Linda Boström Knausgård: Oktoberkind Schöffling Verlag

„Ich hatte keine unglückliche Kindheit. Auch keine glückliche. Es war die Kindheit eines Niemands.“

Was habe ich vor Jahren die Bücher Karl Ove Knausgårds verschlungen. Irgendwann war ich der nabelschauartigen Präsentation seiner Biographie aber dann überdrüssig, zumal es sprachlich wenig Highlights, dafür oft viel Schmutz gab. Umso mehr freue ich mich, dass mittlerweile zwei Romane seiner Ex-Frau Linda Boström in deutscher Übersetzung vorliegen. Denn obwohl beide auch überwiegend von der eigenen Biographie erzählen, schafft Boström diese eben durch ihre Sprache in Literatur zu verwandeln. Und ich finde es gut und wichtig, ihm das gegenüberzustellen.

Boströms Roman beginnt in einer geschlossenen Abteilung in der Psychiatrie und endet mit dem Schritt hinaus. Sie erzählt nicht chronologisch sondern lässt den Gedanken freien Lauf. Gleich eingangs erfahren wir von den unangenehmen Behandlungen mit der Elektrokrampftherapie, die Linda mitunter zwei mal pro Woche über sich ergehen lassen muss. Wir hören von der Ergebnislosigkeit der Behandlungen, von der Unterstützung der Pflegekräfte, die Linda aufgrund ihrer langen Aufenthalte genau kennt und sie sie, von der eintönigen Routine, die manchmal stört und manchmal heilsam ist. Vom Nachdenken über sich selbst, vom Grübeln, vom Gefühl nichts wert zu sein, vom Gedanken ihre Kinder im Stich zu lassen, vom Zweifel jemals wieder das eigene Leben in den Griff zu bekommen bis zu Erinnerungen aus der Biographie erfahren wir hier. Vom Kindsein mit einer oft abwesenden Schauspielerin als Mutter (das Thema gab es bereits in „Willkommen in Amerika“), der Trennung vom Vater, von der Hoffnung unter den neuen Männern der Mutter könnte auch ein guter Vater sein, der sie ernst nimmt. Vom Verlorensein, vom Nichtgesehenwerden, von den kleinen Protesten, von der Schulzeit in der Privatschule mit der ewigen Anpassung, der nicht erwiderten ersten Liebe und dem langsamen Erwachsenwerden in großer Unsicherheit. Und schließlich von dem ersten großen Angstschub, ausgelöst durch einen Joint mit Freunden.

„Von manchen Dingen hatte ich keine Ahnung. Wie man sich in einer Beziehung verhält, wie man sein Leben gestaltet und wie man seine Fähigkeiten sinnvoll einsetzt. Nichts hatte ich gelernt. Es gab gute Phasen und schlechte Phasen. Die schlechten kamen häufiger, die guten seltener. Früher war ich ein Ass darin gewesen, mich wieder aufzurichten, jetzt verbrachte ich mein Leben in geduckter Haltung.“

Sie erzählt auch von der großen Liebe zu ihrem Mann, von den Anfängen über die Familiengründung, vom allmählichen Schwinden der Zusammengehörigkeit, von der wachsenden Sprachlosigkeit und auch von der Konkurrenz im Schreiben. Beide sind von Beruf Schriftsteller. Beide benötigen dafür ihren Raum. Oft sind Freunde oder die Mutter da, um sich um die Kinder zu kümmern, da Linda immer wieder von depressiven Schüben heimgesucht wird, oft tagelang nur im Bett verbringt.

Ein sehr prägnantes Beispiel für die Erkrankung zeigt sich in einem Beispiel in der Klinik. Linda gewinnt überragend gegen einen Mitpatienten im Schachspiel – eigentlich Grund zur Freude – doch es ist eben nur ein wertloser Gewinn, da er ja nur in der Klinik unter „Kranken“ gelungen ist. Die Herabsetzung der eigenen Person und die Überzeugung nicht gut genug zu sein für das wirkliche Leben.

„Wie konnte es sein, dass ich Woche für Woche dort blieb, ohne dass etwas begann oder endete? Wer bestimmte über mein Leben? Warum hatte ich kapituliert, und wer hielt die Fäden in der Hand?“

Dieses Buch kommt mir sehr nah. Ich fühle eine Verwandtschaft im Lebensprozess. Linda Boström schreibt vom Schreiben wollen und können. Aber eben nur, wenn die Seele heil genug ist und die Psyche nicht verrückt spielt. Dabei geht sie weit, aber eben sprachlich viel feiner, als ihr berühmter Exmann. Große Empfehlung und ein weiterer Beitrag passend zur Reihe „Psychische Erkrankungen im Roman“ auf meinem Blog.

Der Roman „Oktoberkind“ erschien im Schöffling Verlag. Übersetzt aus dem Schwedischen hat es Ursel Allenstein. Eine Leseprobe gibt es hier.

Geboren in der DDR: 4 Autorinnen der Gegenwart mit ihren aktuellen Romanen: Jenny Erpenbeck, Julia Franck, Antje Ravic-Strubel, Judith Zander

Alle vier wurden in der DDR geboren: Jenny Erpenbeck 1967, Julia Franck 1970, Antje Ravic Strubel 1974 und Judith Zander 1980. Ihr Schreiben ist davon geprägt und wird auch in ihren Romanen immer wieder thematisiert. Ich halte alle vier für großartige Erzählerinnen und ich erinnere noch einmal an ihre neuesten Romane, denn sonst werden sie viel zu schnell vergessen. Mit Klick aufs Coverbild kommt man zur ausführlichen Besprechung,


Jenny Erpenbeck hat für „Kairos“ gerade den Uwe-Johnson-Preis 2022 erhalten. Vollkommen zurecht, wie ich finde. Es ist 1986 in Ostberlin. Katharina, 19, begegnet eines Tages Hans, einem über 30 Jahre älteren verheirateten Schriftsteller. Die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Es beginnt eine Beziehung, die meiner Meinung nach nur anfangs Liebesgeschichte ist und sich schließlich vor allem aufgrund der narzisstischen Persönlichkeit von Hans in eine höchst toxische Beziehung verändert. Wenn es nur um diese Liebe gegangen wäre, hätte ich das Buch sicher bald zur Seite gelegt. Aber Erpenbeck ist eben eine großartige Erzählerin und sie weiß die Geschichte so zu erzählen, dass sie gute Literatur wird. So ist Jenny Erpenbecks neuer Roman eben viel viel mehr als die Geschichte einer unguten Beziehung, sondern ein Berlin- und ein DDR-Roman, aber eben auch ein sprachlich gelungenes perfekt komponiertes Leseereignis.

Julia Francks Romane „Die Mittagsfrau“ und „Rücken an Rücken“ mochte ich sehr. In ihrem neuen Roman „Welten auseinander“ schreibt sie nun offen autobiographisch. Es ist eine Geschichte, die in Ostberlin mit einer Flucht nach Westen beginnt und auch wieder in Berlin endet. Die Liebesgeschichte von Julia und Stephan umklammert den Roman mit seinen Rückblenden und Erinnerungen und schimmert immer wieder funkelnd durch die Dunkelheiten der Familiengeschichte Julias. Sprachlich ist die Geschichte durch mitunter kurze Sätze, die Gedankenfetzen ähneln, geprägt. Sie folgt auch keiner Chronologie. Eher folgt sie einem Bewusstseinsstrom, was ich für autobiographisches Schreiben und speziell in diesem Fall sehr stimmig finde.


Antje Rávik Strubel hat einen besonderen Sprachstil. Sie schafft es aktuelle Themen, Politisches wie Gesellschaftskritisches so zu verarbeiten, dass es nicht plakativ oder künstlich aufgeblasen wirkt, sondern so als wären diese Themen in der Literatur naturgemäß zuhause. Das merkt man auch an der besonderen Tiefe der Texte. Die Autorin hat ein großes Geschick darin, durch Auslassungen Geschehnisse umso intensiver aufzuzeigen. Mit wenigen Worten ist oft klar, was nicht direkt gesagt wird, ja, vielleicht nicht gesagt werden kann. Es ist die Atmosphäre, die Dichtheit, die eindringliche Stimmung, die jedes Kapitel neu und anders prägt. Sie lässt uns sehr überzeugend die übergroße Last ihrer Heldin spüren, deren Innenwelt sich immer wieder im Außen spiegelt. Die Spannung ergibt sich durch die Form des Erzählens: immer mehr wird aus der Lebenswelt der Protagonistin bekannt, je weiter die Geschichte fortschreitet. Ein Puzzleteil fügt sich ans nächste. Langsam erkennt man Hintergründe.

Judith Zander kenne ich bereits als Lyrikerin (siehe voriger Blogbeitrag) und es war der erste Roman, den ich von ihr las. Ihre Sprache ist wunderbar. „Johnny Ohneland“ ist wieder einmal so ein Buch, bei dem für mich die Sprache vor der Geschichte selbst steht. Die Geschichte ist eine Familiengeschichte, eine Entwicklungsgeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte. Wir erleben die Heldin Joana Wolkenzin in ihrer kleinen Heimatstadt im nördlichen Ostdeutschland. Beginnend mit dem Kindergarten, noch vor dem Mauerfall, bei dem sie 10 Jahre alt ist, begleiten wir sie, ihren ein Jahr jüngeren Bruder Charlie und ihre Eltern durch die Zeit bis in ihr Erwachsenenalter. Die eigentlich spektakulären Dinge passieren in Zanders Roman weniger im Außen, als im Inneren der Heldin. Denn sie reflektiert und seziert fast pausenlos ihr Dasein. Für mich als Leserin ist das hochinteressant, denn die Sprache, die die Autorin dabei verwendet sprüht vor Wortspielereien und Metaphern.

Bernhard Schlink: Die Enkelin Diogenes Hörbuch

Es gibt Zeiten, da kann ich mich nicht aufs Lesen konzentrieren, Da ist das eine Buch zu dick, dass andere zu schwierig, ein weiteres zu banal, aber ein Hörbuch kann ich mir anhören. Hörspiele mag ich eher nicht, aber Lesungen, besonders wenn sie wie hier bei Bernhard Schlinks „Die Enkelin“ von so hervorragenden Sprechern interpretiert werden wie Hanns Zischler und Nina Petry. Dass es ein Schlink wurde, liegt am Thema, das mich sehr ansprach. Es geht um eine Liebesgeschichte zwischen Ost und West, ein zurückgelassenes Kind wegen einer Flucht in den Westen, einen Tod und ein aufgefundenes Buchmanuskript, welches allerhand in Bewegung bringt.

Die Geschichte gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil findet Hauptprotagonist Kaspar, 70, seine Frau Birgit tot zuhause in der Badewanne. Sie litt zuletzt unter Depressionen und war alkoholabhängig. Teil der Trauerarbeit ist es Birgits Sachen zu ordnen. Hier findet er ein Manuskript von ihr und beginnt zu lesen.
Nun kommt Birgit zu Wort. Sie erzählt uns ihre Geschichte. Hier ist es Nina Petry, die der Protagonistin ihre Stimme verleiht. Birgit lebt in Ostberlin und studiert. Bei einem Austausch mit Westberliner Studenten 1964 lernt sie Kaspar kennen. Beide verlieben sich. Es beginnt eine Ost/West-Beziehung. Birgit verheimlicht (auch vor sich selbst) lange, dass sie von einem anderen schwanger ist. Heimlich bringt sie das Kind zur Welt und gibt es einer Freundin in Obhut. Danach flieht sie mit falschen Papieren zu Kaspar nach Berlin. Birgit studiert, Kaspar wird Buchhändler. Sie gründen zusammen eine Buchhandlung, kaufen eine Wohnung. Kaspar merkt schnell, dass Birgit ein sehr starkes Eigenleben führt. Es scheint, als wäre sie andauernd auf der Suche nach sich selbst. Warum weiß er nicht. Von dem Kind hat sie ihm nie erzählt.

„Sie habe keine Depressionen, es gebe keine Depressionen. Es gebe melancholische Menschen, es habe sie immer gegeben, sie sei einer. Sie wolle sich nicht von Medikamenten in einen anderen Menschen verwandeln lassen. Dass jedermann ausgeglichen und zuversichtlich sein müsse, sei törichtes modernes Zeug. In der Tat war sie, auch wenn sie keine Depression hatte, nachdenklicher, ernsthafter, schwermütiger als andere.“

Hanns Zischler liest nun weiter vor: Kaspar fragt sich, wie er in den vielen Ehejahren so wenig über seine Frau wissen konnte. Dass es ein Kind gab, erschüttert ihn, vor allem auch, weil sie beide zusammen nie Kinder hatten. Er macht sich auf die Suche nach der verlorenen Tochter, warum weiß er selbst nicht, vielleicht weil Birgit in ihren Aufzeichnungen andeutet, dass sie wissen wollte, wie es der Tochter ergangen ist. Ihre bisherigen Recherchen greift Kaspar auf und fährt zuerst zu jener Freundin, mit deren Hilfe Birgit das Kind bekam. Von Berlin aus macht er sich auf in den Nordosten des Landes, der so ganz anders tickt, als die Hauptstadt. Schließlich findet er die Tochter, Svenja, die nun selbst eine 14-jährige Tochter hat und die mit ihrem Mann in einer ganz anderen Welt lebt. Sie sind Bewohner einer völkischen Siedlung auf dem Land und höchst misstrauisch gegenüber Fremden. Dass sich Kaspar dennoch so weit hineinbegeben kann, liegt daran, dass er vorgibt, Birgit hätte in ihrem Testament auch die verschollene Tochter bedacht.

Hier muss ich zugeben, kommt mir die Geschichte ein wenig unrealistisch vor. Wie kommt ein Buchhändler zu so viel Reichtum, um die Enkeltochter Sigrun sozusagen `freizukaufen´? Denn er bietet an, sie in den Ferien zu sich zu holen, damit sie sich kennenlernen können. Auch hier hege ich Zweifel, ob völkische Eltern ihre Tochter einfach so zu einem Fremden in die Hauptstadt schicken würden. Gleichzeitig verstehe ich Kaspar nicht, was er sich davon erhofft.

Trotzdem höre ich mit Spannung weiter und Schlink schafft es dann auch ziemlich gut den Zwiespalt Kaspars darzustellen, der natürlich mit Sigruns Vorstellungen von Deutschtum etc. einher geht. Tatsächlich gelingt es ihm dann mitunter sie auf neue Spuren zu bringen und bei ihr die Liebe zur Musik (unabhängig von deutschen Komponisten), sogar zum Klavierspiel zu erwecken, ohne allzu oberlehrerhaft zu wirken. Doch ein bisschen ist es wie ein Krebsgang: zwei Schritte vor, einen zurück.

Sigruns Vater passt das eines Tages nicht mehr und er untersagt Kaspar jeden weiteren Kontakt. Der findet sich damit schwer ab. Als dann zwei Jahre später Sigrun in den typischen Klamotten der Autonomen Nationalisten völlig aufgelöst vor seiner Tür steht und um Hilfe bittet, kann er nicht anders und lässt sie herein …

Ich finde es nach wie vor gut, dass das Thema Ost-West in die Literatur Eingang findet, denn es ist eben keine Einheit geworden, wie man damals hoffte. Noch immer gibt es diese enormen Unterschiede, die auch thematisiert werden sollten. Das Ende seiner Geschichte ist Schlink gut gelungen. Auch hier hatte ich Angst vor einem allzu künstlichen Schluss. Schlink ist ein sehr sehr guter Erzähler, mitunter etwas altbacken. Dass er keine sprachlichen oder formellen Besonderheiten bietet, war zu erwarten. Zischlers Stimme trug mich durch 8 Cd`s in 9 Stunden und 35 Minuten. Eine Hörprobe gibt es hier.

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht Frankfurter Verlagsanstalt

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Nach dem wunderbaren Leseerlebnis mit Nino Haratischwilis Roman „Das achte Leben“ über eine Schokoladenfabrikdynastie in Georgien war ich sehr gespannt auf den neuen Roman. Fast ebenso dick, über 800 Seiten, die mir bei „Das achte Leben“ fast zu kurz vorkamen, bin ich diesmal etwas verhaltener. Das liegt sicher vor allem am Inhalt. Ich konnte diese Geschichte nicht als eine große Geschichte der Freundschaft lesen, sondern las vor allem über Gewalt. Ob das nur mir so ging?

Der Roman schildert das Leben und Erleben von vier Freundinnen, seit Beginn ihrer Freundschaft zu Schulzeiten in den 80er Jahren: Dina, Nene, Ira und Keto. Aus dem Blickwinkel von Keto wird auch der ganze Roman erzählt. Wir erfahren gleich zu Anfang, dass eine der Freundinnen nicht mehr lebt. Die anderen treffen sich nach über 20 Jahren, es ist inzwischen 2019, zum ersten Mal wieder, anlässlich einer großen Foto-Ausstellung, die nach dem Tod Dinas, der Fotografin, in Brüssel stattfindet. Anhand der Fotos, die Keto der Reihe nach in der Galerie betrachtet und sich erinnert, hören wir von den jeweiligen Situationen im Leben der Freundinnen. Unterbrochen vom aktuellen Geschehen in der Galerie, tauchen wir immer wieder in die Geschichte der Mädchen, die alle in Tiflis lebten ab, aber eben auch in die Geschichte Georgiens mit ihren Wandlungen während der Zeit von Gorbatschows Perestroika unter der Sowjetunion über die folgenden oft blutigen Kämpfe mit teils bürgerkriegsähnlichen Zuständen bis zur Unabhängigkeit.

Gleichzeitig erleben die Mädchen, deren Zusammenhalt trotz ihres unterschiedlichen Charakters, zunächst sehr stark ist, ihren Schulabschluss, ihre erste Liebe, ihre ersten Studien- und Berufserfahrungen. Ira beginnt ein Jurastudium, Keto studiert Restaurierung, Nene heiratet, aber nicht den, den sie liebt, Dina fotografiert und arbeitet bei einer Zeitung. Die jungen männlichen Protagonisten hingegen, Ketos Bruder, der mit Dina zusammen ist, Lewan, den Keto sehr mag, Nenes ungewollter Ehemann etc. sind alle mehr oder minder in der Unterwelt tätig, wo Bandenkriege herrschen, wo es um selbstgefällige Männlichkeit geht, um Schutzgelderpressung, wo Ehre und Ehrenmorde wichtig sind, wo es um Äußerlichkeiten und Reichtum mit entsprechenden Symbolen geht. Und mit alledem geht ein krudes Frauenbild einher: die Herabsetzung der Frau (vor allem, wenn sie eine eigene Meinung hat) himmelweit von Gleichberechtigung entfernt.

„In unserer Stadt waren die Mädchen pudrig und hauchzart, sie waren dafür gemacht, an der Ehre der Männer zu weben und ihnen warmes Brot zu backen. […] In unserer Stadt waren die Mädchen Goldfische, denen die Jungen Aquarien zu bauen hatten, um ihre liebsten Fische darin schwimmen zu lassen. In unserer Stadt waren die Mädchen flügellose Engel an dünnen Fäden, festgehalten von Müttern, Tanten, Großmüttern, die einst auch nicht hatten davonfliegen dürfen.“

Und genau das macht es mir schwer, den Roman zu lesen: Ketos Bruder, der Nene beschuldigt am Tod ihres Liebhabers Saba Schuld zu sein, weil sie nicht ihrem rohen, ungeliebten Ehemann treu ist, den sie nie wollte. Dabei ist natürlich ihr Ehemann Schuld, der seine „Ehre“ mit einem Mord verteidigen „muss“. Lewan, der dann eben jenen Liebhaber, seinen Bruder Saba, unbedingt rächen muss, der „Familienehre“ wegen, und der seinen Frust und seine unausgesprochenen Gefühle abreagiert, indem er Keto beinahe vergewaltigt. usw. usw.

Will ich das weiterlesen, denke ich nach etwa 400 Seiten? Bereits im Roman „Löwenzahnwirbelsturm in Orange“ der Georgierin Tamar Tandaschwili las ich von solcher Misogynie, die offenbar bis in die Heutezeit reichen. Aber eben auf 180 Seiten, nicht auf 800. Scheinbar hat sich in Georgien nicht viel verändert, was Frauenrechte/sicherheit angeht? Womöglich hat sich überall nichts Wesentliches geändert? Ich denke an die Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Ich denke an die Mädchen in Indien, die einer Massenvergewaltigung zum Opfer fallen oder einem Säureanschlag oder gleich schon als Fötus wegen ihres Geschlechts abgetrieben werden. Ich denke an die Nachrichtensprecherinnen in Afghanistan, die auf Anordnung der Religionspolizei nun ihr Gesicht wieder verhüllen müssen. Wo bleiben die Frauenrechte? Mein Leseerlebnis dieses Romans lief immer wieder in genau diese Richtung, obwohl es sicher nicht der Ganzheit des Romans gerecht wird. Und so las ich dennoch weiter …

In nächsten größeren Abschnitt geht es gleich weiter mit mafiösen Strukturen (Schutzgelderpressungen, Bandenkriege, rohe Gewalt, Korruption, Drogenhandel) und frauenfeindlichem Verhalten. Die vier Freundinnen sind wirklich nicht zu beneiden in dem, was sie in solchen gesellschaftlichen Strukturen in dieser Zeit durchleben. Und es geht immer weiter mit Krieg und Gewalt, im Kleinen wie im Großen.

„- Er wird für alles Büßen. Das kannst du ihm ausrichten. Und wenn ich mitbekommen sollte, dass du dich weiterhin mit ihm triffst, dann werde ich dich umbringen. Dina, hörst du? Ich lasse nicht zu, dass du meinen Namen mit Dreck besudelst. –
Er hielt ihr die Messerspitze an die Kehle.“

Dina flieht vor einer zerbrochenen Liebe als Kriegsfotografin nach Abchasien. Ira geht mit Stipendium in die USA. Nene bekommt ein Kind. Keto fühlt sich für alle verantwortlich und vergisst dabei oft, sich um ihr eigenes Leben zu kümmern. Sie lässt sich auch wieder auf diesen Lewan ein, bis alles wieder eskaliert. Ich bin beim Lesen mittlerweile wirklich richtig wütend. Niemals würde ich in solch einem Land leben wollen. Und ich wünsche mir sehr, dass die Freundinnen endlich diesen Kreislauf durchbrechen, endlich ausbrechen aus diesem von Männern bestimmten und beaufsichtigtem Leben. Doch durch all die Geschehnisse leidet auch die Freundschaft. Und durch Ira, inzwischen Anwältin, die für Nene, mehr als Freundschaft empfindet, die diese aber nicht erwidert, werden die Risse zwischen den Frauen immer größer. Und sie tun sich erneut auf, als sich die drei bei der Ausstellung nach so langer Zeit wieder in die Augen sehen …

Was als Schmöker erfreulich begann, wurde beim Lesen für mich zeitweise zu einer Tortur (siehe oben). Haratischwili kann Geschichten erzählen. Absolut! Doch für mich bleibt dieser Roman hinter „Für Brilka“ zurück. Mitunter war mir der Ton sehr pathetisch, auch die Liebesszenarien empfand ich als eher kitschig. Aber ich habe es zu Ende gelesen und war dann wieder etwas versöhnt, wie auch die Protagonistinnen. Fazit: Für Fans sicher ein Muß, für „Anfänger“ empfehle ich eher „Das achte Leben“. Was mich allerdings brennend interessieren würde, sind die Theaterstücke, die Haratischwili aus den Romanen gemacht hat. So weit ich weiß stehen sie aber nur in Hamburg auf dem Spielplan.

Der Roman erschien bei Frankfurter Verlagsanstalt. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Letteratura: https://letteraturablog.wordpress.com/2022/05/20/nino-haratischwili-das-mangelnde-licht/

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer S. Fischer Verlag

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Ich bin großer Fan von  Reinhard Kaiser-Mühleckers Büchern. (Und nach dem letzten etwas schwächeren auch wieder sehr beeindruckt) Sie sind so wunderbar un-zeitgeistig und nicht-mainstream, die Sprache eher altmodisch, dabei aber keineswegs altbacken. Gerade für Stadtmenschen, Home-Office-Arbeitende und Intellektuelle bieten sie einen ungeschönten Einblick in bäuerliche, dörfliche Strukturen und die harte Arbeit in der Landwirtschaft. Einen wichtigen Blick über den Tellerrand hinaus.

Mich hat Kaiser-Mühlecker wieder in eine Zeit versetzt, in der ich selbst auf dem Land lebte und einige der traditionellen dörflichen Strukturen, die beispielsweise auch auf dem Bauernhof von Jakob, der Hauptfigur, herrschen, miterlebt habe. Tatsächlich scheint der Roman fast direkt an seinen Roman „Dunkle Seele, tiefer Wald“ (Link dazu unten) anzuschließen. Wir begegnen dem gleichen Personal. Jakob führt den Bauernhof der Eltern schon seit er 15 ist, der Vater ein Träumer und Tunichtgut, der Bruder inzwischen verheiratet in Wien lebend und die Schwester Luisa, die ihr Leben auch nicht so recht auf die Reihe bekommt, zumindest aus Jakobs Sicht. Der Roman „Wilderer“ beginnt gleich auf der ersten Seite mit einer Russisch Roulette-Szene …

Inzwischen in den Zwanzigern ist Jakob immer noch ein Einzelgänger, der wenig Kontakt im Dorf hat und wenn dann nur aus beruflichen Gründen. Bisher mit einigen Projekten gescheitert, scheint sich die Freilandhühnerhaltung nun endlich auszuzahlen. Gleich eingangs kommt es zu einer Unbehagen verursachenden Szene, in der Jakob seinen eigenen Hund vergiftet, weil dieser wildert und nicht mehr auf seine Befehle hört (was auch den Buchtitel erklärt).

„Tat er jemals nichts? […] Doch da im Radio redeten sie ja nicht davon, sondern von irgendwas mit Kreativität und so Zeug, das er – Leute wie er, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienten, für die die Gesellschaft seit jeher nur Spott und seit einer Weile auch noch Kritik übrig hatte, weil sie angeblich die Natur zerstörten oder das Klima oder was – sich nicht leisten konnte.“

Als er durch eine Nebentätigkeit in der Dorfschule die Künstlerin Katja kennenlernt, die ein Aufenthaltsstipendium im Ort hat, ist sie ehrlich interessiert an ihm und seiner Arbeit in der Landwirtschaft. Als er ihr schließlich den Hof zeigt, beschließen beide, dass sie ein Praktikum von vierzehn Tagen bei ihm machen kann. Die Arbeit scheint ihr wider Jakobs Erwarten gut zu gefallen und auch gut zu gelingen. Sie verlängern die Zeit und Katja bringt sofort eigene Vorschläge und Ideen zur Verbesserung mit ein. Sie gibt ihre künstlerische Tätigkeit ganz auf und zieht auf den Hof. Aus beiden wird schließlich ein Paar. Die treibende Kraft geht in fast allem von Katja aus. So auch die Idee, die Landwirtschaft vollkommen auf biologischen Anbau und Tierhaltung umzustellen. Jakob bleibt in allem, zumindest in meinem Gefühl als Leserin, sehr distanziert, mitunter kühl. Gefühle, Emotionen scheinen im äußerst fremd zu sein, Gespräche führen außerhalb des Kontexts der Arbeit kaum möglich. Selbst wenn gute Dinge passieren – ein gutes Ernteergebnis, ein schöner Abend mit Katja oder sogar die Geburt des Sohnes – scheint er es einfach als gegeben hinzunehmen.

Der Hof entwickelt sich sehr gut, Katja bleibt nach der Geburt des Kindes weiter gut eingebunden, kann sich später sogar über ein Kunst-Aufenthalts-Stipendium freuen. Der Leser vermutet richtig, wenn er darin erkennt, dass Katja durchaus weiter als Künstlerin arbeiten will, sozusagen einen Plan B im Hinterkopf hat.  So, als würde sie sich Jakobs nie sicher sein. Was letztlich auch stimmt …

Katja bereitet ein großes Fest vor, weil der Hof aufgrund seiner Innovationen geehrt werden soll, viele Gäste sind da, das regionale Fernsehen berichtet. Alles könnte gut sein. Doch als der neue Hund, der lange in der Familie von Jakobs Bruder gelebt hat, wie der Vorgänger zu wildern beginnt, scheint in Jakob etwas ausgelöst zu werden, etwas Böses, Ungehaltenes, vielleicht lange Angestautes, durch Kleinigkeiten (die wir Leser durchaus wahrnehmen) Geschürtes, das sich nun Bahn bricht … Klingt in meinen Worten pathetischer als es ist, dazu schreibt und konstruiert Kaiser-Mühlecker viel zu gut.

„Vor langer Zeit, am Ende der Kindheit, mit zwölf oder dreizehn, war etwas über ihn gekommen, das ihn nie mehr verlassen hatte seither, das Gefühl, aus dem Dasein verbannt worden zu sein, aber nicht ins Jenseits oder ins Nichts, sondern wie in ein Abseits, in dem er aber nicht wirklich weiterleben durfte. Am Fenster des Daseins: Dort saß er und wartete. So hatte er sich da auf einmal gefühlt, ausgestoßen … Ein Schatten hatte sich damals über ihn gelegt, von dem er nach bald zehn Jahren längst nicht mehr annahm, er werde je wieder weichen.“

Generell liegt über dem Roman eine verschwimmende Düsternis, so als wäre die Hauptfigur nicht fähig, das Licht zu sehen. Melancholisch bis todessehnsüchtig (bedenkt man die erste Szene), aber auch auf eine Weise gleichgültig ob aller möglichen bewegenden Geschehnisse. Ein irgendwie geheimnisvoller, aber eben auch un(be)greifbarer Held. Für diesen neuen Roman: Ein Leuchten!

Der Roman erschien im S. Fischer Verlag und stand im Monat Mai auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. 

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Letteratura.

Weitere Besprechungen zu Büchern von Reinhard Kaiser-Mühlecker hier auf dem Blog:

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Fremde Seele, dunkler Wald S.Fischer Verlag

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Zeichnungen S. Fischer Verlag

Kristine Bilkau: Nebenan Luchterhand Verlag / Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige Dumont Verlag

Heute ganz kurz ein Blick in zwei Romane, die mich neugierig gemacht hatten, die mich aber nicht in Gänze erreicht haben. Das hat sicher weniger mit der Qualität, eher mit der jeweiligen Thematik zu tun, die mich zeitweise sehr genervt hat und die sich an einigen Punkten auch überschneidet.

„Die Glücklichen“ und „Eine Liebe in Gedanken“ von Kristine Bilkau gefielen mir sehr. So war ich gespannt auf den neuen Roman „Nebenan“. Leider hat es nicht ganz geklappt mit uns beiden.

Es geht um ein Paar, Julia und Chris, um die vierzig, dass von Hamburg aufs Land gezogen ist, er ist Biologe und setzt sich für den Umweltschutz ein und sie ist Keramikerin, hat im kleinen Ort auch einen Laden eröffnet, verkauft aber das meiste über ihre Website. Als eines Tages die Nachbarn verschwunden sind, macht sich die Hauptprotagonistin Julia Gedanken. Auch die zweite Hauptfigur, Astrid, etwa 60-jährig, hat mit Widrigkeiten zu tun. Sie ist Ärztin und lebt mit ihrem Mann, der bereits in Rente ist ebenfalls im Ort. Das Bindeglied dazu ist Elsa, 80-jährig. Sie ist die Nachbarin schräg gegenüber von Julia und Tante von Astrid. Die Autorin erzählt wechselweise aus der Perspektive der zwei Frauen. Die eine bekommt seltsame Drohbriefe und sorgt sich um Elsa; die andere hadert mit dem unerfüllten Kinderwunsch, fragt sich gleichzeitig, ob man in diese Welt eigentlich noch Kinder setzen darf und sorgt sich um das verlassene Nachbarshaus.

Es passieren seltsame Dinge, die in keinem rechten Zusammenhang stehen und für mich scheint der Roman zu sehr aus einem Konglomerat möglichst vieler zeitgeistiger Themen wie Klimawandel, Umweltverschmutzung durch Mikroplastik, Mutterschaft, Social Media zu basieren. Die Geschichte selbst geht unter oder aber ich finde sie nicht. Aber vielleicht passt der Roman auch einfach nicht zu meinen derzeitigen Leseinteressen.

Social Media und Kinder ist auch das Thema, dass beide Romane verbindet. Julia in „Nebenan“ schaut sich Videos von glücklichen Müttern, Kindern und Familien an, während die Hauptfigur Mélanie in „Die Kinder sind Könige“ diese Videos mit ihren kleinen Kindern dreht (Stichwort Unboxing) und damit Millionen Klicks erreicht und unglaublich viel damit verdient. In beiden Büchern gibt es zwei sehr unterschiedliche Frauen als Hauptfiguren.

Delphine de Vigans Romane mag ich ebenso. Hier besprochen habe ich bereits „Nach einer wahren Geschichte“. „Die Kinder sind Könige“ hat mich gerade auch wegen der Thematik interessiert. Denn man könnte auch meinen, und auch das wird im Roman thematisiert, dass diese Mütter ihre Kinder ausbeuten und ihnen die Kindheit stehlen. Denn tatsächlich sind Mélanies Kinder zunehmend weniger glücklich darüber, ständig vor die Kamera gezerrt zu werden. Mir sträubten sich die Haare, als ich las, was die 6-jährige Kimmy und der 8-jährige Sammy alles über sich ergehen lassen müssen. Privatsphäre gibt es kaum mehr, alles wird vermarktet. Die Werbung, die dabei für alle möglichen Marken gemacht wird, bringt gutes Geld. Und Mélanie, die mit dem Filmen begann, weil sie die anderen Filmenden mit ihren glücklichen Familien so toll fand, die aber mittlerweile ihre große Konkurrenten sind, meint, ihre Kinder damit ja finanziell unabhängig zu machen. Mélanie überwacht streng die Anzahl ihrer Follower. Sie will die Bekannteste sein. Sie scheint die Probleme nicht zu sehen, die Tochter, die sich immer mehr sträubt, nicht ernst zu nehmen. Da wurde ein eigenes Filmstudio in einer gekauften Nachbarwohnung eingerichtet, Mélanies Mann gab seine Arbeit auf, sein Verdienst wurde nicht mehr benötigt. Die Wohnung quillt über von Waren, die alle längst nicht mehr brauchen.

Als die kleine Tochter auf dem Grundstück der abgeschlossenen teuren Wohnanlage verschwindet, kommt die Polizistin Clara, die zweite Hauptfigur ins Spiel, die im starken Gegensatz zu Mélanie steht. Vigan schildert im letzten Kapitel auch die langfristigen Folgen, die die „Königskinder“ treffen …

Mich hat es wirklich entsetzt, was Social Media aus Menschen machen kann. Nicht dass mir das nicht klar war, wie dieses schnelllebige Medium die Welt verändert. Ich bin ja mit meinem Blog und meinen Kanälen mittendrin. Und doch kenne ich Grenzen. Ich finde es einfach schlimm, dass Kinder von ihren Eltern, die das aufgrund von Ruhm und Geld tun, so ausgenutzt werden. Liebe ist das nicht. Das ist Egoismus.
Ich gebe zu, meine Besprechung ist diesmal besonders subjektiv, aber manchmal ist das eben so.

Nebenan“ erschien im Luchterhand Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. „Die Kinder sind Könige“ erschien im Dumont Verlag in der Übersetzung von Doris Heinemann.

Andrea Scrima: Kreisläufe Literaturverlag Droschl

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„Wenn wir nur die Vergangenheit hinter uns bringen könnten und mit ihr die Fehler der Menschen, die uns erschaffen und dann beinah gebrochen haben, könnten wir glücklich sein.“

Es ist der zweite Roman der 1960 in New York geborenen und in Berlin lebenden Künstlerin Andrea Scrima. Nach Wie viele Tage , das mir sehr gefiel, lese ich nun „Kreisläufe“ und finde eine Art Ergänzung zum vorigen Roman vor. Ebenso wie zuvor ist es vor allem auch die Sprache, der Ausdruck innerer Vorgänge und Reflexionen, die Komplexität und die Vielschichtigkeit, die mir das Buch zu etwas Besonderem machen. Ging es zuvor vorrangig um die Lebenswege und Verortungen in der Vergangenheit und Gegenwart, wird nun einerseits die Beziehung zur Mutter und zum Vater thematisiert, aber auch die zum Lebensgefährten.

„Berlin war eine ganz eigene Variante von Nirgendwo; ich hatte meinen Platz unter den Außenseitern und Ausreißern der Stadt gefunden […] Ich redete mir ein, geblieben zu sein, um abseits des Kunstmarkts arbeiten zu können, in Wirklichkeit versteckte ich mich vor etwas, aber das war mir damals nicht bewusst.“

Die Künstlerin Felice lebt in Berlin und hat ihre erste Einzelausstellung in New York, ihrer Heimatstadt. Sie verbindet den Anlass ihrer Reise mit dem Besuch bei der Mutter. Der Vater ist bereits tot, die drei Geschwister an unterschiedlichen Lebensorten angekommen. Sobald sie das Haus betritt, umfängt sie die düstere Atmosphäre der Kindheit. Sie beschreibt gleich eingangs ganz wunderbar, was mit ihr passiert: Sie öffnet den Küchenschrank und findet Büchsen von Nahrungsmitteln vor, eine fällt ihr direkt entgegen. Und nun öffnet sich sinnbildlich eine nach der anderen, jede enthält Erinnerungen, die meisten davon sind keine schönen. Nach und nach und in vielen Zeitsprüngen gelangen wir tiefer in die Familie der Heldin. Anhand von einzelnen Ereignissen, zeigt sich das Bild immer deutlicher, das Bild einer dysfunktionalen Familie. Zwischen der unberechenbaren, manipulierenden Mutter und der Tochter herrscht ein gespanntes Verhältnis, das beide wie eine unsichtbare Mauer voneinander trennt. Jeder Versuch der Aussprache seitens der Tochter ist zum Scheitern verurteilt. Über eine Art Smalltalk geht es nie hinaus, die Mutter blockt, wo die Tochter sich Erklärungen und Anerkennung wünscht. Tatsächlich blitzt die Anerkennung dann einmal kurz hervor, als die Mutter, die Schwester und eine Nachbarin die Ausstellung Felices in der Galerie besuchen, obwohl es womöglich eher darum geht, diese mit dem Berühmtsein der Künstler-Tochter zu beeindrucken.

Zwischendurch erinnert sich Felice an die Zeit, als sie von zuhause auszog, an die Beziehung mit einem Mitstudenten, an die konzentrierte Atelierarbeit während des Studiums, diese magische Zeit, die immer auch mit Geldmangel verbunden war, aber auch ihr Schwangerschaftsabbruch wird thematisiert. Auch später beim Studium in Berlin öffnen sich manche Türen und Felice hat mehrere Ausstellungen an verschiedenen Orten Deutschlands.

„Meine Familie hatte mich aus der Bahn geworfen. Uns alle hatten unsere Familien aus der Bahn geworfen – Bobby, Rick, Sunny und mich – und die Kunst war unser Versuch wieder eine Ordnung herzustellen.“

Im zweiten Teil rückt der Vater in den Vordergrund, dessen Tagebuchkalender Felice nach dem Tod des Vaters findet und mit zurück nach Berlin nimmt. Sie entdeckt, dass der Vater an Depressionen litt und Psychopharmaka nahm, dass er fortweg arbeitete, um die 6-köpfige Familie zu ernähren. Ich spüre hier eine besondere Zuneigung der Tochter zum Vater; das Verhältnis scheint ein viel innigeres gewesen zu sein, als zur Mutter. Jeder Tagebucheintrag weckt Erinnerungen und ruft Bilder hervor; doch manches bleibt für immer im Dunklen. Scrima schreibt sich hier an den Tagebucheinträgen entlang, die meist nur aus kurzen Stichworten bestehen und auch keine spektakulären Ereignisse aufzeigen. Oft geht es um die Arbeit, manchmal ums Wetter oder neue Anschaffungen. Diese Art des Schreiben ist anders, als der erste Teil, der für mich persönlich ausdrucksstärker wirkte, weil sich die Sprache mehr ausdehnen darf. Auch Träume und ihre möglichen Deutungsvarianten spielen durchweg eine Rolle.

In beiden Teilen liegt auch immer wieder der Fokus auf der Partnerschaft mit Michael. Michael ist in der DDR aufgewachsen und wegen zu viel Widerstand und Eigenwillen gegen das System in einen Jugendwerkhof und in Haft gebracht worden. Die Geschehnisse haben in extrem traumatisiert, so dass er nach dem Fall der Mauer zunächst begeistert die neu gewonnene Freiheit nutzt, bald jedoch von der Vergangenheit wieder eingeholt wird und aus mangelndem Vertrauen immer mehr auf Rückzug geht. Auch Felice gegenüber. Gespräche sind kaum möglich. Scrima beschreibt hier sehr klar und eindringlich, wie stark die Veränderungen durch den Fall der Mauer, die Menschen, die in viel zu kurzer Zeit in einer vollständig anderen Staatsform leben sollten, verunsicherte und teils komplett aus der Bahn warf.

„Ich würde ihm (Anmerkung: dem Vater) erzählen, wie mit der Wiedervereinigung eine einzige entzweigerissene Psyche, deren eine Hälfte ihre schlimmsten Ängste auf die andere projizierte, in eine deutsch-deutsche Romanze verfiel, in einen plötzlichen Rausch, der die verheerenden Schäden verleugnete, die das Verschmelzen der beiden grundsätzlich verschiedenen Staaten an den Menschen der früheren DDR anrichtete, deren Land sich mit einer schwindelerregenden Plötzlichkeit in Luft aufgelöst hatte, mit allem, wofür es einst gestanden hatte.“

Die beiden bekommen einen Sohn und trotzdem bestreitet Felice fast allein den Lebensunterhalt mit Übersetzungen. Die Kunst bleibt dabei auf der Strecke. Erst mit der Trennung beginnt ein neues Kapitel, mit dem auch Sohn Max im Text in den Mittelpunkt rückt.

Der Roman ist sprachlich so gekonnt und formell so gut gelungen, dass ich einfach nur beeindruckt bin, wie die Autorin Erinnerungen so aufbereitet, dass sie literarisch leuchten. Dennoch hat mich die Geschichte, obwohl sie mich tief berührt, zeitweise ziemlich mitgenommen, da ich so einige Übereinstimmungen zu meinem eigenen Leben fand. Wenn Literatur so tief auf mich wirkt, ist das für mich doch immer ein großer Gewinn. Besonders intensiv und wunderschön zu lesen, fand ich die Sequenzen, in denen fast nichts passiert, die nur einen Augenblick einfangen, eine Betrachtung, eine Empfindung und diese dann durch Nachdenken und Nachspüren ausdehnen und ins Literarische überführen. Ein Leuchten!

„Kreisläufe“ erschien im Literaturverlag Droschl. Aus dem Amerikanischen übersetzt hat es Andrea Scrima selbst zusammen mit Christian von der Goltz. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Stewart O`Nan: Ocean State Rowohlt Verlag

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Stewart O`Nans neuer Roman Ocean State fügt sich nahtlos in die Reihe seiner vorigen Romane ein. Er ist einer der großen US-amerikanischen Erzähler. Immer lesenwert, dabei unspektakulär, wechselnde Themen, fein konstruiert und kurzweilig erzählt. Ich habe in den letzten Jahren einige seiner Romane gelesen, zwei auch bereits auf dem Blog besprochen. Siehe unten.

Wir befinden uns in der Stadt Westerly, Rhode Island, USA. Die Geschichte dreht sich um einen Mord, der von einer 18jährigen Highschool-Schülerin begangen wird. O`Nan beginnt mit dem Treffen des jungen Liebespaares Birdy und Myles, die eigentlich beide mit einem anderen Partner zusammen sind. Was für Myles wohl nur ein Abenteuer ist, fühlt sich für Birdy wie die große Liebe an. Birdy, eigentlich Beatrix lebt bescheiden mit ihrer alleinerziehenden Mutter, von Myles erfährt man nur, dass er aus einem reicheren Elternhaus kommt. Seine Freundin Angel lebt mit ihrer Mutter Carol und ihrer 13jährigen Schwester Marie, aus deren Perspektive auch die meiste Zeit erzählt wird in einer schlechten Wohngegend. Der eintönige Alltag besteht aus Schule, Arbeit, fernsehen, durchbrochen von wenigen feierlichen Anlässen wie Halloween oder Weihnachten. Die Mutter, die regelmäßig trinkt, bringt immer wieder neue Männer mit, auch Angel ist viel unterwegs. Marie fühlt sich alleingelassen und nicht gesehen. Immer wieder wird sie zur Großmutter abgeschoben. Denn sie ist in der Familie die brave Tochter. Im Gegensatz zu Angel, die wohl öfter über die Stränge schlägt. Aus Frust isst sie zu viel, fühlt sich dabei minderwertig gegenüber ihrer hübschen Schwester Angel.

„Wir fürchteten Dramen, waren aber auch süchtig danach. Weil wir jung waren, hielten wir uns für stark. Wir dachten, wir wären abgehärtet. Wir wollten, dass das Schlimme schnell passierte, damit die schmerzlichen Augenblicke vorüber waren und wir unser normales, langweiliges Leben fortsetzen konnten.“

Der Autor schafft es über mehr als die Hälfte des Buches die Spannung zu steigern, bevor die Tat wirklich begangen wird. Geschickt geht er dabei vor und schildert gekonnt die einzelnen Charaktere, die Abhängigkeiten und die Unsicherheiten der Paare im Collegealter, aber auch die deren Eltern. Man erinnert sich dabei selbst an die eigene Zeit der ersten bedeutungsvollen Liebe und des furchtbaren Liebeskummers. Beim Lesen dachte ich dann oft, wie abgeklärt man die Geschichte jetzt im fortgeschrittenen Alter liest und sich wundert, wie ernst und tragisch das alles damals war, als die Gefühle Achterbahn fuhren.

O`Nan lässt uns Leser nicht erfahren, was und wie genau der Totschlag passiert, erzählt auch wenig über die Phase der Inhaftierung, außer, dass die Tat im Strandhaus von Myles Eltern geschah, welches auch der Treffpunkt der beiden Liebenden war. Die Täterin scheint nach Außen hin kühlen Kopf zu bewahren, so als wäre sie vollkommen unbeteiligt.

„Egal, ob es ein Unfall war oder nicht, sie weiß, dass sie Reue empfinden sollte, doch wenn sie ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie irgendwie wollte, dass das kleine Miststück tot ist. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. In ihren schwächsten Momenten schließt sie ihre Tür ab, kniet sich wie ein Kind vors Bett und erfleht die Barmherzigkeit Gottes.“

Tatsächlich blieb mir aus meiner Sicht unerklärlich, wie man eine solche Tat, die in diesem Fall ja im Ansatz geplant war und dann aus dem Ruder lief, begehen kann. Aus beleidigtem Stolz? Aus Nervenkitzel? Was muss passieren, damit man soweit geht? Es erschließt sich mir nicht. Und das sagt auch Marie, die im abschließenden Kapitel rückblickend von den weiteren Geschehnissen und der Zukunft der Protagonisten erzählt. Sie ist die einzige, die weiter im Ort lebt, und als Lehrerin noch lange mit der Geschichte von Außen konfrontiert wird.  Einen Krimi sollte man nicht erwarten, aber eine spannend beleuchtete Milieustudie.

Der Roman erschien im Rowohlt Verlag. Übersetzt hat wie immer Thomas Gunkel. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere Besprechung gibt es bei Letteratura. Ein schönes Interview mit dem Autor gibt es hier.

Zwei weitere Romane des Autors habe ich hier besprochen. Auch „Die Chance“ empfehle ich sehr.

Stewart O`Nan: Stadt der Geheimnisse Rowohlt

Kerstin Becker: Das gesamte hungrige Dunkel ringsum Edition Azur

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„wir sind am Anfang durchlässig
und weich und lernen fortan
zu verhärten“

Der neue Lyrikband von Kerstin Becker strahlt ins Dunkel hinein, um auf den Titel des Buches zuzugreifen. Das Dunkel wird hier kompromisslos ausgeleuchtet, wie mit einer Taschenlampe punktgenau getroffen. Das Dunkel, das wir alle kennen, aber manche eben wesentlich mehr. Es beginnt mit der Zeugung, weiter mit der Geburt, wo die Dunkelheit verlassen werden muss und der Start ins Leben grell beleuchtet ist. Es beginnt mit dem Babyflaum und was am Ende bleibt, ist die kratzige Kunstwolle, die nach dem Tod aufgedröselt und wieder verwendet wird. Kerstin Beckers Gedichte spannen einen Bogen vom Anfang zum Ende eines Menschenlebens, eine Lebenszeit. Wie unterschiedlich diese verlaufen kann erfahren wir auch. Wir hören viel mehr vom Dunkel, das immer da zu sein scheint ganz in der Nähe, lauernd. Die Helligkeit nimmt ein viel geringes Maß ein. Kommt zu kurz, wie das eben in manchen Menschenleben so ist. Trotz aller Dunkelheit empfinde ich Kerstin Beckers Gedichte nicht bitter oder resignierend, sondern durchaus kraftvoll und weit, die Sprache manchmal rau und dann wieder zart.

Das Aufwachsen, die Kindheit scheinen auf, ein Leben in den Wäldern, den Wiesen, ein ländliches Leben. Immer mit der Natur, erdig, sinnlich, sehr körperlich, auch eklig und dreckig. Wildwuchs, Wachstum. Geräusche, Gerüche. Freundschaft und Blutsschwesterschaft. Hier ist es oft schön hell. Schnell zeigt sich dann aber doch wieder der Unterschied zwischen arm und reich, zwischen weiblich und männlich, zwischen wollen und sollen, zwischen Zwang und Freiwilligkeit. Missbrauch und Gewalt schweben im Raum eines Gedichts, dürfen es auch, dürfen benannt und ausgesprochen werden in diesem Rahmen.

„wir gleichen unseren Puls dem Puls der letzten Wälder an
wie später einmal unsere Mens die Sommersonne
spinnt weiße Waben unter unsre Lider“

Im großen Gegensatz zum Dunklen wird immer wieder die Natur besucht. In den Wald und über die Felder. Durchatmen, Wahrnehmen. Die Bäume, die Wiesen – sie sind Heil- und Ruhemittel. Da ist die Verbindung ganz stark, da wächst nach, was verloren war. Das ist der Raum, den es dem sterilen, künstlichen Klinik- und Pflegebereich entgegen zu setzen gilt. Denn das Dunkle ist auch die schwere Erkrankung, die zieht und zerrt und hilflos und ohnmächtig macht und nicht weichen will.

„wir hätten oft schon tot sein können Wald
wie geht es dir
in dir geh ich am Faden aus Instinkt und ahne Ahnen
und glaub fast an der Menschenhirne Amen“

Kerstin Becker zeigt in einigen Gedichten die prekäre Arbeitssituation auf, in der manche Menschen stecken: es geht um die Dienstleister. Menschen, die saubermachen, Essen ausliefern, an Kassen sitzen und dennoch finanziell kaum über die Runden kommen, und die, die mit ihrem „Bescheid“ mit großer Scham zur Tafel gehen müssen, um zu überleben.

„siehst du den Speckgürtel
und Ghettos um die Städte
Abriegelsystem humanus ich gehör
der Kaste Allerletzter an“

Die Lyrikerin schickt das Lyrische Ich zu Besuch zur Schwester, die zuhause schwer alleine zurecht kommt, die aber auch nicht in die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen gehen kann, weil sie geschlossen wurde. Auch ein Familienausflug wird ganz stark verdichtet: ein Besuch des Flughafens, die ungestillte Sehnsucht auf der Zuschauerterasse, weil es für eine Ferienreise im Flieger eben nicht reicht (welches ich allzu gut kenne) oder es gar nicht möglich war, überall hinzufliegen in der DDR.

Am Schluss schließt sich der Kreis. Nach Zeugung, Geburt, Lebenszeit folgt das Sterben, der Tod. Das Stirb und Werde, das niemals aufhört, für jeden Einzelnen allerdings immer das Schönste und das Schlimmste bedeutet.

„muss ich denn Abschied nehmen Welt von deinen süßen
salzgen Wassern grünen Hügelketten
ich habe dich von oben wie ein
Raumfahrer gesehen
du bist so zart und voller Grab“

In den Gedichten gibt es keine Interpunktion, was aber nicht stört, denn die Verse gliedern sich durch ihren Rhythmus. Wie im vorigen Band Biestmilch sind die meisten in der Wir-Form geschrieben. Etwas, was mir besonders auffällt, weil es, wie ich finde in aktuellen Gedichten selten zu finden ist. Dabei hat diese Form den Vorteil, dass man sich mit der Dichterin verbunden fühlt und näher dran ist am Erleben. Und tatsächlich erinnern mich manche Gedichte in Ton und Wortwahl an die Gedichte von Christine Lavant. Und, liebe Kerstin, über das wunderbare kaum mehr gehörte Wort „lavede“ freue ich mich besonders. Ein Leuchten!

Schwarz/Weiß-Fotos ergänzen die Gedichte, grenzen die einzelnen Kapitel voneinander ab. Auch äußerlich ist der Gedichtband schön gestaltet. Er erschien im Verlag Edition Azur bei Voland & Quist. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

„Eine der Lyrikempfehlungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2022“

Yara Nakahanda Monteiro: Schwerkraft der Tränen Haymon Verlag

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„… hier bin ich Weiß, dort bin ich Schwarz, der zweitschlimmste Ort ist dazwischen …“

Eigentlich hätte dieses Buch mehr Sichtbarkeit bekommen, wäre nicht in diesem Jahr zum dritten Mal die Leipziger Buchmesse in ihrer traditionellen Form ausgefallen. Tara Nakahanda Monteiros Roman „Schwerkraft der Tränen“ ist im Original auf portugiesisch geschrieben, Portugal wäre/war Schwerpunkt der Buchmesse. Monteiros Roman ist aber gleichzeitig kein typisch portugiesisches Buch, sondern eins, dass uns nach Angola führt, in die Hauptstadt Luanda des portugiesischsprachigen Landes im südwestlichen Afrika. Die Autorin lebt im Alentejo/Portugal, ihre Wurzeln aber liegen in Huambo in Angola. Dort wurde sie 1979 geboren. Gleich stellt sich mir die Frage nach autobiographischem Schreiben, wird aber bald unwichtig aufgrund der Schönheit der Sprache und des spannenden Inhalts.

Vitória verlässt Portugal Hals über Kopf und verpasst damit absichtlich ihre geplante Hochzeit mit Dinis, der schwul und der Bruder ihrer Geliebten Catarina ist. Sie lässt alles, was ihr wichtig ist zurück, weil es etwas noch Wichtigeres, Dringenderes gibt: die Suche nach ihrer Mutter, die sie als kleines Kind bei den Großeltern zurückließ, um als rebellische und kämpferische junge Frau in den Krieg für die Unabhängigkeit ihres Landes zu ziehen. Die Familie verlässt Angola und Vitória wächst in Portugal auf, erhält in einem Internat ihre Schulbildung, lebt dann in Lissabon.

„Ich fühle mich hilflos, Luanda ist anders als Lissabon und mit dem Idyll in Malveira sowieso nicht zu vergleichen. Kurz überlege ich, ob ich meinen Entschluss bereue.“

Nach der Ankunft fühlt sich alles fremd an. Sie kommt bei einer Bekannten ihrer Tante unter und gliedert sich langsam ins Familienleben dort ein. Romena besitzt Bäckereien und gehört somit zur Mittelschicht, es gibt Dienstpersonal und den Töchtern fehlt es an nichts. Ganz anders sieht es in anderen Vierteln aus. Armut, bettelnde Kinder, aber eben auch Reichtum, der gerne gezeigt wird. Vitória wird zu Hochzeiten mitgenommen, aber auch zu Totenfeiern. Es wird aufgetischt, es gibt traditionelle Rituale, von denen auch die gebildeten, reichen Familien nicht abweichen. Kontakte werden geknüpft, Beziehungen genutzt. So gelangt Vitória auch an den General, der ihr bei der Suche nach der Mutter helfen soll. Die Tante hatte ihr den Namen aufgeschrieben. Alle Hoffnung ruht auf dem Einfluss seines Namens.

Erste Hinweise kommen dann aber aus anderer Richtung: Vitória fliegt nach Huambo und begegnet Juliana, einer Freundin ihrer Mutter, die an ihrer Seite kämpfte. Sie bewirtschaftet eine Art Frauenhaus. Vitória lebt sich ein, es dauert lange, bis Juliana zu erzählen beginnt und ihr einen Schritt weiter hilft. Bei einer Hilfsorganisation hinterlegt sie Foto und einen Brief an die Mutter. Dann vergehen viele Monate. Die Heldin findet sich in diesen neuen Strukturen zurecht, arbeitet mit und fragt sich, ob es je wieder ein zurück nach Portugal geben wird. Und wartet. Und merkt, wieviel mehr Geduld sie in diesem Land braucht. Auch ihre innere Not und die großen Hoffnungen spiegeln sich im Text.

„Denn Familiengeschichte gehört nicht allein denen, die sie erlebt haben. Die Nachgeborenen tragen die Biografie derer in sich, die vor ihnen da waren. Auch ich bin schon Teil dieser Vergangenheit, also gehört mir auch die Erinnerung.“

Als schließlich eines Tages ein Brief der Mutter kommt, das Zeichen, dass die Mutter noch lebt, beinhaltet er so gar nicht das, was sich Vitória gewünscht und erhofft hat. Doch sie erfährt viel über das Schicksal der Mutter, die letztendlich ein Opfer des Krieges wurde. Und was Krieg mit den Menschen macht. Wie sie verraten wurde. Und welche Rolle der General dabei spielte …

„Sie erzählt, als die Kämpfe losgingen, habe man sich die Gewalt des Krieges nicht vorstellen können. Man lebte für eine Utopie, einen Traum. Das geht so lang, bis man töten muss, um nicht selber getötet zu werden. Beim Töten bleibt es im Krieg auch nicht. Es wird massakriert, gefoltert, verstümmelt und vergewaltigt.“

Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt. Es ist eine dieser Geschichten, in denen ich in ein mir fernes fremdes Land eintauche, es ein wenig kennenlernen darf, ohne zu verreisen. Mir kommt es nahe, durch die Persönlichkeiten, denen ich begegne, die mich teilhaben lassen an ihrem Alltag und an den Festen. Und ich werde neugierig und gebe das Land ein in die Suchmaschine, sehe auf der Karte, wo es liegt, wie groß es ist, lese über die Geschichte, die im Fall von Angola eine sehr kriegerische ist. Unabhängigkeitskriege, um sich von der Kolonialmacht Portugals zu lösen, Bürgerkriege zwischen verschiedenen Freiheitsbewegungen und immer wieder Staatspräsidenten, die korrupt in die eigene Tasche arbeiten.

Mir hat die bildreiche, lebendige und sinnliche Sprache sehr gefallen und die Art der Erzählung, die Einblicke – manchmal schiebt die Autorin Sequenzen mit Selbstgesprächen ein: von einer Hausangestellten, von einem alten Fischer – bietet in die Lebenswelt der Bewohner, aber eben auch in die spezifische Natur und die Traditionen. Wer per Roman auf Reisen gehen möchte, weit weg, dem sei dieses Buch empfohlen.

Der Roman erschien im Haymon Verlag. Übersetzt aus dem Portugiesischen hat es Michael Kegler. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar!