Michael Köhlmeier: Frankie Der Hörverlag


Michael Köhlmeier, der große österreichische Erzähler und Ehemann der Schriftstellerin Monika Helfer, hat nach vielen großen und kleineren Büchern nun wieder einmal einen Roman herausgegeben, der mich neugierig machte. Ich habe hier das Hörbuch gewählt, weil Köhlmeier selbst eingelesen hat und ich seine Stimme mit dem leichten Dialekt sehr schätze.

Es geht um den 14jährigen Frank, der mit seiner alleinerziehenden Mutter in Wien lebt. Als der Vater seiner Mutter nach 18 Jahren wegen guter Führung früher aus dem Gefängnis entlassen wird, ändert sich für die beiden, die in einer gut funktionierenden Routine zu zweit bestens zurechtkommen, alles. Und nicht zum Besseren. Bereits als die beiden ihn nach der Entlassung abholen und er einige Nächte bei ihnen verbringen muss, ändert sich die Stimmung zunehmend in Anspannung. In Andeutungen nur erfahren wir, dass der Großvater womöglich einen Mord begangen hat. Die Mutter hat merklich Angst vor ihm und Frank wird von ihm gleich vereinnahmt, obwohl er sich dem stets entziehen will. Auch als er in eine eigene Wohnung zieht, bleibt es bei dem unguten Einfluss. Das geht soweit, und da bin ich als Zuhörerin sehr erschrocken, dass er Frank brutal schlägt, als ihm eine seiner Äußerungen nicht passt. Wut und Jähzorn und der Hang zur Gewalt sind auch durch die Zeit in der Haftanstalt nicht verschwunden, im Gegenteil.

„Die Lider hingen ziemlich tief über den Augen, das kommt vielleicht auch vom dauernden elektrischen Licht. Ich muss zugeben, dieser Blick kam mir gefährlich vor, weil hinterhältig. Also, dass es ein Zeichen eines gefährlichen Mannes ist. Dabei braucht der da so ein Zeichen gar nicht. Wenn einer achtzehn Jahre eingesperrt wird, dann ist er gefährlich, auch wenn nichts an ihm gefährlich aussieht.“

Die Atmosphäre, die Köhlmeier heraufbeschwört, spürt man in jeder Zeile. Er macht das sehr gekonnt. Das beginnt schon von Anfang an mit der Weigerung Frank nicht Frankie zu nennen, was dieser hasst. Dennoch kann er sich dem Großvater nicht entziehen, er scheint eine hypnotisierende Wirkung auf Frank zu haben. Im Laufe der Geschichte wundere und ärgere ich mich über diese seltsame Beziehung, die die beiden da unbemerkt von Franks Mutter aufbauen. Die Mutter ist frisch verliebt und scheint dadurch ihren Sohn aus den Augen zu verlieren. Vielleicht trägt auch das dazu bei, dass sich Frank auf einen haarsträubenden Roadtrip mit dem Großvater begibt, die mit einer Wanderung nachts durch Wien beginnt, mit dem Diebstahl eines Autos weitergeht und auf einem Autobahnrastplatz böse endet.

Ab hier bin ich mir nicht sicher, ob das ganze noch glaubwürdig ist, ob Köhlmeier nicht zu dick aufträgt. Wahrscheinlich ist es aber gar nicht so wichtig. Jedenfalls taucht sowohl die Polizei in Franks Wohnung auf, da der Großvater sich seit Tagen nicht bei seinem Bewährungshelfer gemeldet hat, und es kommt zu einer unerwarteten Begegnung mit dem Vater, den er seit wohl zehn Jahren nicht gesehen hat. Frank wünscht sich ein Treffen, sein Vater willigt ein. Auch mit dem Vater und seiner neuen Freundin geht es auf die Autobahn. Die Geschichte endet mit einem Showdown auf dem gleichen Autobahnrastplatz …

Mehr wird nicht verraten. Sonst bleibt es nicht spannend. Köhlmeiers Geschichte ist sowohl kurzweilig, als auch nachdenklich machend. Wie ist das mit dem „Bösen“? Ist der Hang zur Kriminalität womöglich erblich? Wie kann es sein, dass ein Mensch andere perfekt manipulieren kann? Abgesehen von der ungewöhnlichen Geschichte begeistert mich Köhlmeier ja sehr mit Worten wie „Spundus“ oder „Garderoberin“. Typisch Österreich. So kann dieser Beitrag auch noch als Nachtrag zum Thema Buchmessegastland gelesen werden.

Das Hörbuch erschien im Hörverlag. Eine Hörprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für den Rezensionsdownload.

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Andreas Maier: Die Heimat Suhrkamp Verlag


Im Nachwort von Andreas Maiers neuem Roman lesen wir, dass die Ortsumgehungsstraße tatsächlich gebaut wird. Die, die sie bauen sind in der Fremde. Der, der schon jahrelang an einer autobiographischen Buchreihe mit dem Übertitel „Ortsumgehung“ schreibt, ist hier zuhause. Für ihn ist es die Heimat. und wie er die Heimat nach all den schriftstellerischen Bemühungen in der „Pissrinne“ eines alten Ausflugslokals in der Wetterau findet, beschließt den neunten Band der Serie (wie immer kann jeder Band auch unabhängig von den anderen gelesen werden), der auch diesmal wieder amüsant zu lesen ist.

Maier arbeitet diesmal chronologisch und teilt den Roman in die Siebziger, Achtziger, Neunziger und Nuller Jahre auf.

„Wir Kinder wuchsen in völliger Geschichtslosigkeit auf, alle taten so, als sei alles schon immer so gewesen, wie es zu der Zeit, also Anfang der siebziger Jahre war.“

Sofort tauche ich in meine eigene Kindheit ein. Ich bin der gleiche Geburtsjahrgang wie Maier, nur nicht wie er im kleinstädtischen Hessen, sondern im kleinstädtischen Franken aufgewachsen. Vieles ähnelt sich. Die Situation zuhause, in der Schule, der Beginn des Englisch-, des Französischunterricht, der gruselige Religionsunterricht, die Heimatfilme, die im Fernsehen geschaut wurden. Der Austauschschüler der Schwester aus England. Die „Gastarbeiterkinder“, die in den Klassen auftauchten. Die „Ausländer“, die in der Stadt einen türkischen Imbiss, eine italienische Eisdiele, ein jugoslawisches Restaurant eröffneten.

„Dann trat eine deutliche Verschlechterung der Stimmung ein, etwa um die Zeit, als die Schule wieder losgegangen war. […] Plötzlich lag den Leuten etwas auf der Seele, es war für mich aber ungreifbar, was die Ursache sein konnte. Sie tuschelten und senkten die Stimme, wenn wir Kinder an den Tisch kamen.“

Maier beschreibt damit die Atmosphäre sehr gut. Auch ich erinnere mich wage daran. Zu dieser Zeit wurde im Fernsehen die Serie „Holocaust“ gezeigt und es war wohl das erste mal, dass die Gräueltaten der Nazis so explizit an die Öffentlichkeit kamen. Eventuell wurde sogar in der Familie darüber gesprochen. Aber eben nicht mit den Kindern, da wurde die eigene Geschichte meist verschwiegen. Die Kriegskinder und Enkelkinder leiden noch heute darunter. Erst später in der Schule ab der Achten oder Neunten wurde das Thema dann auch im Unterricht behandelt. Die Teenagerzeit beschreibt Maier sehr treffend mit ihren manchmal skurrilen Merkwürdigkeiten.

„Heimat war in dieser Epoche ein Unwort. Wir, nun fünfzehn, sechzehn Jahre alt, fanden das Wort grauenhaft. Es war reserviert für die diversen Heimatverbände, die im Fernsehen immer folkloristisch herüberkamen und deren Versammlungen, über die berichtet wurde, wir befremdlich rechts und CDU-haft fanden. „

Maier erzählt von Joachim Fests Dokumentarfilm über Hitler, wie von der Parodie Charlie Chaplins. Er erzählt wie die Terroristen der RAF in jeder Familie Thema waren. Ich sehe heute noch die „Gesucht“-Plakate vor mir und wie ich meinen Vater frage, wer diese Menschen sind … Damals als die Linken noch gegen den Staat waren und die Antifa eine echte Antifa. Damals als es sogar ein NPD-Mitglied in den Kreistag in Maiers Heimatgegend schaffte.

Dann beginnt in den 80er Jahren im Osten der Widerstand. Der Vater Maiers, Rechtsanwalt und CDU-Mitglied, zeigt sich skeptisch.

„Daß das alles ein verdammter Betrug sein könne, diese angebliche Öffnung der Gesellschaft unter Gorbatschow, hielt er für absolut möglich. Dem Russen ist nie zu trauen, das hatte ihm schon sein Vater gesagt.“

Bald darauf gehen die Grenzen auf. Maier besucht 1990 seine gleichaltrige Cousine in Sachsen und sieht einen schwarz-verrußten Meißner Dom, die sorbischen Gemeinden Nähe Bautzen und verbringt eine kurze verliebte Zeit dort.

Es folgt die Zeit an der Universität in Frankfurt. Die politischen Ereignisse dieser Zeit. Die vielen Kriege, die neuen Diktatoren, die neuen Demokratien, die eigene Suche nach einem Ort zum Leben, nachdem die Gefährtin an der Seite gefunden wurde. Maier zieht es nicht ins Ausland, nicht nach Berlin. Er bezieht schließlich nach dem Tod des Onkels (J.) das Haus der Großmutter in Bad Nauheim und wird dort sesshaft. Er schreibt die ersten Romane und beobachtet die Ideen zur Ortsumgehung, der Wirklichen und seiner eigenen.

Nachdem der letzte Band etwas schwächer war, empfinde ich diesen wieder als tragende Säule der auf elf Bände angelegten Reihe. Kurzweilig, witzig und auch klug. Das Buch erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar.

Zu den vorher besprochenen Bänden über diesen Link:

Judith Herrmann: Wir hätten uns alles gesagt Hörbuch Der Hörverlag


Nach dem bemerkenswerten Roman „Daheim“ aus dem Jahr 2021 hat der S. Fischer Verlag nun auch die Frankfurter Poetikvorlesungen von Judith Hermann herausgegeben. Hier erzählt sie über ihr Schreiben, das auch immer mit der eigenen Biografie zu tun hat. Es geht um die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, um das Erzählen, das Erfinden von Geschichten, oft als verfremdete eigene Lebensereignisse. Wie schon beim letzten Roman habe ich auch hier das Hörbuch gewählt, weil ich ihre Stimme, ihre Art vorzulesen so liebe. Vier Stunden sind es, es hätten gerne noch mehr sein dürfen. Besonders gefällt mir auch das Coverbild. Zudem entdeckte ich in den Büchern, die ich von ihr hier stehen habe, dass ich zwei signierte Exemplare besitze. Die Lesung, die ich vor vielen vielen Jahren beim Erfurter Bücherherbst besuchte, hatte ich fast vergessen.

„Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“

Ich bewundere Judith Hermann für ihre Offenheit, für das Private, das sie mitteilt, nie voyeuristisch, jedoch wunderbar in Literatur zu verwandeln weiß. Gleichzeitig lässt sie uns immer in Unsicherheit über den Anteil an Fiktion in ihren Texten. Das Buch lässt sich als Roman lesen, als würde alles, was sie zu erzählen weiß in eine lesbare Form gleiten.

So begegnet die echte(?) Judith Hermann ihrem ehemaligen Psychoanalytiker zufällig in einem Spätkauf in Berlin, in dem sie an einem fortgeschrittenen Abend mit einem Freund steht, um Zigaretten zu kaufen. Sie folgt ihm in die Bar, in die er verschwindet und die beiden kommen ins Gespräch. Sie reden über das, was in der Analyse nie gesagt wurde. Immerhin viele Jahre lag sie 3x wöchentlich auf seiner Couch. Und er als klassischer Freud`scher Analytiker saß am Kopfende und sagte fast nichts – viele Jahre lang. Hermann weiß, dass es letztlich darum geht, die Fragen, die man sich oder ihm stellt, nach und nach selbst beantworten zu können. Es geht ums freie Assoziieren, ums „laute“ Denken. Tatsächlich ist es eine sehr ausführliche andauernde Selbsterforschung, die erstaunlich viel bringen kann. Wir erfahren dabei, wie sie ihr half weiter zu schreiben (weiter zu leben), als es sehr schwierig war. Wir erfahren von ihrer langjährigen Bekannten, die ihr den Therapeuten empfohlen hatte und wie letztlich eine Erzählung im Band „Lettipark“ durch beide entstehen konnte. Da ich diese Erzählungen nicht kannte, habe ich mir gleich noch das Hörbuch aus der Bibliothek als Ergänzung angehört.

Im weiteren Verlauf wird mir klar, weshalb diese langjährige Analyse so notwendig war. Vieles, was (die echte?)Judith Hermann aus ihrer Kindheit, aus ihrer Familie erzählt, kommt mir sehr bekannt vor. Dysfunktional könnte man es nennen. Es besteht eine Enge, keine Fröhlichkeit ist erlaubt, keine Offenheit nach außen, keine Schulkameraden dürfen mit nach Hause gebracht werden. Wie oft habe ich genau diesen Satz in einer Abwandlung („Vögel, die morgens pfeifen …“) gehört, den Judith Hermanns Großmutter ebenfalls aussprach: „Wer am Morgen singt, den holt abends die Katze“. Die Wohnung dem riesigen Puppenhaus ähnelnd, das der Vater der Tochter baute. Die ängstlichen Kinderträume. Der unzuverlässige Vater, der später lange Zeit in der Psychiatrie lebte. Die Mutter, die arbeiten geht, die Großmütter, die sich um das Kind kümmerten. Es ist die Kriegsenkelgeneration, zu der ich auch gehöre.

„Für das Wort Glück, musste Gott um Verzeihung gebeten werden.“

Und immer wieder die Freundin Ada, das Rudel drumherum, die Wahlfamilie, mit der sie als junge Frau im Sommer immer wieder an die Nordsee in das ererbte Haus fährt. Das freie wilde Leben mit den Kindern und Freunden, eine große Patchworkfamilie. Sie erzählt von Marco, dem besonderen Cliquenmitglied, dessen Tod als noch junger Mann. Das Auseinanderdriften nach und nach. Die erste eigene Familie, dann die zweite. Von der riesigen übervollen elterlichen Wohnung der Eltern in Neukölln nach Prenzlauer Berg. Die schweren Zeiten, die es durchzustehen gilt. Und dann natürlich das Schreiben. Wie und weshalb entstehen die Geschichten? Wie werden sie zu literarischen Erzählungen? Was ist der essentielle Satz darin, um den sich alles dreht? Was muss verborgen bleiben, verschwiegen werden, damit die Story funktioniert? Hier empfinde ich Judith Hermann als höchst authentisch, als bei der eigenen Art bleibend, mitunter gar als schreibend gegen die Moden und den Mainstream.

„Jede Geschichte hat ihren ersten Satz, nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt. Manchmal ein Bild oder ein Augenblick, ein Blick auf etwas hin oder von etwas weg. Aber meist ist es ein Satz, den jemand zu jemandem sagt. Ich höre diesen Satz und das Hören ist begleitet von einer nur Sekunden langen aber eindeutigen und unmittelbaren körperlichen Empfindung, ein Erschauern, Vorahnung, eine Gänsehaut.“

Schließlich auch eine neue Beziehung. Eine Beziehung, obwohl das sich öffnen, das Vertrauen so schwer fällt. Hier gehört auch der Satz hin, der den Titel des Buches bildet. Welche Ausnahmesituation braucht es, damit „wir hätten uns alles gesagt“ passieren kann. Judith Hermann kommt im Erzählen vom Hundersten ins Tausendste ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Sie zeichnet die Nebenschauplätze genauso, wie die Hauptfiguren. Ihre Figuren sehnen sich nach den „Verstehst du, was ich sagen wollte“-Momenten, die ich nur allzu gut kenne und die so selten auf Resonanz treffen.

„Jede Geschichte ist eine rückläufige Bewegung auf einen Anfang zu, Schichtung um ein Zentrum. Nicht nur die eigenen sondern auch die der anderen, viel mehr wohl die Geschichten der Anderen, die ich lese, um aus ihnen heraus auf meine eigene Stimme zu kommen, die ohne die Stimme der anderen aber gar nicht hörbar wäre.“

Von der ersten Kurzgeschichte, die mit einem Stipendium in Wewelsfleth im Günter-Grass-Haus entstand, über den ersten Erzählband „Sommerhaus später“ bis zum ersten Roman und immer weiter bis zu „Daheim“ und bis zu den Frankfurter Poetikvorlesungen. Ein Werdegang. Ein Heranreifen, ohne je das eigene, besondere aufzugeben, so empfinde ich es. Und ich habe von Anfang an mitgelesen. Ich empfehle jedes Buch von Judith Hermann, dieses ganz besonders und freue mich schon auf das nächste. Ein Leuchten!

Der Roman erschien im S. Fischer Verlag, Das Hörbuch gelesen von der Autorin im Hörverlag. Eine Hörprobe gibt es hier.

Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben Zsolnay Verlag


2019 hat sie mit einem starken Text den Bachmannpreis gewonnen. Dann kam ihr Roman Ich an meiner Seite“ und mit dem neuen Roman „Wovon wir leben“ hat die Österreicherin Birgit Birnbacher, wie ich finde, einen noch besseren Roman geschrieben. Schon bei den ersten Zeilen merke ich, das ist ein geerdeter Text, der ist wunderbar bodenständig, wenngleich gedankenvoll klug und mitunter auch sehr witzig und unverblümt direkt. Es braucht keine Großstadt, keinen Mainstream-Inhalt, keine woken Themen, keine formelle Außergewöhnlichkeit, um einen richtig guten Roman zu schreiben. Den Zauber dieses Textes macht für mich ein richtig gutes Händchen für Sprache, ein tiefes Verständnis für Menschen, Lebenserfahrung und ein sicheres Reflexionsvermögen aus.

Dass Birnbachers Romane von ganz normalen Menschen mit all ihren Fehlern handeln, gefällt mir und nimmt mich sofort für den Text ein. Bereits der Titel weist darauf hin, worum es haupt- und nebensächlich geht: Wovon wir leben. Physisch und psychisch. Was brauchen wir, um ein gutes, womöglich ein glückliches Leben zu führen? Warum geht es bei manchen Menschen leichter, bei manchen schwerer, das Leben? Was baut uns auf? Oder wer? Wie wichtig ist das, was wir tun? Unsere Arbeit? Und was ist die richtige Arbeit für uns? Ist Beruf Berufung? Oder geht es vor allem darum Geld zu verdienen? Und was wenn durch Krankheit die Arbeit nicht mehr getan werden kann? Was, wenn man die Chance bekommt, ein Jahr ein Auskommen zu haben und nicht arbeiten zu müssen? Arbeitet man trotzdem?

Anhand von Julia und Oscar, den beiden Hauptfiguren spielt die Autorin das ganz wunderbar durch. Julia, Ende 30, Krankenschwester verliert ihre Arbeit, weil sie aufgrund von Unachtsamkeit einen Fehler gemacht hat, mit weitreichenden Folgen. Aufgrund dessen wird sie selber krank, wird aus der Bahn geworfen, bekommt keine Luft mehr, muss wieder neu lernen durchzuatmen.

„Mit jedem eingetragenen Häkchen in die Datenmaske, jedem abgearbeiteten Kreuzchen meiner Aufgabenliste wurde der Mensch vor mir abstrakter. Sein Mitteilungsbedürfnis, seine Sorgen oder Nöte waren auf einmal ein Extra, das eigentlich nicht mehr zum Auftrag gehörte.“

Sie fährt deshalb in die Heimat, von der Stadt ins Dorf, auf den Hof der Eltern, in der Hoffnung dort umsorgt zu werden. Doch schnell stellt sich heraus, dass auch dort alles ganz anders geworden ist. Die Fabrik, in der das halbe Dorf arbeitete, geschlossen. Der Vater hypochondrisch, die Mutter einfach weg. Nach Italien zu einem anderen. Für Julia gänzlich unvorstellbar. War die Mutter doch immer die angepasste, die alles beisammen hielt. Der Vater vollkommen verloren ohne die Frau. Der Vater aber auch mit einer Schuld, gegenüber dem eigenen Sohn, der im Heim lebt, und doch nie schuldbewusst.

„Der Vater fühlt sich nicht rücksichtslos. Er fühlt sich gar nicht. Er ist, wie seine Kultur ihn hervorgebracht hat.“

Bereits auf der Fahrt lernt sie Oscar kennen, der fortan „Der Städter“ genannt wird. Auch er wurde aus dem bisherigen Leben geschoben durch einen Herzinfarkt. Er sucht auf dem Land Erholung und findet sich ungewöhnlich schnell gut zurecht. Er hat für ein Jahr lang eine Art bedingungsloses Grundeinkommen gewonnen und kann sorglos tun, was ihm gut tut. Julia ist erstaunt, wie leicht bei ihm alles geht. Und anfangs auch neidisch. Bei ihr geht es um viel mehr. Um ein drohendes Berufsverbot und die schlimme Vorstellung nun auf dem väterlichen Hof womöglich die Mutter ersetzen zu müssen.

„Mir fällt ein, wie ich jahrelang gerührt war, weil er (Anm: der Vater) einen Arm um Mutters Autositz legte, wenn er rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Ich musste ganz schön große werden, um zu kapieren, dass er ihren Sitz auch umarmt, wenn sie gar nicht dabei ist.“

Der Städter macht Julia nach und nach leichter. Zwischen Kartenspielen im Wirtshaus und der Betreuung einer krankenden Ziege entwickelt sich ein Miteinander, dass beiden gut tut, dass aber auch Fragen nach der Zukunft aufwirft. Wie das immer so ist. Denn für Julia scheint die neue Zukunft wieder in der Stadt zu beginnen – durch eine alte Freundin besinnt sie sich auf frühere Fähigkeiten und bekommt die Chance einen neuen Beruf zu erlernen – und der Städter hingegen entschließt sich zu bleiben. Für ihn scheint alles traumwandelnd leicht zu gehen, Julia spürt eine ewige Schwere und vor allem eine Unentschiedenheit, ein Hin- und Hergerissensein. Er als ehemaliger Büro- und Amtsmensch sucht die Begegnung und Gemeinschaft. Julia hat genug von Menschen und wünscht sich einen Bürojob.

„Wie er da so kniet, denke ich, dass er für das Glück wirklich begabt ist und ich genau gar nicht, obwohl wir wahrscheinlich gleich viel Glück oder Unglück haben, nur dass es ihm überwiegend freudig gleichgültig ist und ich auch an guten Tagen von einem anderen spezifischen Gewicht bin, mich fürchte, hässlich fühle oder schäme, irgendetwas ist da immer.“

Als Julias Entscheidung schon fast getroffen ist, verletzt sich der Vater und muss versorgt werden. Hat er es absichtlich getan, um Julia zu zwingen zu bleiben und ihn zu versorgen? Wie entscheidet sich Julia? Lässt sie sich erpressen? Wird sie die Ersatzfrau? Ist Familie wichtiger als der Job? Reicht ihre Energie, ihr Durchsetzungsvermögen, um ihren eigenen neuen Weg unbeirrt weiter zu gehen? Hilfe kommt aus unerwarteter Richtung. In dieser letzten Phase des Romans zeigt sich für mich das Thema Feminismus eleganter, geistreicher und zugleich kraftvoller, als das in den derzeitigen oft plakativ unter der `Feminismus-Keule` geschriebenen Romanen der Fall ist.

Dieser Roman ist durchweg gelungen bis hin zum passenden schönen Cover und eines meiner Highlights des bisherigen Lesejahres. Helles Leuchten! Große Empfehlung!

„Wovon wir leben“ erschien im Zsolnay Verlag im Hanser Verlagshaus. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Karin Smirnoff: Wunderkind Hanser Berlin Verlag


Nach Karin Smirnoffs bemerkenswertem Debüt „Mein Bruder“ folgt nun in deutscher Übersetzung „Wunderkind“. Ich bin weiterhin sehr erfreut über die Entdeckung dieser Autorin, obgleich es schwere harte Themen sind, die Smirnoff in ihren Romanen bearbeitet. Es geht auch diesmal um dysfunktionale Familien, um Missbrauch und vor allem um Kinder, die in den dargestellten Familien das Nachsehen haben und es aus der Not heraus erlernt haben, wie man überlebt, wenn man sich nicht auf Eltern verlassen kann. Tatsächlich gibt es kaum Lichtblicke in diesem Roman, noch weniger als im vorigen. Dies als Vorwarnung.

Hauptfigur und Heldin im Wortsinn ist Agnes, die wir von ihrer Geburt an begleiten und die sich schnell als Wunderkind entpuppt, was ihr musikalisches Können angeht. Bereits mit zwei beginnt sie schon auf dem Klavier zu spielen. Das Talent hat sie wohl von der Mutter geerbt, Anita, deren Karriere jedoch aufgrund der Schwangerschaft mit Agnes gestoppt wurde. Der Vater ließ sie allein mit dem Kind. Mit dem eigentlich ungewollten, sie störenden Kind. Sie tut alles, damit Agnes das auch spürt und erlaubt ihr nicht einmal die Flucht in die Musik. Schon früh teilt sich Agnes ihr Dasein in die „Umwelt„, also das Alltägliche, meist Hoffnungslose und in die „Welt„, die für sie die Musik ist und in die sie am liebsten immer eintauchen würde. Doch die Umwelt stört immer wieder. Agnes nennt ihre Mutter Anitamama, ich lese – ganz freud`scher Verleser – ständig Antimama. Zunächst gibt es noch Großeltern, die sich kümmern, dann bricht Anita mit den Eltern. Als sie wieder einen neuen Mann findet, scheint sich das Blatt zunächst zum Besseren zu wenden. Doch Anita kommt aufgrund von Depressionen in eine Klinik. Wieder zurück, wird bald ein Geschwisterkind geboren, für das Agnes sich gleich verantwortlich fühlt/fühlen muss.

„Ich bin das Kind das das Leben seiner Mutter zerstört hat. Das den Platz übernommen hat der eigentlich ihr gehörte. Sie singt ich spiele. Sie singt falsch ich passe mich an. Wenn ich überleben will darf ich sie nie übertreffen.“

Durch den Musiker Frank, der Anita schon länger kennt, tut sich für Agnes wieder die Welt der Musik auf. Zusammen mit Kristian, der Cello spielt und mit dem sie zusammen beginnt, eigene Stücke zu komponieren, gibt es sogar bald Auftritte mit Publikum. Als Leserin freute ich mich, dass da endlich jemand ist, der Agnes liebevoll annimmt. Doch dann zeigt sich langsam aber immer deutlicher, dass Frank Kinder nicht nur gern hat, sondern sie auch sexuell missbraucht und das Liebe nennt. Das ist als Leserin kaum auszuhalten, diese Hoffnung, die dann wiederum im Unguten mündet. Für mich war es ein großer Zwiespalt, mit anzusehen, wie die Kinder ihn total mögen, wie er ihnen Hilfe, Förderung und lang vermisste Zuneigung entgegenbringt, und dann aber doch diese Grenze überschreitet und den Kindern neues Leid antut. Gut beschrieben wird hier auch, wie er sich immer „bedürftige“ Kinder aussucht, deren Eltern sich wenig um sie kümmern. Gleichzeitig zeigt die Autorin auch den eigenen Missbrauchshintergrund von Frank als Kind. Agnes trifft es spät, Kristian und auch Miika, der zum Ensemble dazu kommt, leiden stark unter Franks Übergriffen. Die jeweiligen Eltern merken nichts davon oder wollen es nicht merken.

Als Anitas neuer Mann sie plötzlich mit dem leiblichen Sohn Richtung Frankreich verlässt, ist Agnes erschüttert. Zwischen dem kleinen Bruder und ihr, gab es ein starkes Vertrauensverhältnis. Sie überredet Frank, mit ihnen nach Paris zu fahren und ihn zu suchen. Frank organisiert dort Konzerte für die Kinder, die immer besser und stärker werden durch das gemeinsame Musizieren. Oft betäuben sie sich mit Alkohol unter dem Motto: „Schmeckt nicht gut tut aber gut“. Kristian, der immer wieder Selbstmordgedanken hat, und Agnes sind durch die Musik besonders stark verbunden. Sie komponieren ganze Stücke und kommen damit an. Doch Frank nutzt das aus und schickt sie zuletzt sogar in die Prostitution (die Kinder sind zum Zeitpunkt des Haupterzählstrangs 9 bis 12 Jahre alt!)

„Aus dem Fenster zu fallen ist Nummer vier von neun denkbaren Arten zu sterben. Die drei ersten hat er genau durchdacht und in einem Schreibheft notiert.“

Agnes Mutter ist nach deren Rückkehr aus Paris wieder in einer Klinik, die Wohnung aufgelöst und Agnes zieht wieder zur Großmutter. Hier zeigt sich die Krankheit der Mutter wieder deutlich: Sie überlässt Agnes völlig ihrem eigenen Schicksal. Auch hier lässt Smirnoff immer wieder durchscheinen, dass der Großvater womöglich auch übergriffig war gegenüber Agnes` Mutter. Das Hausmädchen der Großeltern, Susanna, dass entlassen wurde, als sie schwanger war und in die Drogensucht abgleitet, war Agnes oft eine große Stütze mit ehrlicher Zuneigung. Sie ist es auch, die am Schluss, die Kinder aus den Klauen von Franks Machenschaften rettet, in dem sie die Polizei verständigt. Spät genug, denn die Kinder sind längst traumatisiert, in mehrfacher Hinsicht. Agnes und Kristian sehen sich nicht mehr, scheinen beide nicht mehr musizieren zu können. Was als Überlebensstrategie und Flucht aus dem Alltag lange funktionierte, scheint verloren …

„Ich war ein Wunderkind. Jetzt bin ich ein gewöhnliches Kind. Das ist einfacher.
Die Musik ist verstummt.
Wenn ich nicht spielen kann ist es nicht passiert.“

Karin Smirnoffs Sprache ist verkürzt und dicht. Ruppig und oft kindlich wirkt sie; sehr nah an der Ich-Erzählerin angelegt. Oft fehlen Satzzeichen, oft wechselt die Perspektive rasch. Die Autorin schafft es die furchtbaren Geschehnisse so verschleiert und unklar zu lassen, dass die Geschichte der Kinder auch der Fantasie der Leserin ausgeliefert ist. Gleichzeitig stattet sie die Kinder mit einem gewissen Galgenhumor aus, der sie oft rettet. Sie bewahrt den Stil, den ich von „Mein Bruder“ so schätzte und ich werde sicher auch den nächsten Band lesen.

Das Buch erschien im Hanser Berlin Verlag. Übersetzt wurde es von Ursel Allenstein. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen Luchterhand Verlag


Nun ist er da, der zweite Band der biographischen Romantrilogie von Leïla Slimani. Hier erzählt sie die Geschichte ihrer Familie, die im ersten Teil „Das Land der Anderen“ in Frankreich begann, als ihre Großeltern sich nach Ende des zweiten Weltkriegs in Straßburg begegneten, heirateten und in die Heimat des Großvaters Amine, nach Marokko zogen.

Zu Beginn wird Aischa Belhaj von ihren Eltern nach Marokko zurückgerufen. Sie ist zum Medizin-Studium in Straßburg, im Elsass, der Heimat ihrer Mutter Mathilde. Doch es ist Sommer 1968 und die Studentenunruhen in Frankreich machen der Familie Angst. Sie wollen ihre Tochter in Sicherheit wissen. Für Aischa ändert sich dadurch vieles. Sie trifft ihre alten Freundinnen wieder. Besonders mit Monette versteht sie sich wunderbar. Bei ihr und ihrem Freund verbringt sie dann auch den Sommer. Sie haben ein kleines Haus am Meer. Hier lernt sie Mehdi kennen, den man Karl Marx nennt. Er studiert Ökonomie und ist sofort von Aischa gebannt. Bevor die beiden sich wirklich näher kommen können, rufen die Eltern wieder um Hilfe. Diesmal ist es der Bruder Selim, der verschwunden scheint. Mehdi fährt sie mit seinem Auto zur Farm, doch dann begeht er eine Dummheit, die die beiden wieder voneinander trennt.

Aischas Bruder Selim spielt in diesem Band auch eine Rolle. Zunächst geht er eine Liebesbeziehung mit seiner verheirateten Tante Selma ein, später verlässt er die Familie und gerät in Essaouira in eine Kommune, die aus europäischen Hippies besteht und beginnt Drogen zu konsumieren. Hier hält man ihn aufgrund seiner blonden Haare ebenso für einen Europäer. Wie sich später zeigt, schreibt er Selmas Tochter Sabah regelmäßig Briefe. Während man versucht mehr zahlungskräftige Touristen ins Land zu locken, sind Hippies nicht mehr gern gesehen. Selims Schicksal bleibt lange Zeit ungewiss, bis es aus unerwarteter Richtung ein Lebenszeichen gibt.

Mehdi wird nach dem Studium ein höherer Beamte im Steuerministerium, er schreibt nicht mehr und kehrt sich ab von marxistischen Lehren, wird sogar aufgrund seiner Position und seinen Kontakten zur Geburtstagsfeier des Königs eingeladen. Wie es das Schicksal will, begegnet er an genau diesem Tag Aischa wieder, die für den Sommer aus Frankreich zurückkehrt. Und bleibt dadurch am Leben, da er nicht in den Putsch gerät, den die Militärs genau an diesem Tag anzetteln. Auch einen zweiten Anschlag überlebt der König später.

Nach ihrer erneuten Begegnung und Versöhnung feiern Mehdi und Aischa ihre Hochzeit auf dem Hof ihrer Eltern. Mathilde plant die Hochzeit akribisch und es wird exklusiv und teuer. Die beiden ziehen in ein Haus in der Hauptstadt. Aischa spezialisiert sich als Ärztin auf Gynäkologie, Mehdi entpuppt sich als wenig emanzipierter Ehemann.

„Und was Aischa ihm erzählte, wenn sie aus dem Krankenhaus kam, erschien ihm nicht nur uninteressant, sondern sogar unappetitlich. Sein Leben lang hatte er gehört, was Mädchen zu tun oder zu lassen hatten, worin tugendhaftes Benehmen bestand, und er fühlte sich berechtigt, über jene die Nase zu rümpfen, die zu laut redeten oder sich aufreizend benahmen. Und alles, was die Geheimnisse des weiblichen Körpers betraf, fand er zutiefst abstoßend.“

Doch beide sind von ihrer Tätigkeit erfüllt und gehen in ihrer Arbeit auf. Bei Aischa zeigt sich manchmal das Balancieren zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen – durch das Studium ist sie eben auch von Frankreich geprägt. Die Geschichte endet 1972 mit der Geburt einer Tochter …

Dieser zweite Band bleibt, wie ich finde, etwas hinter dem ersten zurück. Ein Grund ist für mich, dass zu viel von männlichen Figuren die Rede ist und Aischa, die ich als Hauptfigur sehe, zu sehr im Hintergrund steht. Mitunter ist mir auch der Ton, wie manchmal im ersten Band etwas zu pathetisch, bei Liebesszenen blumig bis kitschig. Mal sehen, wie es im dritten Teil weitergeht und ob sich dann ein gutes Ganzes daraus formt.

Schaut, wie wir tanzen“ erschien im Luchterhand Verlag. Übersetzt aus dem Französischen hat es Amelie Thoma. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Den ersten Teil habe ich bereits hier besprochen:

Gøhril Gabrielsen: Zwischen Nord und Nacht Insel Verlag

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Tod, deine Umarmung ist nicht kalt
die Erde zu Asche verwandelt
ich bin selber das Feuer.

Edith Södergran, Gedichtauszug aus dem Band „Feindliche Sterne“

Die norwegische Autorin Gøhril Gabrielsen erzählt die Geschichte einer komplexen Mutter-Tochter-Beziehung und verknüpft sie mit der Geschichte der finnlandschwedischen Lyrikerin Edith Södergran und deren Mutter. Obiges Zitat findet sich auch im Titel eines Hörbuchs mit Gedichten und Briefen Södergrans. Ich habe mir die CD, die im Kleinheinrich Verlag erschien (leider ist sie vergriffen) parallel zur Buchlektüre angehört. Die Lyrikerin starb jung, mit nur 30 Jahren an Tuberkulose, wie zuvor schon der Vater. Ihre Gedichte finden leider viel zu wenig Beachtung.

„… denn aus den Worten „der Mond erzählt mir in silbernen Runen / vom Land, das nicht ist“ begriff ich plötzlich, dass der Boden, auf dem ich saß, und das Zimmer, das mich umgab, eine unsichtbare und ganz andere Wirklichkeit verbargen, einen Ort, an dem die Vernunft nicht gilt und an dem sie all demjenigen, was unaufhörlich im Werden begriffen ist, nachgibt. Eine Welt, in der sich die Seele manifestiert und Gedichte entstehen können.“

Gabrielsen beginnt die Geschichte mit der Geburt der Tochter der Hauptfigur, die auch Erzählerin ist. Gleich Eingangs berichtet sie, dass ihr an der Lektüre der Gedichte Södergrans sehr viel gelegen ist. So wird parallel zu den eigenen Erfahrungen der Mutterschaft, die von Helene Södergran erzählt. Immer wieder fließen hier auch Gedichtauzüge Edith Södergrans in den Roman mit ein.


Ich freue mich sehr über diese Lektüre, denn wie hier über Mutterschaft erzählt wird, empfinde ich als stimmig. Hier wird nichts beschönigt, hier steigt man gleich ein in die Schwierigkeiten. Hier erzählt eine Mutter, die sich ihrer selbst nicht sicher ist und daher besonders viel Wert auf Erziehung und die Beziehung zu ihrer Tochter legt. Eine Mutter, die schwankt zwischen Überbehütung und Vernachlässigung. Es geht um unsichere Bindung in der Kindheit, es geht um Traumata.

„Das altbekannte Gefühl der Unzulänglichkeit kehrte mit Macht zurück. Es flammte auf wie eine akute Entzündung, wieder hatte es mich erwischt, diesmal aber schwerer als jemals zuvor. […] Es war ein heftiges und dunkles Gefühl, von einer dünnen, dünnen Kruste bedeckt, einem Firnis so zart, dass der kleinste Fehltritt meinen Fehler noch deutlicher hervortreten lassen würde und alles Schlimme noch schlimmer machte.“

Norwegen, Gegenwart: Wir folgen der Gedankenflut der Erzählerin, die zurückblickt und überlegt, wo sie etwas falsch gemacht haben könnte. Denn es hat sich Schlimmes ereignet, die Tochter betreffend. Immerfort geht es um Schuld, um die Frage der Verantwortung. Es geht um das richtige Maß an Freiheit und das richtige Maß an Strenge. Es geht um Liebe, die freiwillig ist und nicht abhängig von dem, wie sich das eigene Kind verhält. Es geht um das Fingerspitzengefühl an zu viel und zu wenig Unterstützung. Als Leserin spüre ich immer wieder, wie sich hier Übergriffigkeit zeigt, wie hier Grenzen überschritten werden. Ein Spagat zwischen Festhalten und Loslassen.

„Ich frage mich, ob mein Leben wie all die Kreuzungen, die ich passiere, auch andere Richtungen hätte einschlagen können. Ob es Anlagen zu unterschiedlichen Versionen meiner selbst gegeben hat, oder ob ich von Beginn an als Einbahnstraße zu betrachten bin, also keine Wahl habe und von Anfang bis Ende nur dieser einen Strecke folgen kann.“

St. Peterburg/ Raivola, Anfang des 20. Jahrhunderts: Ganz ähnliches erlebt Helena, Edith Södergrans Mutter, die sich um die Pubertierende sorgt, weil sie einmal vorlaut ist und eigen und dann wieder zurückgezogen und einsam erscheint. Aus diesem Grund holt Helena eine Pflegetochter ins Haus, ein Mädchen vom Land, das seine Eltern verloren hat. Sie hofft darauf, damit Edith eine gleichaltrige Freundin zu schenken. Doch die beiden verstehen sich nicht. Was sicher auch mit daran liegt, dass Helena Singa eher wie ein Hausmädchen behandelt und nicht wie eine gleichwertige Tochter. Eines Tages nach unschönen Vorfällen verschwindet Singa und wird kurz darauf tot aufgefunden. War es Suizid oder ein Unfall? Helena fragt nach der Schuld, versucht sich davon frei zu machen, verfällt jedoch einer Schwere, die sich auch auf Edith ausweitet.

Bei der Erzählerin ist die Tochter bereits aus dem Haus, ist in die Großstadt gezogen und hat ein Studium begonnen. Sie beginnt eine Beziehung, stellt der Mutter ihren Freund Tor vor, den diese nett findet, aber auch ein wenig seltsam. Auch hier geht es wieder darum: Inwiefern darf ich mich einmischen? Kann ich kritische Fragen stellen oder wirkt das, als würde ich der Tochter das Glück nicht gönnen? Die Erzählerin entscheidet sich dafür, sich zurückzuhalten, der erwachsenen Tochter zu vertrauen. Bis ihr eines Tages seltsame Geschichten über die Beziehung der beiden erzählt werden. Und bis die Tochter eines Abends vollkommen aufgelöst vor der Haustür ihrer Mutter steht …

Ich mag die Art, wie Gøhril Gabrielsen ihre Geschichte erzählt. Ich mag ihre feine, genaue Sprache, die ich oft sehr poetisch finde und die immer auch zum Inhalt passt. Auch die Form gelingt ihr: sie erzählt abwechselnd aus der Gegenwart und der Vergangenheit, abwechselnd von beiden Müttern. Dabei schiebt sie mitunter Ideen ein, was die beiden jeweils hätten sagen oder denken können, was sie in dieser oder jener Konstellation getan hätten. So fühle ich mich stark mit einbezogen und überlege mit. So werde ich auch auf mich selbst zurück geworfen, was Mutter-Tochter-Beziehungen angeht. Und sie hinterfragt klug den Wunsch als Mutter perfekt sein zu wollen und geht dabei in die Tiefe. Für mein Empfinden ist dieses Buch rundum gelungen. Dazu gehört natürlich die wunderbare Übersetzung aus dem Norwegischen von Hanna Granz. Und ich möchte dem Roman sogar ein zum Schauplatz passendes Aurora-Borealis-Leuchten mitgeben.

Zwischen Nord und Nacht“ erschien im Insel Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter Büchergilde Gutenberg/Argon Hörbuch

„Nicht hier sein wollen und woanders nicht hinkönnen, auch das habe ich von ihr.“

Immer wieder habe ich von diesem Roman gehört; oft hieß es „Geheimtipp“ oder „Ganz besonders“. Ich bekam dann die schöne Ausgabe der Büchergilde als Geschenk, als ich gerade auch das Hörbuch entdeckt hatte. Und so habe ich sozusagen parallel gehört und gelesen und muss sagen, dass das zuhören wirklich eine Freude war, denn der österreichische Schauspieler Wolfram Berger interpretiert den Roman grandios. Es ist, als würde er die Geschichte aus seinem Gedächtnis heraus erzählen und nicht etwa ablesen, was die Perspektive der Ich-Form erleichtert. Durch seine Worte hindurch spürt man die Atmosphäre des Romans, man erlebt mit dem Helden mit; stimmig dazu auch die österreichische Tönung der Sprache.

Alois Hotschnig orientiert sich mit diesem Roman an der Biographie des Schauspielers Heinz Fitz. Er schreibt sich suchend und tastend um dieses Leben herum und mitunter auch sehr tief hinein. Dabei macht er stets klar, dass alles wahr oder eben auch fiktiv sein kann. Die wenigen wirklich sicheren Fakten, mit denen sich der Held Heinz zufrieden geben muss, führen dabei wie ein roter Faden voran. Schon als kleines Kind herrscht größtmögliche Unsicherheit, da Heinz der Sohn einer Norwegerin ist, die sich in der Besatzungszeit mit einem deutschen Soldaten „eingelassen“ hat. Die schwangere Gerd wird von ihm 1942 zumindest ein Stück weit in seine Heimat Hohenems in Österreich begleitet. Doch die weitere Reise ist von Unterbrechungen und Unrast geprägt. Nachdem der Sohn geboren ist, erleidet Gerd einen Zusammenbruch und kommt in eine Klinik. Dort wird sie auch gegen ihre Epilepsie behandelt, von der sie erst spät geheilt wird. Heinz wird, vermutlich, in einem Heim des Lebensborn untergebracht.

„Der Lebensborn war es, der meine Mutter mit mir im Bauch von Norwegen nach Hohenems heruntergeholt hat. Der Lebensborn war überall oder sollte überall sein, so war es gedacht und geplant, wo es diese Mütter und deren Kinder gegeben hat. Und doch wusste kaum jemand davon.“

Und so sehen sich beide erst nach vier Jahren wieder, als die Mutter ihn sucht und auf einem Bauernhof findet, wo er als Pflegekind lebte. Immer steht die Frage nach dem Vater im Raum, der nicht mit ihnen leben will und die Mutter, die oft glaubt, Heinz wäre als Baby vertauscht worden. Diese Frage nach der Identität verfolgt Heinz durch sein Leben. Die Mutter heiratet Fritz und bekommt zwei weitere Kinder, Fritz stirbt früh an einer Lungenkrankheit und Heinz muss bald für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Er arbeitet in einer Stickereifabrik in Lustenau. Als Kind erlebte er immer wieder die epileptischen Anfälle der Mutter und ihre Schwermut, die auch auf ihn überging. Als Zwölfjähriger wollte er sich bereits umbringen. Zum Glück traten immer wieder Menschen in sein Leben, die ihm Mentor und Freund wurden. So entdeckte er auch die Welt der Bücher, das Kino und schließlich das Theater, dass ihm nach dem Schauspielstudium zur Heimat wurde.

Erst sehr spät, mit 60 Jahren nimmt sein Vater durch die Stiefschwester Kontakt mit ihm auf. Ein vorheriger Versuch des Jungen scheiterte. Durch seine Stiefschwester und anderen entfernten Verwandten erfährt er dann nach und nach Fragmente seiner Geschichte, Wie es der Mutter ergangen ist, als sie in Hohenems in der Tür stand. Die „Norwegerin“, die Fremde mit dem Silberfuchs um den Hals und der falschen Religion. Immer mehr Puzzleteile setzt Heinz zusammen; es entsteht dennoch nur ein vages Bild. Ein Historiker interessiert sich dann für seine Herkunft als „Lebensborn“-Kind. Auch durch ihn finden wieder einige Teile des Puzzles ineinander. Viel später – Heinz ist Schauspieler und lebt mit vielen Tieren auf einem Hof –kommen dann noch Puzzleteile aus Norwegen, die ein Verwandter Gerds sammelte und nur durch einen glücklichen Zufall finden sie den Weg zu Heinz. Es sind Briefe der Mutter und der Eltern der Mutter und des Vaters, die wieder eine ganz andere Geschichte erzählen und die bisherige in Frage stellen.

„So vieles ist offen. Auch durch diese Briefe jetzt noch einmal neu. Wenn es stimmt, was meine Mutter in den Briefen erzählt, dann werde ich auch mit dieser zweiten Hälfte der Wahrheit leben wie mit der ersten bisher, im Wissen darum, dass eine ganze Wahrheit wohl nicht daraus werden kann.“

Dieses Zitat fast am Schluss des Romans zeigt die große Unsicherheit und auch Zwiespältigkeit auf, die in diesem Leben zu finden ist. Es ist eine Geschichte vom Versuch sich selbst besser zu verstehen und eine Mutter zu finden, die sehr wenig greifbar war. Noch weniger greifbar, der Vater. Und zum Glück gab es immer stützende Menschen, die zur rechten Zeit da waren und halfen dieses Leben leichter lebbar zu machen. Ich bin sehr angetan von diesem Buch. Hotschnig hat ein einfühlsames eindringliches Porträt eines Menschen geschrieben, der trotz aller Widrigkeiten seine Berufung fand, das Schauspiel. Und er hat an die Aktion „Lebensborn“ erinnert, deren Geschichte sicher auch noch nicht umfassend bekannt ist. Ein Leuchten für Buch und Hörbuch!

Das Buch erschien bei der Büchergilde, das Hörbuch bei Argon. Eine Hörprobe gibt es hier.