. Aber was, wenn sie es nicht ist?“

(Diese Fragestellung lässt mich auch kleine Parallelen zu dem aktuellen französischen Roman „Die Anomalie“ finden, der mit ähnlichen Szenarien für Spannung sorgt.) Für mich ist Kunzrus Roman jedenfalls ein wirkliches Highlight; ich kann seiner Sprache, der gelungenen Konstruktion und dem melancholischen Unterton viel abgewinnen. Ich bekam vielfältige philosophische Lektüre- und Denkanregungen und fühlte mich direkt angesprochen. Ein Leuchten!

Der Roman des 1969 in London geborenen Autors erschien im Liebeskind Verlag. Aus dem Englischen übersetzt hat es Werner Löcher-Lawrence. Eine Leseprobe gibt es hier.

Dag Solstad: [ 16.7.41 ] Dörlemann Verlag

Das neu übersetzte Buch von Dag Solstad trägt als Titel das Geburtsdatum des großen norwegischen Schriftstellers. Bereits dies weist darauf hin, dass es diesmal um den Autor selbst geht, dass er diesmal viel über sich selbst schreibt. Ich bin seit meinem Solstad-Leseprojekt großer Fan des Norwegers und tauchte gleich mit dem ersten Kapitel in den typischen Solstad-Space ein, Fußnoten inbegriffen.

Solstad erzählt von einem Flug nach Frankfurt am Main zu einer Veranstaltung der Buchmesse im Jahr 1990. Er fliegt dabei mit Zwischenstop Kopenhagen, da es keine Direktverbindung von Oslo gibt. Vor der Ankunft fliegt der Pilot ewig, wie es scheint, in Kreisen in der Warteschlange, um die Landegenehmigung zu erhalten. Hier beginnt Solstad sich in die Wolkendecke, über der der Flieger schwebt, zu versenken. Die Gedanken reichen so weit, dass er beginnt sich Engel und andere Himmelsgestalten auf den Wolken vorzustellen. Er driftet in ein vollkommen von der Erde losgelöstes Universum einer beinah religiösen Fantasie. Als er aus dieser endlich wieder auftaucht, weil die Maschine den Landeanflug begonnen hat, merkt er, dass er über Berlin fliegt und in Tegel landet. Die Durchsagen, dass die Maschine nicht in Frankfurt landen kann, hatte er aufgrund seiner Träumereien überhört. Es ist Solstads erste Begegnung mit Berlin.

„Fußnote 1
„Wie immer bin ich derjenige, der das hier schreibt. Doch wer ist derjenige, der sich in der internationalen Abflughalle des Flughafens Fornebu befindet, um mit einem SAS-Flug nach Frankfurt am Main zu reisen? Ich bin derjenige, der schreibt. Ich, der das hier schreibt, sage, der Mann am Flughafen ist derjenige, der schreibt. Also ich. Mein >nacktes< Ich. Ich denke zurück an mich in Fornebu an einem Oktobertag 1990 und schreibe diesen Text. Das liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück.“

In Berlin geht es dann auch im folgenden Kapitel weiter, allerdings 10 Jahre später. Solstad lebte mehrere Jahre in Berlin Kreuzberg am Maybachufer. Warum, weiß der Autor selbst nicht genau. Es folgen Beschreibungen der Stadt und der Spaziergänge, auf die uns der Autor mitnimmt. Da ich selbst hier wohne, ist mir vieles bekannt. Ich selbst kam 2004 nach Berlin, so kenne ich auch das Berlin dieser Zeit noch. Leider schlägt der Autor hier einen Erzählton an, der sich anhört, als würde mir ein allwissender Reiseführer Teile Berlins zeigen und den geschichtlichen Hintergrund dazu erzählen. Ich vermisse hier ganz klar die besonderen Eigenheiten in der Art der vorherigen Romane, die ich extrem gut finde. Mir sind diese Beschreibungen zu wenig aussagekräftig.

Dann wechselt der Schauplatz. Solstad schreibt über einen Vortrag, den er in Lillehammer hält. Dieser Vortrag über das Romaneschreiben und wie Solstad, der beinahe 60-jährige, sich das gegen Ende seiner aktiven Zeit als Schriftsteller vorstellt, findet sich dann auch komplett im Buch. Von Lillehammer reist der Autor in seinen Heimatort Sandefjord. Auch dort begleiten wir in wieder auf seinen Wegen. Er ist zu einem Klassentreffen eingeladen, findet aber die Lokalität nicht, in der die Festgesellschaft stattfinden soll. Die Suche gestaltet sich skurril, auch in Anbetracht des zunehmenden Alkoholpegels des Helden. Erst ganz spät am Abend, es ist beinahe Nacht, bemerkt er beim Spazieren durch die Stadt in seinem ehemaligen Elternhaus durchs Fenster seine Klassenkameraden feiern und tanzen. Trotzdem gelingt es ihm nicht, Zugang zu finden …

Hier ändert sich wieder der Tonus von Solstads Schreiben und das Blatt wendet sich zurück in die Vergangenheit. Ab hier bin ich wieder ganz dabei. Solstad erzählt anhand eines Kindheitserlebnisses von seinem Vater. Und das ist zutiefst berührend. Womöglich ist das das Neue, was in diesem Roman passiert: das erste(?) Mal schreibt Solstad über seine Herkunft, über seine Familie. Das gelingt im perfekt. Der Vater wird zum Zauberer für den kleinen Jungen, ja, zum Erfinder, dem es letztlich doch nicht gelingt das Perpetuum Mobile zu konstruieren und der sich dafür hoch verschuldet hatte. Der Vater, der Fragen immer ehrlich zu beantworten wusste, der einzig den Sohn in sein Vorhaben einweihte. Ein chronisch Kranker, der leider zu früh starb. Und so schließt sich auch der Kreis, der eingangs mit dem Kreisen des Flugzeugs begann und der Vorstellung des Vaters auf einer Wolke im Himmel.

„Eigentlich bin ich schon zu weit gegangen. Ich habe eine Lücke in meinem Bewusstsein gefunden und sie genutzt oder ausgenutzt, um mir Zugang zur Ewigkeit zu verschaffen, für einen kurzen Augenblick, weil ich meinen Vater auf diese Weise wiedersehen wollte.“

Und so bin ich wieder versöhnt am Ende des Buches, dass für mich auch ohne das Berliner Kapitel gut, wenn nicht sogar besser, funktioniert hätte. Nach den Phasen, in denen Solstad politische Literatur schrieb, dann teils skurrile Romane, kommt womöglich jetzt eine Phase der persönlichen Innenschau. Um Solstads Literatur kennen zu lernen empfehle ich dennoch mit anderen Titeln von ihm zu beginnen. Siehe mein zweiteiliges Solstad-Leseprojekt.

Der Roman „16.7.41“ erschien, wie alle anderen auch, im Dörlemann Verlag. Übersetzt hat es wie immer Ina Kronenberger. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

 

Stephen Uhly: Finsternis Secession Verlag

Stephen Uhly ist ein höchst interessanter Erzähler. Seine Stories könnten verschiedener nicht sein, und sie überraschen immer. Sein letzter Roman „Den blinden Göttern“ hat mir auch vor allem wegen des Themas Lyrik gefallen, aber eben auch weil er so abgedreht ist. Dem steht „Finsternis“ in nichts nach. Obgleich der neue Roman als eine Art Krimi angelegt ist, zudem mit einem Thema, das ich durchaus heikel finde, bin ich in kürzester Zeit in dieser spannenden Story verschwunden. Die 200 Seiten habe ich an einem einzigen Tag absolviert.

Man darf über den Inhalt eigentlich gar nicht viel verraten, weil sonst die Spannung wegfällt, die die Geschichte trägt. Also relativ kurz diesmal:

Schauplatz Berlin: Der junge Kriminalbeamte Abid Malik wird zu einem Tatort gerufen. Eine weibliche Leiche um die 60 wurde auf einer Trage auf einer Brachfläche in einem belebten Berliner Kiez abgestellt. Mit seinem erfahrenen älteren Kollegen und Freund Jan West arbeitet er an der Aufklärung des Falles. Was man schnell herausfindet, ist, dass die Tote in der BDSM-Szene unterwegs war. Das stellt die Pathologie anhand des Zustand des Körpers fest. Was man nicht herausfindet, ist die Identität der Toten. Die beiden Ermittler versuchen den wenigen Hinweisen, die sie haben nachzugehen, kommen jedoch nicht weiter. Als Jan ein anonymes Video zugeschickt bekommt, nimmt die Geschichte eine hochspannende Wende. Jan und Abid beginnen ab nun in einer geheimen „Mission“ alleine weiter zu ermitteln, die wahrhaftig in die Finsternis führt.

Kripo-Chef Ballmann fällt währenddessen die zunehmende Unruhe und Abwesenheit Abid Maliks auf und er schickt ihn zu einer Polizei-Psychologin. Das Buch beginnt mit der ersten Sitzung der beiden und so erfährt die Leserin nach und nach in 12 Gesprächen die unheimliche Geschichte der versuchten Aufklärung der Tat, die Abid extrem zusetzt und die er sichtlich schlecht verarbeiten kann. Dabei gelingt es Uhly sehr geschickt, die inneren Zerwürfnisse und Selbstzweifel Abids aufzuzeigen. Er, der anfangs ein souveräner von seiner Arbeit und deren Sinn vollkommen überzeugter Kriminalbeamter war, hinterfragt seine Tätigkeit.

„Wenn ich als Polizist anfange, das Verhalten der Bürger zu beurteilen, hebe ich de facto die Gewaltenteilung auf. Ich mache mich zum Richter. Der Staat funktioniert aber nur, solange die Exekutive nicht damit beginnt, die Kompetenzen der Judikative auszuüben. Das erfordert Disziplin. Dafür wurden wir ausgebildet.“

Unter seiner ausufernden Arbeit leidet auch seine Frau und die beiden Kinder. Jan gegenüber zeigt er absolute Loyalität, auch als dieser die Grenzen seiner Zuständigkeit als Beamter schließlich überschreitet. Seiner Frau gegenüber bleibt er verschlossen. Die Psychologin Dr. Roth kann ihn zunächst durchaus unterstützen, bleibt aber im Verlauf von Abids Erzählung nicht unberührt. Ohne Supervision und mit eigenen Problemen belastet, gerät sie selbst an die Grenzen der Professionalität und unterläuft schließlich das Berufsethos.

Uhly gelingt es in dieser abgedrehten Geschichte in teils bizarrer Szenerie wichtige philosophische Fragen einzubinden: Wie frei sind wir wirklich? Was bedeutet Freiheit für jeden Einzelnen? Was bedeutet absolute Loyalität?

„Als du Polizist wurdest, unterschriebst du deinen Vertrag, mit dem du deine Macht zugunsten der Staatsgewalt aufgabst. Seitdem handelst du nicht als Jan West, sondern als Staatsdiener, nicht wahr? Aber wer ist Jan West, der Staatsdiener? Jan West, der Staatsdiener, ist ein Unfreier, der in der Lage ist, seine Unfreiheit aufzugeben und gegen eine andere Unfreiheit einzutauschen. Darin besteht deine einzige Freiheit.“

Ob das Ende dann am Ende tatsächlich so war, hinterfragt der Autor durch seinen Helden Malik und bietet Varianten des Möglichen an.

Der Roman erschien im Secession Verlag. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Besonders erwähnenswert finde ich bei Büchern aus dem Secession Verlag immer die ästhetische Aufmachung. Hier findet sich echter Leineneinband, Lesebändchen, Fadenheftung und Druck auf hochwertigem feinem Papier, dass beim Umblättern ein haptischer Genuss ist. Auch Satz und Schrift heben sich frisch und besonders ab.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

 

Laura Lichtblau: Schwarzpulver C. H. Beck Verlag

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Dieser Name! Schon wegen des wunderbaren Namens der Autorin musste ich mich für diesen Debütroman interessieren. Auch die Covergestaltung finde ich sehr gelungen. Laura Lichtblau hat mich mit „Schwarzpulver“ dann tatsächlich mit ihrer gekonnten poetischen Sprache begeistert (im wahrsten Sinne des Wortes). Zunächst fand ich die Idee der Story spannend: Schauplatz Berlin, womöglich nicht so viele Jahre in der Zukunft. Eine Dystopie (hoffentlich!), denn man wünscht sich wahrhaftig keine Bürgerwehr, keine Partei wie diese an der Macht und keine solchen Verbote und Verhaltensregeln. Man wünscht sich aber solche Charaktere, wie sie Lichtblau erschafft. Ganz unterschiedlich und auf eigene Weise sensibel und aktiv dagegen.

Die Geschichte hat etwas Verspieltes, Leichtes, trotz der unschönen Realität in der sie sich ereignet. Sie hat von Anfang an ein Geheimnis, das auch im Laufe des Lesens nur durch Andeutungen aufscheint. Lichtblau glänzt mit ihrer Gabe und zählt auf die Fantasie ihrer Leser*innen.

Ihre drei Hauptfiguren agieren gleichwertig, sie lässt sie abwechselnd zu Wort kommen:  Burschi, eine junge Frau, auf dem Land aufgewachsen, die in einer WG wohnt und ein altes Ehepaar betreut. Charlie, ein junger Mann, der ein (natürlich unbezahltes) Praktikum bei einem angesagten rebellischen Musiklabel macht, in der Hoffnung selbst als Talent entdeckt zu werden. In Wirklichkeit ist er Mädchen für alles. Charlie, eigentlich Karl, lebt noch bei seiner Mutter Charlotte (den Vater kennt er nicht), die ihm keine Chance zur Abnabelung lässt. Sie arbeitet als Scharfschützin in der Bürgerwehr. Hier wird man zum ersten Mal stutzig, denn die Autorin beginnt sehr langsam aber stetig die neuen Errungenschaften der Politik in die Geschichte einfließen zu lassen.

„Die Konditionen dieses Schießcamps überzeugen mich einfach, hatte sie Tante Liese und Onkel Gabriel erklärt, Es gibt zwanzig verschiedene Waffen zur Auswahl, die Proteinshakes sind auch inklusive.“

Eigentlich steht Charlotte gar nicht hinter ihrem neuen Job, ist eigentlich eher eine Alternative, die vorher einen Töpferladen hatte und an die Alt-68er erinnert.

Die Autorin hat eine absolut sichere Hand, ihre Held*innen liebenswert schrullig darzustellen. Mit wenigen Worten lässt sie sofort ein Bild entstehen. Überhaupt hat sie einen genialen erfrischenden trockenen Humor, der das ganze Buch durchzieht und gleichzeitig weiß sie sicher mit Sprache umzugehen und mit Sprachspielereien bunte Szenarien zu zaubern. Da gibt es beispielsweise einen Anita-Augspurg-Platz, einen zentralen Platz, wie es der Alexanderplatz ist, ein Platz also nach einer Aktivistin der bürgerlich-feministischen Frauenbewegung und Pazifistin benannt. Da gibt es altmodische, fast vergessene Worte, etwa das wunderbare „tramhappert“, was wohl soviel wie schlaftrunken bedeutet. Oder:

„Am Tisch sitzen junge Männer mit feisten Gesichtern, die aussehen, als hätten ihre Mütter sie abgeleckt, ehe sie sie nach draußen gelassen haben.

Es ist die Zeit um Weihnachten und Neujahr, eine aufgeladenen Zeit. Es sind die Raunächte, in denen laut alter Tradition die „Wilde Jagd“ unterwegs ist. Geheimnisvolle Geisterwesen, die nicht unbedingt nur Gutes wollen. Für Burschi wird es eine aufregende Zeit, denn sie begegnet der geheimnisvollen Johanna (die nach Schwarzpulver riecht). Die beiden fühlen sich sofort magisch zueinander hingezogen. Im Weg steht bei der ersten Begegnung nur die Bürgerwehr, die auf Johanna allerdings kaum Eindruck macht. Die Silvesternacht verbringen sie zusammen:

„Konkrete Fragen nach deinem Woher sind deiner Laune überhaupt nicht zuträglich, du bist ein ungefähres Wesen, scheint mir.“

Auch Charlie begegnet nach unzähligen Praktikantendiensten auf der Silvesterparty des Labels seinem Glück in Form der angebeteten Rapperin „Pseudoluchs“. Nur für Charlotte läuft der Jahreswechsel nicht so gut. Als sich die Wege der drei Hauptakteure schließlich unerwartet in der Silvesternacht im U-Bahnschacht kreuzen, ist es eine eher absurde Begegnung, die für Charlies Mutter Charlotte zum Desaster wird.

Was ich hier über das Buch schreibe, wirkt womöglich unspektakulär, vielleicht gar wirr oder seltsam. Aber: es hat eine unglaubliche Strahlkraft! Man muss es selbst lesen. Trotz der schlimmen Entwicklungen: es gibt selten mehr Tageslicht, weil die Sonne die Umweltgifte nicht mehr durchdringt. Die Regierungspartei hat sich rechtes Gedankengut angeeignet. Es gibt Fremdenfeindlichkeit und Homophobie. Der Feminismus wird zurückgedrängt. Obwohl man eigentlich schreien möchte, bitte nicht so ein furchtbar düsteres Szenario, lohnt sich dieses Buch so sehr, aufgrund seines schwer greifbaren Charmes, seiner kaum erklärbaren Anziehungskraft und immer wieder dieser Sprache. Hier ist alles rund, alles passt zusammen, alles fügt sich. Ich habe in diesem Jahr noch keinen anderen Debütroman gelesen und weiß dennoch, dass dieser vermutlich mein Favorit bleiben wird. Ein Leuchten!

Der Roman erschien im C. H. Beck Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere Rezension findet sich auf dem Blog letteratura.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Andreas Schäfer: Das Gartenzimmer Dumont Verlag

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Andreas Schäfers neuer Roman „Das Gartenzimmer“ erzählt die Geschichte eines Hauses. Ein junger Architekt, Max Taubert (teils angelehnt an den realen Architekten Max Taut?), verwirklicht gleich anfangs seiner Laufbahn ein ungewöhnliches privates Hausprojekt in Berlin, das ihn auch eng an die Personen bindet, die ihn beauftragten und nun darin leben. Entstanden ist das Haus bereits vor dem ersten Weltkrieg und wir erleben die Entwicklung von 1908 bis in die heutige Zeit ins Jahr 2013. Alle Bewohner beschäftigt oder beeinträchtigt dieses Haus auf jeweils eigene Art und Weise …

In diversen Zeitsprüngen, die durch die Jahreszahl als Kapitelüberschrift gekennzeichnet sind, geht es im Roman kreuz und quer, recht verwirrend. Es entsteht dadurch keine Spannung, wie das normalerweise bei dieser Technik der Fall ist, sondern eher viel Unklarheit, auch bezüglich der handelnden Personen, die zudem für mich auch kaum Tiefe besitzen. Die weiblichen Protagonisten empfinde ich als klischeehaft dargestellt. Die Männer sind durchweg unsympathisch. Zudem wurde mir beim Lesen langweilig.

Trotzdem las ich weiter, immer in der Hoffnung es würde noch die Kehrtwendung kommen, die mich vom Buch überzeugt. Doch trotz der vielversprechenden Ansätze von Erzählsträngen finde ich den Roman nicht gelungen. Zu viele Personen werden vorgestellt, ihr Schicksal kurz angerissen, aber nicht hinreichend auserzählt. Das ist schade, denn so manche Person scheint mir durchaus interessant und erkundenswert. Wie etwa Julius Sander, der offenbar im „Gartenzimmer“ des Hauses, dass die Nazis beschlagnahmten und zum Eugenik-Labor ausbauten und für ihre furchtbaren Experimente nutzten, selbst Schreckliches erlebt hat. Auch über die Lebensgeschichte des Architekten selbst hätte ich gerne mehr gelesen. Für mich ergibt sich aus diesen unzähligen Windungen letztendlich kein stimmiges Ganzes.

Dabei fand ich den Erzählstrang um die Familie Rosen, die das Haus in Auftrag gab und 1909 einzieht, noch am Interessantesten. Nach meiner Ansicht wäre es sinnvoller gewesen, sich auf deren Geschichte zu beschränken. Doch gibt es eine Menge übersprungene Zeit, bis die Geschichte wieder zur Zeit des Nationalsozialismus andockt. Aber auch hier gibt es viele Ungereimtheiten und vage Andeutungen. Der Strang, der in der heutigen Zeit ab 2001 spielt hat mich eher gelangweilt. Man lernt die neureiche Familie Lekebusch kennen, die das inzwischen unter Denkmalschutz stehende Haus renovieren lässt und neu bezieht. Aber ich finde keine Verbindung zu ihr. Auch wird nie genau klar, weshalb die Bewohner, das Haus als unheilbringend empfinden. Mir scheint eher, die Protagonisten leiden an sich selbst oder ihrer Lebensüberdrüssigkeit.

Zu guter Letzt hätte nur noch die Sprache diesen Roman für mich retten können, doch auch sie ist unauffällig (was schon daran zu merken ist, dass ich nichts zu zitieren fand). Sehr schade, dass das Potenzial dieser an sich guten „Haus“-Idee nicht genutzt wurde. Kein Leuchten, sorry!

„Das Gartenzimmer“ erschien im Dumont Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Zwei weitere Blogs sind deutlich mehr angetan von diesem Buch:
Buch-Haltung und Fräulein Julia

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.