Stewart O`Nan: Ocean State Rowohlt Verlag

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Stewart O`Nans neuer Roman Ocean State fügt sich nahtlos in die Reihe seiner vorigen Romane ein. Er ist einer der großen US-amerikanischen Erzähler. Immer lesenwert, dabei unspektakulär, wechselnde Themen, fein konstruiert und kurzweilig erzählt. Ich habe in den letzten Jahren einige seiner Romane gelesen, zwei auch bereits auf dem Blog besprochen. Siehe unten.

Wir befinden uns in der Stadt Westerly, Rhode Island, USA. Die Geschichte dreht sich um einen Mord, der von einer 18jährigen Highschool-Schülerin begangen wird. O`Nan beginnt mit dem Treffen des jungen Liebespaares Birdy und Myles, die eigentlich beide mit einem anderen Partner zusammen sind. Was für Myles wohl nur ein Abenteuer ist, fühlt sich für Birdy wie die große Liebe an. Birdy, eigentlich Beatrix lebt bescheiden mit ihrer alleinerziehenden Mutter, von Myles erfährt man nur, dass er aus einem reicheren Elternhaus kommt. Seine Freundin Angel lebt mit ihrer Mutter Carol und ihrer 13jährigen Schwester Marie, aus deren Perspektive auch die meiste Zeit erzählt wird in einer schlechten Wohngegend. Der eintönige Alltag besteht aus Schule, Arbeit, fernsehen, durchbrochen von wenigen feierlichen Anlässen wie Halloween oder Weihnachten. Die Mutter, die regelmäßig trinkt, bringt immer wieder neue Männer mit, auch Angel ist viel unterwegs. Marie fühlt sich alleingelassen und nicht gesehen. Immer wieder wird sie zur Großmutter abgeschoben. Denn sie ist in der Familie die brave Tochter. Im Gegensatz zu Angel, die wohl öfter über die Stränge schlägt. Aus Frust isst sie zu viel, fühlt sich dabei minderwertig gegenüber ihrer hübschen Schwester Angel.

„Wir fürchteten Dramen, waren aber auch süchtig danach. Weil wir jung waren, hielten wir uns für stark. Wir dachten, wir wären abgehärtet. Wir wollten, dass das Schlimme schnell passierte, damit die schmerzlichen Augenblicke vorüber waren und wir unser normales, langweiliges Leben fortsetzen konnten.“

Der Autor schafft es über mehr als die Hälfte des Buches die Spannung zu steigern, bevor die Tat wirklich begangen wird. Geschickt geht er dabei vor und schildert gekonnt die einzelnen Charaktere, die Abhängigkeiten und die Unsicherheiten der Paare im Collegealter, aber auch die deren Eltern. Man erinnert sich dabei selbst an die eigene Zeit der ersten bedeutungsvollen Liebe und des furchtbaren Liebeskummers. Beim Lesen dachte ich dann oft, wie abgeklärt man die Geschichte jetzt im fortgeschrittenen Alter liest und sich wundert, wie ernst und tragisch das alles damals war, als die Gefühle Achterbahn fuhren.

O`Nan lässt uns Leser nicht erfahren, was und wie genau der Totschlag passiert, erzählt auch wenig über die Phase der Inhaftierung, außer, dass die Tat im Strandhaus von Myles Eltern geschah, welches auch der Treffpunkt der beiden Liebenden war. Die Täterin scheint nach Außen hin kühlen Kopf zu bewahren, so als wäre sie vollkommen unbeteiligt.

„Egal, ob es ein Unfall war oder nicht, sie weiß, dass sie Reue empfinden sollte, doch wenn sie ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie irgendwie wollte, dass das kleine Miststück tot ist. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. In ihren schwächsten Momenten schließt sie ihre Tür ab, kniet sich wie ein Kind vors Bett und erfleht die Barmherzigkeit Gottes.“

Tatsächlich blieb mir aus meiner Sicht unerklärlich, wie man eine solche Tat, die in diesem Fall ja im Ansatz geplant war und dann aus dem Ruder lief, begehen kann. Aus beleidigtem Stolz? Aus Nervenkitzel? Was muss passieren, damit man soweit geht? Es erschließt sich mir nicht. Und das sagt auch Marie, die im abschließenden Kapitel rückblickend von den weiteren Geschehnissen und der Zukunft der Protagonisten erzählt. Sie ist die einzige, die weiter im Ort lebt, und als Lehrerin noch lange mit der Geschichte von Außen konfrontiert wird.  Einen Krimi sollte man nicht erwarten, aber eine spannend beleuchtete Milieustudie.

Der Roman erschien im Rowohlt Verlag. Übersetzt hat wie immer Thomas Gunkel. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere Besprechung gibt es bei Letteratura. Ein schönes Interview mit dem Autor gibt es hier.

Zwei weitere Romane des Autors habe ich hier besprochen. Auch „Die Chance“ empfehle ich sehr.

Stewart O`Nan: Stadt der Geheimnisse Rowohlt

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Kerstin Becker: Das gesamte hungrige Dunkel ringsum Edition Azur

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„wir sind am Anfang durchlässig
und weich und lernen fortan
zu verhärten“

Der neue Lyrikband von Kerstin Becker strahlt ins Dunkel hinein, um auf den Titel des Buches zuzugreifen. Das Dunkel wird hier kompromisslos ausgeleuchtet, wie mit einer Taschenlampe punktgenau getroffen. Das Dunkel, das wir alle kennen, aber manche eben wesentlich mehr. Es beginnt mit der Zeugung, weiter mit der Geburt, wo die Dunkelheit verlassen werden muss und der Start ins Leben grell beleuchtet ist. Es beginnt mit dem Babyflaum und was am Ende bleibt, ist die kratzige Kunstwolle, die nach dem Tod aufgedröselt und wieder verwendet wird. Kerstin Beckers Gedichte spannen einen Bogen vom Anfang zum Ende eines Menschenlebens, eine Lebenszeit. Wie unterschiedlich diese verlaufen kann erfahren wir auch. Wir hören viel mehr vom Dunkel, das immer da zu sein scheint ganz in der Nähe, lauernd. Die Helligkeit nimmt ein viel geringes Maß ein. Kommt zu kurz, wie das eben in manchen Menschenleben so ist. Trotz aller Dunkelheit empfinde ich Kerstin Beckers Gedichte nicht bitter oder resignierend, sondern durchaus kraftvoll und weit, die Sprache manchmal rau und dann wieder zart.

Das Aufwachsen, die Kindheit scheinen auf, ein Leben in den Wäldern, den Wiesen, ein ländliches Leben. Immer mit der Natur, erdig, sinnlich, sehr körperlich, auch eklig und dreckig. Wildwuchs, Wachstum. Geräusche, Gerüche. Freundschaft und Blutsschwesterschaft. Hier ist es oft schön hell. Schnell zeigt sich dann aber doch wieder der Unterschied zwischen arm und reich, zwischen weiblich und männlich, zwischen wollen und sollen, zwischen Zwang und Freiwilligkeit. Missbrauch und Gewalt schweben im Raum eines Gedichts, dürfen es auch, dürfen benannt und ausgesprochen werden in diesem Rahmen.

„wir gleichen unseren Puls dem Puls der letzten Wälder an
wie später einmal unsere Mens die Sommersonne
spinnt weiße Waben unter unsre Lider“

Im großen Gegensatz zum Dunklen wird immer wieder die Natur besucht. In den Wald und über die Felder. Durchatmen, Wahrnehmen. Die Bäume, die Wiesen – sie sind Heil- und Ruhemittel. Da ist die Verbindung ganz stark, da wächst nach, was verloren war. Das ist der Raum, den es dem sterilen, künstlichen Klinik- und Pflegebereich entgegen zu setzen gilt. Denn das Dunkle ist auch die schwere Erkrankung, die zieht und zerrt und hilflos und ohnmächtig macht und nicht weichen will.

„wir hätten oft schon tot sein können Wald
wie geht es dir
in dir geh ich am Faden aus Instinkt und ahne Ahnen
und glaub fast an der Menschenhirne Amen“

Kerstin Becker zeigt in einigen Gedichten die prekäre Arbeitssituation auf, in der manche Menschen stecken: es geht um die Dienstleister. Menschen, die saubermachen, Essen ausliefern, an Kassen sitzen und dennoch finanziell kaum über die Runden kommen, und die, die mit ihrem „Bescheid“ mit großer Scham zur Tafel gehen müssen, um zu überleben.

„siehst du den Speckgürtel
und Ghettos um die Städte
Abriegelsystem humanus ich gehör
der Kaste Allerletzter an“

Die Lyrikerin schickt das Lyrische Ich zu Besuch zur Schwester, die zuhause schwer alleine zurecht kommt, die aber auch nicht in die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen gehen kann, weil sie geschlossen wurde. Auch ein Familienausflug wird ganz stark verdichtet: ein Besuch des Flughafens, die ungestillte Sehnsucht auf der Zuschauerterasse, weil es für eine Ferienreise im Flieger eben nicht reicht (welches ich allzu gut kenne) oder es gar nicht möglich war, überall hinzufliegen in der DDR.

Am Schluss schließt sich der Kreis. Nach Zeugung, Geburt, Lebenszeit folgt das Sterben, der Tod. Das Stirb und Werde, das niemals aufhört, für jeden Einzelnen allerdings immer das Schönste und das Schlimmste bedeutet.

„muss ich denn Abschied nehmen Welt von deinen süßen
salzgen Wassern grünen Hügelketten
ich habe dich von oben wie ein
Raumfahrer gesehen
du bist so zart und voller Grab“

In den Gedichten gibt es keine Interpunktion, was aber nicht stört, denn die Verse gliedern sich durch ihren Rhythmus. Wie im vorigen Band Biestmilch sind die meisten in der Wir-Form geschrieben. Etwas, was mir besonders auffällt, weil es, wie ich finde in aktuellen Gedichten selten zu finden ist. Dabei hat diese Form den Vorteil, dass man sich mit der Dichterin verbunden fühlt und näher dran ist am Erleben. Und tatsächlich erinnern mich manche Gedichte in Ton und Wortwahl an die Gedichte von Christine Lavant. Und, liebe Kerstin, über das wunderbare kaum mehr gehörte Wort „lavede“ freue ich mich besonders. Ein Leuchten!

Schwarz/Weiß-Fotos ergänzen die Gedichte, grenzen die einzelnen Kapitel voneinander ab. Auch äußerlich ist der Gedichtband schön gestaltet. Er erschien im Verlag Edition Azur bei Voland & Quist. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

„Eine der Lyrikempfehlungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2022“

Yara Nakahanda Monteiro: Schwerkraft der Tränen Haymon Verlag

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„… hier bin ich Weiß, dort bin ich Schwarz, der zweitschlimmste Ort ist dazwischen …“

Eigentlich hätte dieses Buch mehr Sichtbarkeit bekommen, wäre nicht in diesem Jahr zum dritten Mal die Leipziger Buchmesse in ihrer traditionellen Form ausgefallen. Tara Nakahanda Monteiros Roman „Schwerkraft der Tränen“ ist im Original auf portugiesisch geschrieben, Portugal wäre/war Schwerpunkt der Buchmesse. Monteiros Roman ist aber gleichzeitig kein typisch portugiesisches Buch, sondern eins, dass uns nach Angola führt, in die Hauptstadt Luanda des portugiesischsprachigen Landes im südwestlichen Afrika. Die Autorin lebt im Alentejo/Portugal, ihre Wurzeln aber liegen in Huambo in Angola. Dort wurde sie 1979 geboren. Gleich stellt sich mir die Frage nach autobiographischem Schreiben, wird aber bald unwichtig aufgrund der Schönheit der Sprache und des spannenden Inhalts.

Vitória verlässt Portugal Hals über Kopf und verpasst damit absichtlich ihre geplante Hochzeit mit Dinis, der schwul und der Bruder ihrer Geliebten Catarina ist. Sie lässt alles, was ihr wichtig ist zurück, weil es etwas noch Wichtigeres, Dringenderes gibt: die Suche nach ihrer Mutter, die sie als kleines Kind bei den Großeltern zurückließ, um als rebellische und kämpferische junge Frau in den Krieg für die Unabhängigkeit ihres Landes zu ziehen. Die Familie verlässt Angola und Vitória wächst in Portugal auf, erhält in einem Internat ihre Schulbildung, lebt dann in Lissabon.

„Ich fühle mich hilflos, Luanda ist anders als Lissabon und mit dem Idyll in Malveira sowieso nicht zu vergleichen. Kurz überlege ich, ob ich meinen Entschluss bereue.“

Nach der Ankunft fühlt sich alles fremd an. Sie kommt bei einer Bekannten ihrer Tante unter und gliedert sich langsam ins Familienleben dort ein. Romena besitzt Bäckereien und gehört somit zur Mittelschicht, es gibt Dienstpersonal und den Töchtern fehlt es an nichts. Ganz anders sieht es in anderen Vierteln aus. Armut, bettelnde Kinder, aber eben auch Reichtum, der gerne gezeigt wird. Vitória wird zu Hochzeiten mitgenommen, aber auch zu Totenfeiern. Es wird aufgetischt, es gibt traditionelle Rituale, von denen auch die gebildeten, reichen Familien nicht abweichen. Kontakte werden geknüpft, Beziehungen genutzt. So gelangt Vitória auch an den General, der ihr bei der Suche nach der Mutter helfen soll. Die Tante hatte ihr den Namen aufgeschrieben. Alle Hoffnung ruht auf dem Einfluss seines Namens.

Erste Hinweise kommen dann aber aus anderer Richtung: Vitória fliegt nach Huambo und begegnet Juliana, einer Freundin ihrer Mutter, die an ihrer Seite kämpfte. Sie bewirtschaftet eine Art Frauenhaus. Vitória lebt sich ein, es dauert lange, bis Juliana zu erzählen beginnt und ihr einen Schritt weiter hilft. Bei einer Hilfsorganisation hinterlegt sie Foto und einen Brief an die Mutter. Dann vergehen viele Monate. Die Heldin findet sich in diesen neuen Strukturen zurecht, arbeitet mit und fragt sich, ob es je wieder ein zurück nach Portugal geben wird. Und wartet. Und merkt, wieviel mehr Geduld sie in diesem Land braucht. Auch ihre innere Not und die großen Hoffnungen spiegeln sich im Text.

„Denn Familiengeschichte gehört nicht allein denen, die sie erlebt haben. Die Nachgeborenen tragen die Biografie derer in sich, die vor ihnen da waren. Auch ich bin schon Teil dieser Vergangenheit, also gehört mir auch die Erinnerung.“

Als schließlich eines Tages ein Brief der Mutter kommt, das Zeichen, dass die Mutter noch lebt, beinhaltet er so gar nicht das, was sich Vitória gewünscht und erhofft hat. Doch sie erfährt viel über das Schicksal der Mutter, die letztendlich ein Opfer des Krieges wurde. Und was Krieg mit den Menschen macht. Wie sie verraten wurde. Und welche Rolle der General dabei spielte …

„Sie erzählt, als die Kämpfe losgingen, habe man sich die Gewalt des Krieges nicht vorstellen können. Man lebte für eine Utopie, einen Traum. Das geht so lang, bis man töten muss, um nicht selber getötet zu werden. Beim Töten bleibt es im Krieg auch nicht. Es wird massakriert, gefoltert, verstümmelt und vergewaltigt.“

Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt. Es ist eine dieser Geschichten, in denen ich in ein mir fernes fremdes Land eintauche, es ein wenig kennenlernen darf, ohne zu verreisen. Mir kommt es nahe, durch die Persönlichkeiten, denen ich begegne, die mich teilhaben lassen an ihrem Alltag und an den Festen. Und ich werde neugierig und gebe das Land ein in die Suchmaschine, sehe auf der Karte, wo es liegt, wie groß es ist, lese über die Geschichte, die im Fall von Angola eine sehr kriegerische ist. Unabhängigkeitskriege, um sich von der Kolonialmacht Portugals zu lösen, Bürgerkriege zwischen verschiedenen Freiheitsbewegungen und immer wieder Staatspräsidenten, die korrupt in die eigene Tasche arbeiten.

Mir hat die bildreiche, lebendige und sinnliche Sprache sehr gefallen und die Art der Erzählung, die Einblicke – manchmal schiebt die Autorin Sequenzen mit Selbstgesprächen ein: von einer Hausangestellten, von einem alten Fischer – bietet in die Lebenswelt der Bewohner, aber eben auch in die spezifische Natur und die Traditionen. Wer per Roman auf Reisen gehen möchte, weit weg, dem sei dieses Buch empfohlen.

Der Roman erschien im Haymon Verlag. Übersetzt aus dem Portugiesischen hat es Michael Kegler. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar!

Olga Lawrentjewa: Surwilo Graphic Novel Avant Verlag

Eine ganz ausdrucksstarke Graphic Novel ist „Surwilo“ von der 1986 geborenen Olga Lawrentjewa. Der Untertitel weist auf den Inhalt hin: Eine russische Familiengeschichte. Der Handlungsort ist überwiegend Leningrad. Die Geschichte erzählt die Großmutter ihren Enkelkindern, die sie gerne auf dem Land besuchen. Sie beginnt dabei mit ihrer Mutter, die 1914 Wikenti Kasimirowitsch Surwila heiratet. Wikenti kommt aus dem Dorf Surwily, das in Polen liegt. Sie leben in Leningrad mit den beiden Töchtern Ljalja und Walja in einer großen Wohnung. Als Wikenti im Jahr 1937 verhaftet wird, angeblich weil er mit anderen polnischstämmigen Kollegen Spionage und Sabotage plante, schreibt seine Frau Briefe an die höchsten Behörden, um herauszufinden, wo er sich befindet und weshalb er unschuldig verhaftet wurde. Antworten kommen keine. Auch in den folgenden Jahren nicht. Für die Familie wird dieser Vorfall zum Verhängnis: Sie werden weit weg aufs Land verbannt. Die Töchter werden in der Schule gemobbt, aufgrund des Makel im Lebenslauf. Der Vater ein Volksfeind! Eine nach der anderen gehen beide nach der Schule zurück nach Leningrad, um ein Studium zu beginnen. Walja erhält ein Stipendium, doch reicht das Geld kaum, sie leidet Hunger. Sie besucht Bekannte, die noch im alten Haus wohnen und trifft dort auch oft Petka, mit dem sie sich gut versteht.


1941 verlässt Walja das Technikum und sucht Arbeit. Doch aufgrund des Fragebogens bei der Bewerbung, in dem die Daten der Eltern abgefragt werden, findet sie keine Stelle. Erst in einem Krankenhaus nimmt man sie. Im September beginnt die Blockade. Gleichzeitig fallen die Bomben. Walja hat im Krankenhaus schwerste Arbeit zu verrichten, doch die Lebensmittel werden knapp. Immer mehr Menschen sterben, entweder durch die Bombenangriffe oder sie verhungern. Einmal noch sieht sie die Schwester, dann kommt die Nachricht ihres Todes. Wenige Frauen bleiben im Krankenhaus, in dem Ausnahmebetrieb herrscht. Kein Strom mehr, keine Lebensmittel. Dennoch werden die Aufgaben von der Armee strengstens überwacht. Eine verschwundene Lebensmittelkarte kann den Tod zur Folge haben. Walja ist geschwächt und ständig kurz vor dem Zusammenbruch. Die Blockade dauert über 2 Jahre. Im Januar 1944 ist sie zu Ende. (Wikipedia schreibt zur Blockade Leningrads: „Verluste: 16.470 Zivilisten durch Bombenangriffe und ca. 1.000.000 Zivilisten durch Unterernährung“)

Das Leben geht weiter. Walja macht einen Buchhaltungskurs, findet endlich eine Arbeitsstelle. Das Leben wird besser. Petja, der als Soldat im Krieg ist, schreibt Walja. Es beginnt ein Briefwechsel. Er kommt 1945 mit Ehrungen und Orden zurück und macht Walja einen Heiratsantrag. Bald bekommen sie eine Tochter. Beide arbeiten. Doch Walja wird von Angstzuständen und Panikattacken heimgesucht, ist schwer traumatisiert. Oft liegt sie nächtelang wach. Die schrecklichen Erfahrungen der Belagerung, die vielen Sterbenden, die vielen lebendigen Toten wird sie ihr Leben lang nicht vergessen. Und doch bietet das Leben mit Petja und der Tochter auch viele frohe Zeiten.


Als sie 1958 einen Brief erhält, in dem man ihren Vater rückwirkend rehabilitiert, ist es wie ein Traum für sie. Manche Hindernisse sind damit aus dem Weg geräumt und sie erhält rückwirkend ihre Medaille für die Verteidigung Leningrads. Dass der Vater bereits 11 Tage nach der Festnahme hingerichtet wurde erfährt sie erst nach der Perestroika, nach 1989 aus seiner Akte.

Olga Lawrentjewa hat diese Geschichte illustriert und auch erzählt. In kurzen Episoden als Rahmenhandlung sind die Enkel immer wieder mit der Großmutter unterwegs, während diese erzählt. Hier wird auch der Grundstein gelegt, dass die Geschichte aufgeschrieben wird. Lawrentjewa hat mit dieser Graphic Novel noch viel mehr getan als eine biographische Geschichte zu erzählen. Sie hat sie illustriert und damit interpretiert. Und ihre Bilder sind durchgängig schwarz/weiß, wobei das Schwarze fast immer überwiegt und wie Kohle und/oder Tusche anmutet. Der allermeiste Text wird dabei in Sprechblasen erzählt, mitunter gibt es kurze erklärende Zeilen. Es gibt zwischendurch immer wieder ganzseitige Bilder. Nie wird es allzu kleinteilig. Dabei hat sie einen höchst expressiven Stil, der einen sofort vereinnahmt. Mitunter gibt es eruptive Szenerien, dann wieder eher verwaschene, nebelhafte. Die Gesichter, die Figuren sind genau und ausdrucksvoll. Was besonders in den Szenen, die im Krankenhaus spielen teils sehr grausam, aber ehrlich sich zeigt: Körper, wie Gerippe, Gesichter wie Totenköpfe. Die Illustratorin erschafft eine Welt, die die Schrecken und Grausamkeiten des Krieges aufzeigt, aber auch über unschuldige Opfer des Stalinistischen Regimes Zeugnis ablegt. Das tut sie in einer Form, die meisterhaft ist, gerade weil sie so persönlich und direkt ist.

Wir wissen längst, wie schwer auch Kriegskinder und Kriegsenkel noch zu tragen haben, wie schwer und wie lange Körper und Seele noch beeinträchtigt sein können. Ich denke, Olga Lawrentjewa hat mit ihrem eindrucksvollen Buch einen Teil dazu beigetragen (und sei er auch noch so klein), diese enormen Belastungen zu verarbeiten. Bald werden nur noch Texte und Bücher, vielleicht Bilder, über diese Zeiten berichten, wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Und dabei sind Erinnerungen und Lebensberichte so wichtige Warnungen und Mahnungen. Wie wichtig, sehen wir aktuell.

Die Graphic Novel erschien im Avant Verlag. Aus dem Russischen übersetzt wurde sie von Ruth Altenhofer. Surwilo ist einer der wenigen Comics, die überhaupt ins Deutsche übertragen wurden. Eine Leseprobe gibt es hier. Auf der Verlagswebsite gibt es auch Infos zur Autorin, die ich im Buch vermisste. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

2x Lyrik aus dem Elif Verlag: Wolfgang Schiffer: Dass die Erde einen Buckel werfe / Dagur Hjartarson: Schnee über den Buchstaben

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Zwei neue Lyrikbände aus dem Elif Verlag möchte ich vorstellen. Eine Doppelbesprechung bietet sich hier an. An beiden ist Wolfgang Schiffer beteiligt. Einmal als Übersetzer aus dem Isländischen, wie schon bei so vielen Bänden in den letzten Jahren. Und einmal eben auch – darauf war ich sehr gespannt – als Dichter.

An dem Lyrikband mit dem wunderbaren Titel „Dass die Erde einen Buckel werfe“ fiel mir zuerst das schöne Cover auf, dessen Rätsel sich innen auf dem Buchdeckel fortsetzt. Es wurde gestaltet von dem Isländer Ragni Helgi Ólafsson, dessen Gedichte und Erzählungen ich hier auch bereits auf dem Blog besprochen habe. Natürlich in der Übersetzung von Wolfgang Schiffer und Jón Thor Gíslason.

„und heute / gelingt es mir noch / an die Kraft der Wörter zu glauben /
an eine Sprache / die rettet / sehe ich noch Licht in einem Gedicht?

Wolfgang Schiffers schmaler Gedichtband hat es in sich. Er ist in Abschnitte eingeteilt, die sich nach den Wochentagen richten. So folgen wir von Montag bis Sonntag zunächst immer einem Speiseplan, der einmal in hochdeutsch und einmal in Dialekt abgedruckt ist. Es ist der Dialekt (die Mundart des Landstrichs?), den der Held, das Lyrische Ich, ich denke man kann es getrost mit dem Autor verknüpfen, in seiner Kindheit sprach. Dieser Speisekarte ist fast wie ein Zeitanzeiger. Der Inhalt und auch manch spätere Verse weisen auf eine wenig üppige, vielleicht von Armut, zumindest aber auch von Scham geprägte Kindheit hin.

Abwechselnd taucht nun das lyrische Ich in die Vergangenheit, beginnt mit einer kleinen Familienhistorie, begegnet Vater, Mutter; bedenkt sie aus dem Heute, befragt sie. Sogar in seinen Träumen erscheinen sie, weisen auf dies und auf das hin, das vielleicht schon vergessen war. Helfen bei der inneren Suche, ja, nach was? Der Vater, der Arbeiter, der Westernheftchen las, (erinnert mich sehr an meinen eigenen), die Mutter, die einfach die Frau des Vaters war und Mutter natürlich. Mit großer Zuneigung widmet sich Schiffer den Eltern. Aus allem spricht hier die Demut und auch die Dankbarkeit vor der Lebensleistung der Eltern. Der eigene Ursprung wird reflektiert, der Werdegang, jetzt da das Altern viel Raum einnimmt.

„ach Mensch! ach Welt! / wann endet es endlich /
dieses Schmierentheater / das längst schon nicht mehr
zu überbieten ist an Zynismus und Perversion / warum“

Ein zweiter Strang zeigt eine andere Seite, schlüpft wieder in die Gegenwart und liest sich mitunter wie ein Lamento in zutiefst gesellschaftskritischen Versen. Vom kleinen geht es jetzt ins Große: Es geht um die unguten Zustände, die herrschen aufgrund der Machtstrukturen in der Welt. Die Kriege, der Niedergang der Kultur, die Ungerechtigkeiten, die Zerstörung von allen Seiten und die so gar nicht mehr intakte Natur: alles Menschenwerk. Die Frage steht im Raum: Wäre die Welt ohne uns Menschen nicht eine bessere?

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Dagur Hjartarsons zweisprachiger isländisch/deutscher Lyrikband „Schnee über den Buchstaben“ ist in zwei größere Kapitel geteilt. Alle Gedichte sind ohne Groß- und Kleinschreibung und ohne Satzzeichen verfasst. Der erste Teil heißt „die Hirnoperation“ und berichtet aus verschiedenen Blickwinkeln von einer Frau, die einen Gehirntumor hat. Der Beobachter, das Lyrische Ich (man darf auch hier von Autobiographischem ausgehen) be-schreibt, ja beschwört mitunter, die Zeit vor und nach der Operation. Die Sorgen, Ängste und dann auch die Erleichterung, als alles gut gegangen ist und die Zukunft wieder erscheinen darf. Dabei hat die Sprache hier, trotz allem gleichzeitig eine Luftigkeit und Zuversicht in aller Schwere.

„während ich über dich wachte
wurde mir klar
dass die nacht fast gar nichts ist
sie ist nur der schatten der erde

die nacht ist nur der schatten der erde“

Die Familie, die auch im nächsten Kapitel „familienleben auf der erde“ Thema ist, spielt immer die Hauptrolle. Ob ein Kinderwagen geschoben wird oder früh am morgen Kaffee gekocht wird, ob die Nacht durchwacht wird oder ein Schneesturm durch die Stadt fegt, alles ist Alltag und Poesie zugleich. Der Autor verbindet konkret Erlebtes, Erlesenes oder Gehörtes und erzeugt damit überraschende Bilder.

„in dem bericht steht dass viele arten verschwinden werden
noch bevor die wissenschaftler sie entdecken

es gibt also ein verborgenes leben
außerhalb der menschheitsgeschichte“

In beinahe jedem Gedicht finde ich mindestens eine Zeile, die ich genau zu diesem Zeitpunkt des Lesens brauche. Die mich gleichzeitig verankert und aus allem heraushebt. Auch die Gedichte, die von der Kindheit, von diesem besonderen Dasein, weitab des Erwachsenseins erzählen, sind trefflich gelungen. Mir scheint, erinnerte Kindheit ist gerade in der Dichtung ein großes Experiment. Hier und auch im gesellschaftskritischen Teil finden beide Lyrikbände eine Gemeinsamkeit.

„und wir gehen tiefer hinein in das gedicht
gehen bis wir verschwinden
hinter den letzten worten“

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Ich kann beide Bände von Herzen empfehlen, und hier auch gerade denjenigen, die sonst kaum Gedichte lesen. Bereits vorab war ich mir dessen schon sicher. Es sind beides Gedichtbände, die wunderbar poetisch sind aber nicht intellektuell verrätselt. Oft ist die Sprache so eindeutig und wegweisend, dass sie einen um so mehr bewegt und weiterträgt. Wachsen mit Gedichten – eigentlich das Schönste, das es gibt!

Beide Bücher sind im Elif Verlag erschienen. Die Übersetzung aus dem Isländischen kommt von Wolfgang Schiffer und Jón Thor Gíslason. Ich danke dem Verlag für die Rezensionsexemplare.

Weiteres aus der zeitgenössischen isländischen Lyrik (ich liebe sie alle!):

Das Alphabet des Feuers – Wolfgang Schiffer liest Gedichte aus Island Hörbuch Elif Verlag

Sigurður Pálsson: Gedichte erinnern eine Stimme Elif Verlag

Linda Vilhjálmsdóttir: das kleingedruckte Elif Verlag

Knut Ødegård: Die Zeit ist gekommen Elif Verlag

Julia May Jonas: Vladimir Hörbuch Random House Audio

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9 Stunden, 8 Minuten, 8 CDs. Ungekürzte Lesung. Wenn ich mich schwer aufs Lesen konzentrieren kann, klappt meistens das Hörbuchhören. Dabei ziehe ich Lesungen Hörspielen vor. Ausschlaggebend mich auf dieses Hörbuch einzulassen war tatsächlich, dass dieser Roman von der grandiosen Schauspielerin Martina Gedeck interpretiert wird. Von der Autorin Julia May Jonas hatte ich noch nie gehört. Die US-amerikanische Autorin, die Dramatikerin ist und in New York lebt, schrieb mit „Vladimir“ ihren ersten Roman.

Es geht um eine namenlose Literaturprofessorin Ende 50, deren Ehemann John, ebenfalls Professor, an seiner Universität in Verruf gerät bezüglich seiner sexuellen Beziehungen mit seinen Studentinnen. Er wird während der Untersuchung der Geschehnisse von der Uni suspendiert. Sie selbst versucht sich zu verorten, sie weiß nicht genau, wie sie sich dazu verhalten soll. Da die beiden schon immer eine offene Beziehung führten, will sie John nicht verurteilen. Denn auch sie hatte mehrere Affären im Laufe ihrer Beziehung. Gleichzeitig kommen von außen Stimmen, die ihr raten, sich zu trennen, die ihr passives Verhalten dazu nicht akzeptieren wollen, wie etwa einige ihrer Studentinnen und auch ihre Tochter. Gerade hier und immer wieder geht es um das Thema Älter werden und darum, dass traurigerweise ältere Frauen oft gar nicht mehr gesehen werden und häufig von der gesellschaftlichen Bühne verschwinden.

Im Fokus steht zeitweise auch die Tochter des Paars, Sidney. Sie ist Anwältin und ihre Freundin hat sich gerade von ihr getrennt hat. Sidney wohnt eine Zeit lang wieder zu Hause, meidet aber ihren Vater und wundert sich ihrer Mutter gegenüber, dass sie sich nicht von John trennen will. Auch am Campus spitzt sich die Lage einige Wochen vor der gerichtlichen Anhörung Johns zu. Kollegen führen ein Gespräch mit der Protagonistin, in dem sie ihr nahelegen, sie möge ihre Tätigkeit niederlegen. Sie sprechen für Studentinnen, die sich durch sie getriggert fühlen.

„Mit Trumps Präsidentschaft war die Illusion einer Welt, die man ihnen vom Fahrersitz des Mini-Vans aus gepredigt hatte, die Illusion alles würde sich stetig verbessern, und der lange Bogen der Geschichte sich in Richtung Gerechtigkeit krümmen auf den Kopf gestellt oder so ähnlich. Ich schüttelte meine hochtrabenden Gedanken ab, ich verstand die jungen Leute nicht und hatte keine Ahnung von ihrer Lebenswirklichkeit. Dass ich sie mochte, rechnete ich mir selbst hoch an. Auf Dinnerpartys verteidigte ich sie: „Die Kids sind in Ordnung“. Ich mochte ihren Aktionismus, ihre strenge Moral, ihr Gebrüll.“

Außerdem geht es um die Begegnung mit Vladimir, dem attraktiven 40jährigen Junior-Professor ihres Fachbereichs. Beide haben Romane geschrieben und über diese Gemeinsamkeit kommen sie sich näher. Während die Heldin durch die kurzen Begegnungen, durch sein Buch und nicht zuletzt durch ihre Fantasien und Tagträume angeregt wird, endlich wieder zu schreiben, hat Vladimir mit seiner Arbeit, mit seiner labilen Frau und der kleinen Tochter zu tun. Nach langer Zeit findet sich ein Termin für ein längeres Gespräch – die Heldin hat mehr im Sinn – ausgerechnet genau an dem Tag, an dem auch die Anhörung zu den Vorwürfen gegen John stattfindet. Ab hier läuft manches aus dem Ruder und wirkt geradezu grotesk. Im Ferienhaus, in das sie Vlad einlädt, entwickeln sich die Geschehnisse nämlich ganz anders als geplant und führen zu einem Ende, dass dann doch etwas unglaubwürdig, zumindest aber übertrieben anmutet.

Mir war die Sprache des Romans zeitweise zu pathetisch, manchmal bis ans Kitschige grenzend, gerade auch, wenn es um Sex geht. Hier passt die Freizügigkeit der Erzählweise nicht immer stimmig zum sprachlichen Gerüst. Glücklicherweise konnte Martina Gedeck das Manko durch ihre Stimme und glaubwürdige Interpretation dann wieder ausgleichen, zumal es auch um eine Frau ihres Alters geht, was sie womöglich auch bewegt hat, dem Roman ihre Stimme zu verleihen.

Außerdem kommen mir dann manche Aussagen, wie die folgenden, schon merkwürdig vor, wenn sich das Buch um Feminismus und Gleichberechtigung dreht. Es geht sehr viel um Äußerlichkeiten: wie man als Frau auf einen Mann wirkt, was man alles tun muss, um einem Mann zu gefallen, wie man einen Mann anhimmelt. Das hört sich für mich, gerade wenn es ins Klischeehafte rutscht, schon eher wenig nach weiblichem Selbstbewusstsein oder Unabhängigkeit an …

„Ich schenkte Vladimir doppelt so viel (Wein) ein wie mir, was er, weil er ein Mann war nicht bemerkte.“

oder

„Der Kellner trat an unseren Tisch und erkundigte sich nach unseren Dessertwünschen. Vlad wollte einen Cappuccino. Aber auf die Gefahr hin zu dominant zu erscheinen bestellte ich die Rechnung.“

Gut gefallen hat mir der Bezug zur und die Gespräche über Literatur, im Text teilweise mit konkreten Autoren und Buchtiteln verknüpft und die Handlung, die auch die Verhältnisse und Gepflogenheiten an einer modernen amerikanischen Universität spiegeln, der Campus als Schauplatz. Und die Veränderungen, die sich im Laufe der Jahre etablieren. Wir erleben, wie die frühere Feministinnen-Generation der 60/70er Jahre der neuen jungen, vollkommen anders denkenden gegenübersteht. In diesem Zusammenhang denkt die Heldin auch über die Kunst, den Kunstbegriff nach:

„Die Wahrheit lag außerhalb der moralischen Grenzen. Die Kunst wollte zu ihren eigenen Bedingungen angenommen oder abgelehnt werden. Die Kunst war nicht der Künstler. Waren das einfach nur Plattitüden, die ich unhinterfragt übernommen hatte? In letzter Zeit beschlichen mich immer öfter Zweifel. Sollten wir nur die Welt abbilden, in der wir leben wollten? Sollten wir gewissen Geschichten den Stempel „schädlich“ aufdrücken und das Publikum vor ihnen schützen? Trauten wir den Lesern nicht mehr zu, eine Geschichte zu lesen, ohne ihre Botschaft zu verinnerlichen?

Dass ich über 9 Stunden am Ball blieb bei diesem Hörbuch, spricht für seine Qualität.
Das Hörbuch erschien bei Random House Audio, das Buch beim Blessing Verlag. Übersetzt wurde der Roman von Eva Bonné. Eine Hörprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hier die Autorin in einer kurzen Buchvorstellung:

Heidi Sævareid: Am Ende der Polarnacht Insel Verlag

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Während viele sich auf den Frühling freuen, habe ich mich auf eine Lesereise nach Norden in die Kälte begeben. Die Norwegerin Heidi Sævareid hat einen richtig schönen Roman über eine aufgrund der äußeren Umstände schwierigen Beziehung veröffentlicht. Wir reisen nach Spitzbergen, wie die Autorin und erleben „Das Ende der Polarnacht„. Spitzbergen, Svalbard genannt, das zu Norwegen gehört, spielt letztlich die Hauptrolle im Roman. Denn auf Spitzbergen zu leben ist eine riesige Herausforderung, für Menschen aus dem „Süden“. Im Winter (von Oktober bis Februar) werden die Tage kaum hell, während es im Sommer auch nachts nicht dunkel wird. Sævareid schildert das in eindrücklicher Weise.

1957: Wir begegnen Eivor und Finn, einem jungen Ehepaar mit zwei kleinen Töchtern, Unni und Lisbeth. Finn ist Arzt, Chirurg und bekommt die Chance sich auf Spitzbergen zu qualifizieren. Während Finn sich sehr schnell in Longyearbyen, dem Hauptort der Insel einlebt, wegen seiner Tätigkeit im Krankenhaus schnell Bekanntschaften schließt, im Fußballverein spielt und im Turnverein mitmischt, findet sich Eivor nur schlecht zurecht. Sie kümmert sich vorwiegend um die Kinder und den Haushalt. Eivor ist schnell überfordert mit den sehr lebhaften Kindern. Als sie vom Sysselmann, dem Ortsvorsteher, die Huskyhündin Jossa ausgeliehen bekommt, damit sie auf ihren Skitouren nicht alleine ist, verändert sich ihr Leben. Die beiden haben Respekt voreinander, sind aber bald ein Herz und eine Seele. In kurzen Rückblenden erfährt man, wie es zu der Beziehung zu Finn kam und dass sich Eivor eigentlich ein anderes Leben gewünscht hat.

Am Anfang des Romans erlebt die Familie, wie sich die Zeit hier im Norden nach den Jahreszeiten, den Temperaturen richtet und wie abhängig die Bewohner davon sind. So achtet man im Herbst darauf, wann der Fjord zufriert, weil dann kein Schiff mehr auf die Insel gelangen kann. Das letzte Schiff ist also auch die letzte Möglichkeit Nahrung, Medikamente, ja Weihnachtsgeschenke auf die Insel zu bringen oder eben auch die letzte Möglichkeit die Insel vor dem Frühjahr zu verlassen. Gleichzeitig wird in der kleinen Gemeinschaft jeder Anlass genutzt, kleine oder größere Feste zu feiern um den eintönigen Alltag zu durchbrechen. Für Eivor ist diese Isolation täglich eine neue Herausforderung. Um dem monotonen Einerlei zu entkommen, begibt sie sich auf lange Skitouren mit Jossa, während eine der Krankenschwestern auf die Kinder aufpasst. Das Gewehr hat sie immer dabei, denn auf Spitzbergen sind Eisbären, die durchaus auch einmal in den Ort kommen, eine nicht seltene Gefahr.

„Eivors Ausflüge werden immer kürzer, je enger sich die Tage um sie herum schließen. Mit jedem Tag, der verstreicht, wird das kleine Fenster mit Dämmerlicht kleiner und kleiner, und ihr Bewegungsradius schnürt sich im Takt enger. Sie traut sich nicht, lange Ausflüge zu machen, nicht einmal mit Jossa, nicht einmal mit Gewehr und Stirnlampe.“

Finn ist mit seinen Patienten ausgelastet, in den Kohlebergwerken kommt es immer wieder zu Unfällen bei den Grubenarbeitern. Er arbeitet zusammen mit dem Assistenzarzt Reidar und dem Zahnarzt … Immer wieder gibt es Überstunden oder lange Schichtdienste. Finn und Eivor entfremden sich zusehends. Von Anfang an bekommen sie auch privat Besuch von Heiberg, der in der Verwaltung des Bergwerks arbeitet. Zunächst scheint sich eine Männerfreundschaft zu entwickeln, doch bald schon zeigt sich, das Heiberg allerlei Merkwürdigkeiten und Ticks entwickelt. Eivor und die Kinder sind von seinen immer häufiger werdenden Besuchen genervt. Finn sieht sich in der Pflicht, dem Mann zu helfen.

Ganz nebenbei erfährt man auch von politischen Geschehnissen. Denn es herrscht der Kalte Krieg, es wird aufgerüstet mit Atombomben und man befürchtet, dass auch auf Svalbard ein Militärstützpunkt errichtet werden könnten, was Russland, das auf Svalbard auch Kohle fördert, nicht gefallen würde. Gleichzeitig ist man den Russen freundschaftlich verbunden, so dass man sich mit russischen Turnvereinen zu Wettkämpfen trifft.

Im Sommer verbringt die Familie mehrere Wochen in Norwegens Süden und in Oslo bei Eltern und Freunden. Für Eivor ist es eine vollkommen unbeschwerte Zeit und das Paar nähert sich wieder an.
Als sie wieder zurück sind, verrutscht das Gleichgewicht erneut. Eivor schafft es zwar die Kinder zu versorgen, doch Finn bekommen sie immer weniger zu sehen. Inzwischen ist Jossa vollständig in der Wohnung eingezogen und wichtigster Bezugspunkt für Eivor. Finn bemerkt, dass Heiberg immer mehr psychische Auffälligkeiten zeigt. Auf psychiatrische Erkrankungen ist das Krankenhaus nicht eingestellt, das letzte Schiff ist vor Wochen abgefahren. Und Heiberg verletzt sich selbst und gefährdet bald andere. Für Finn ist das eine große Herausforderung, er fühlt sich dem Beruf verpflichtet, der sich nun aber schwer mit der Familie vereinbaren lässt.

Die Autorin hat eine große Gabe, an Stellen wo es wichtig ist, genau hinzusehen. Sie zeichnet ihre Figuren bildhaft, besonders Eivor. Eivor in ihrer inneren Not und in ihrem Ringen zwischen Selbstbestimmung und Selbstaufgabe. Auch die Unterschiedlichkeit der Charaktere, die großen Unterscheide zwischen Finn und seiner Frau arbeitet sie deutlich heraus. Finn ist sehr gesellig, Eivor eher verschlossen. Eivor möchte gerne Zeit alleine mit ihrem Mann verbringen, Finn bringt oft unangekündigt Gäste mit. So spitzt sich die Lage immer mehr zu. Reden können die beiden kaum miteinander, obwohl sie es immer wieder versuchen. Als Leserin warte ich förmlich darauf, dass die Situation eskaliert. Gegen Ende des Romans, wir begleiten die Familie über ein ganzes Jahr, löst sich zumindest einer der Knoten auf. Doch die schwierige Grundsituation bleibt.

„Das Licht muss im Laufe der letzten Tage zurückgekehrt sein, sie erinnert sich nur an die Dunkelheit, bevor sie krank geworden ist. Es muss auf einmal ganz schnell gegangen sein. Das passiert Anfang Februar, das weiß sie noch vom letzten Jahr. Alles andere steht still. Das Einzige, was sich ändert, ist das Licht.“

Mich hat der Roman gefesselt, auch sprachlich, denn die Autorin erzählt leichthin und dennoch tief, atmosphärisch dicht. Die Kälte der Polarnacht, die den Menschen auf Dauer so zusetzt, war direkt spürbar.

Der Roman erschien im Insel Verlag. Karoline Hippe hat ihn aus dem Norwegischen übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Zeichen & Zeiten.

Ein weiteres empfehlenswertes Buch über Spitzbergens Polarnacht, ist der inzwischen schon Klassiker gewordene Roman „Eine Frau erlebt die Polarnacht“ von Christiane Ritter, bereits 1934 geschrieben.

Carl-Christian Elze: Freudenberg edition Azur/Voland & Quist

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„Freudenberg musste an seine eigene Zunge denken, daran, dass sie ihm lästig war; schon immer. Schon als Kind hatte er instinktiv begriffen: ohne Zunge keine Sprache und ohne Sprache keine falschen Sätze und ohne falsche Sätze keine falschen Gedanken und Gefühle.“

Ich war sehr neugierig auf den Debütroman von Carl-Christian Elze, liebe ich doch seine Gedichte so sehr. Zwei seiner Bände habe ich hier bereits auf dem Blog besprochen. Doch ich muss es sagen, wie ich es empfinde: Der Roman „Freudenberg“ hat für mich nicht die Stärke und Schönheit seiner Gedichte erreicht. Anfangs war ich noch gut dabei: ein 17-Jähriger, der mit den Eltern an die polnische Ostsee in Urlaub fährt und der sich schnell von seinen Eltern abkapselt. Der Vater sehr dominant, die Mutter zurückhaltend, Freudenberg selbst sich immer fort fremd fühlend in der Welt. An einem abgelegenen Strandabschnitt stößt er auf die Leiche eines Jungen, der ihm sehr ähnelt und er entscheidet sich, dessen Identität anzunehmen, die des polnischen Marek. Das versprach spannend zu werden.

Ich habe absolut nichts gegen surreale Szenarien oder gegen magischen Realismus, aber hier fehlte mir die Einordnung. Es gibt viele symbolisch aufgeladene oder traumartige Szenen, wiederholte Zeichen, verrätseltes Schweigen: Sei es die Farbe grün für das Wasser oder rot für die Haarfarbe, die immer wieder zu großen weißen Turnschuhe oder die blauen Beeren. Die Sprache wurde dann zum Halt für mich, gerade auch weil im Inhalt des Romans so viel von fehlender Sprache die Rede ist. Aber obwohl sie schön ist, ist sie bei weitem nicht so wunderbar und verzaubernd, wie sie das in Elzes Lyrik ist.

„Das Meer sah von hier oben viel elender aus als von unten. Es hatte auch keine einheitliche Farbe mehr, wie es vom Strand aus den Anschein erweckt hatte. Bis weit vor die Küste mischte sich in das fleckige Hellblau der Sandbänke noch etwas Grünes hinein. Es war ein schmieriger Grünton, der vielleicht dem Wunsch entsprach, anders zu sein, aber nicht der Fähigkeit dazu. Nur in der äußersten Ferne gab es ein verlässliches unantastbar dunkles Blau, das Freudenberg beruhigte.“

Vielleicht habe ich einfach nicht alles verstanden, hatte zu hohe Erwartungen, kann mich nicht (mehr) in einen 17-Jährigen einfühlen, aber die Hauptfigur, Freudenberg, die sich in der Geschichte eine andere Identität aneignet, mit dieser dann aber auch nichts anfangen kann, hat an mir vorbei gelebt und mich in ihrer „Beschreibung“ nicht genug angeregt. Fragen wurden aufgeworfen: Womöglich ist der Tausch der Identität gar kein wirklicher, sondern findet nur in der Phantasie oder im Traum des Helden statt? Ist es nur ein Versuch der Flucht aus der ungeliebten Elternwelt, aus dem Falsch-sein in dieser Familie, die aus Gründen nicht funktioniert? Sind es Traumsequenzen oder Wahnvorstellungen? Ist es wieder ganz anders, vielleicht eine Nahtoderfahrung? Der Schluss, immerhin, bietet mögliche Lösungen an. Bleibt mir nur noch zu sagen: Es werden viele Zigaretten geraucht in dieser Geschichte.

Ein interessantes Gespräch zwischen Verleger Helge Pfannenschmidt und Carl-Christian Elze hänge ich an. Hier habe ich auch festgestellt, dass der Roman, vorgelesen vom Autor für mich besser funktioniert, als selbst gelesen. Und auch die Hintergründe der Entstehung erklären mir manches und einiges erscheint für mich in neuem Licht.

Der äußerlich schön gestaltete Roman erschien in der Edition Azur. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Nun freue ich mich auf den Sommer, wenn der neue Lyrikband Elzes mit dem schönen Titel „panik/paradies“ im Verlagshaus Berlin erscheint.

Damit ich aber wieder etwas Boden gut mache, lieber Carl-Christian Elze, verlinke ich hier – und empfehle leuchtend – die beiden Lyrikbände:

Carl-Christian Elze: langsames ermatten im labyrinth Verlagshaus Berlin

Carl-Christian Elze: Diese kleinen, in der Luft hängenden, bergpredigenden Gebilde Verlagshaus Berlin

Jonathan Franzen: Crossroads Rowohlt Verlag

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Jonathan Franzen hat mit seinem neuen Roman Crossroads wieder einen 800-Seiter geschrieben. Und ich muss sagen, ich mag solch dicke Bücher immer mehr. Denn hier ist tagelanges Eintauchen und Hineinversetzen möglich, hier ist Weltflucht möglich. Und da der Roman in den 70er Jahren spielt, ist der Inhalt weitab von unserer täglichen Realität, was mir sehr zupass kam. Auch gefallen hat mir, dass sich der komplette Inhalt um Religion, Familienstrukturen, um „Gut und Böse“ und moralisches Handeln, ums Menschlichsein dreht. Aus verschiedenen Richtungen und in all seinen Facetten beleuchtet er dieses Thema und bleibt dennoch sehr unterhaltsam. Das ganze ist auf drei Teile angelegt. Ich hätte am liebsten direkt weitergelesen. Franzen ist und bleibt einfach ein sehr guter Erzähler.

Fast der gesamte Roman spielt am Tag vor Heiligabend (1971) und dann in einem Sprung weiter an Ostern. Stimmig ist diese Anlage ausgerichtet auf kirchliche Feiertage durchaus, ist einer der Hauptprotagonisten doch Pfarrer. Wir begegnen den einzelnen Familienmitgliedern nach und nach in einzelnen Kapiteln, die sich dann teils ineinander verschlingen. Fast alle Protagonisten tragen sehr viele Selbstzweifel und Schuldgefühle in sich und können, zumindest anfangs, nicht aus ihrer Haut.

Da ist zunächst Russ Hildebrandt, Pfarrer der kleinen Vorstadtgemeinde New Prospect, Familienvater von vier Kindern und Ehemann von Marion. Er ist in einer Midlife-Crisis, seit längerem mit seiner Ehe und irgendwie auch mit seinem Beruf unzufrieden, vor allem seitdem ihm der jüngere Rick Ambrose als Leiter der Jugendgruppe „Crossroads“ den Rang abgelaufen hat. Er hat sich in die verwitwete, gerade zugezogene jüngere Frances Cottrell, verliebt, die nun an diesem Tag mit ihm als Gemeindehelferin Weihnachtsgeschenke an die ärmeren in einem vorwiegend schwarzen Stadtviertel, verteilen will. An diesem Tag ist ein Schneesturm angesagt und tatsächlich läuft alles anders als geplant, auch mit Frances.

Wir begegnen Perry, dem hochbegabten aber wenig gesellschaftsfähigen 15-Jährigen, den seine Familie anödet und der in allem unterfordert ist. Er ist derjenige, der sich am meisten im Denken und im Philosophieren bis an seine Grenzen verrennt.

„Also meine Frage ist wohl“, sagte er, „ob gute Werke wirklich um ihrer selbst willen getan werden können oder ob sie bewusst oder unbewusst, immer einem persönlichen Zweck dienen.“
Pfarrer Walsh und der Rabbi tauschten Blicke, in denen Perry freudige Überraschung ausmachte. Es verschaffte ihm Genugtuung, ihre Erwartungen an einen Fünfzehnjährigen auf den Kopf zu stellen.“

Er verstrickt sich schon als Teenager in kleine Drogengeschäfte, was in der Familie aber zunächst unentdeckt bleibt, weil vor allem jeder mit sich selbst zu tun hat. Um seine Schuldgefühle und seinen Groll gegen den Vater in den Griff zu kriegen und ein besserer Mensch zu werden, landet er bei den gruppentherapeutischen Abenden von Ambrose.

„Als Becky zu Crossroads kam beherrschte er das Spiel bereits. Das Ziel war, dem Kern der Gruppe näherzukommen, einer aus dem inneren Kreis zu werden, indem man die Regeln befolgte, die Ambrose und die anderen Betreuer vorlebten. Es waren Regeln, die ein der Intuition zuwiderlaufendes Verhalten einforderten. Anstatt einen Freund mit Flunkereien zu trösten, sagte man ihm die unliebsame Wahrheit. Anstatt die Verklemmten, hoffnungslos Uncoolen zu meiden, ging man zu ihnen und ließ sich auf sie ein …“

Bei einem der Treffen wird ihm in einer Übung als Partnerin seine 17-jährige Schwester Becky zugelost, was fatal ist, da sie ihm gehörig den Kopf wäscht. Ehrlichkeit und Gefühle zeigen ist in dieser Gruppe oberstes Gebot. Becky ihrerseits ist eigentlich nur bei Crossroads dabei, weil sie sich in den begehrten Rockmusiker Tanner verliebt hat und er eine der tragenden Säulen der Gruppe ist. Sie ist beliebt und gutaussehend, aber eben ohne Ecken und Kanten. Gerade diese faszinieren sie an Tanner. Becky ist im Zwiespalt, denn sie hat Geld geerbt von ihrer verstorbenen Lieblingstante; die Eltern verlangen von ihr dies mit den Geschwistern zu teilen, wozu sich sich aber nicht wirklich entschließen kann. Sie wird später mit ihrer Familie brechen.

Clem, der Älteste, studiert bereits und hat eine Freundin. Clem möchte seinem Vater eins auswischen, in dem er sein Studium abbricht und sich freiwillig zur Army für einen Einsatz im Vietnam-Krieg meldet, auch weil er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, dass er studiert, während andere für das Land kämpfen. Den Brief schickt er nach langem Zögern ab, kurz vor der Abfahrt nach Hause. Doch der Besuch zuhause erweist sich auf mehreren Ebenen als Reinfall und Clems Wege führen letztlich ganz woanders hin …

Besonders viel Raum, und in meinem Empfinden zu recht, erhält Marion, die Frau von Russ. Hausfrau und Mutter, Pfarrersfrau, die fast alle Sonntagspredigten für ihren Mann schreibt. Sie leidet unter ihrem Übergewicht und darunter, dass Russ sich nicht mehr für sie interessiert. Deshalb geht sie zur Therapie. Auch an diesem Tag vor Heiligabend und in einer sehr langen Sitzung, die einen Durchbruch bringt, erfahren wir Marions ganze Lebensgeschichte, die ich wirklich für großartig auserzählt halte. Marion ist für mich auch die interessanteste Figur in diesem Roman. Marion hat einige Krisen hinter sich, als sie Russ begegnet und denkt, nun beginne endlich das gute Leben. Sie hat eine Abtreibung hinter sich, eine unheilvolle Beziehung mit einem verheirateten Mann und einen Psychiatrieaufenthalt. Danach wendet sie sich Gott zu. Von ihrer Vergangenheit hat sie ihrem Mann und den Kindern nie etwas erzählt. Sie macht auch im Verlauf des Romans die größte Entwicklung durch.

Ostern: Die Crossroads-Gruppe unter Ambros plant eine Reise in ein Navajo-Reservat, wo Russ bereits seit vielen Jahren den Indigenen beim Ausbau ihrer Dörfer hilft. Diesmal fährt Perry mit und Russ konnte auch Francis Cottrell, deren Sohn ebenfalls teilnimmt, überzeugen mitzufahren. Russ will Frances nun zeigen, was er kann und wie toll er in seiner Arbeit bei und mit den Indigenen aufgeht. Dass diese Arbeit seitens der Einwohner gar nicht mehr gewünscht ist, verdrängt er, bis es eben zu unschönen Auseinandersetzungen kommt. Wegen Francis verletzt er mehrfach seine Aufsichtspflicht. Und Sohn Perry ist weit von seinem Entschluss entfernt, ein besserer Mensch zu werden und er löst letztendlich auch das komplette Chaos aus und damit das Ende der Reise.

„Und so vergrößerten sich die Wellenkreise, die der Schaden zog. Fortan würde Judson ein Junge mit einem psychische kranken Bruder sein.“

Wer im Roman fast immer fehlt, ist der jüngste Sohn Judson. Er spielt eine sehr kleine Rolle, was sich hoffentlich mit der Fortsetzung ändert.

Viele Kritiken hielten Franzens Roman bzw. seine Erzählweise für altmodisch. Es fällt mir schwer, das zu beurteilen, aber wenn es so ist, hat es dem Roman, wie ich finde gut getan. Es ist für mich ein Buch, in dem Handlung wie Sprache stimmig korrespondieren und wer weiß, ob sich der Ton in den nächsten beiden Bänden nicht verändert und sich dem Verlauf der Zeit anpasst. Ich bin gespannt.

Der Roman erschien im Rowohlt Verlag. Übersetzt hat ihn Bettina Abarbanell. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere, weitaus tiefer blickende Besprechung gibt es auf dem empfehlenswerten Blog „Kommunikatives Lesen“.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Cynthia Häfliger: Fremde Blicke Graphic Novel Kunstanstifter Verlag

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Aus dem Kunstanstifter Verlag habe ich schon so einige schöne Bücher gelesen und bewundert. „Fremde Blicke“ von der 1994 geborenen Schweizerin Cynthia Häfliger führt uns in die Welt einer psychischen Erkrankung. Die Autorin und Illustratorin zeichnet beeindruckend und stimmig eine Welt, die von Realitätsverlust geprägt ist. Ich finde es gut und wichtig, dass sich die Literatur und die Kunst, auch gerade in dieser Form, mit Erkrankungen wie in diesem Fall einer Psychose beschäftigt. Das Thema Psychische Krankheit wird noch viel zu oft unterdrückt und die Betroffenen stigmatisiert. Da der Text sehr knapp gehalten ist, muss man genau schauen und lesen, um die Geschichte verfolgen zu können. Für Menschen, die sich mit der Thematik bereits befasst haben, ist es leichter. Für andere dennoch ein guter Einstieg.

In dieser Graphic Novel gibt es wenig Text, dafür umso tiefer wirkende Bilder. Sie sind immer dann besonders stark, wenn die Not der Hauptfigur am größten ist. Zuerst fällt mir auf, dass nirgends schwarz oder grau verwendet wird, wie es beispielsweise bei Illustrationen von Depressionen oft benutzt wird. Obwohl auch hier dunkle Phasen herrschen, werden sie sehr eigen und sehr stimmig interpretiert.  Sobald es im Verlauf der Geschichte schwieriger wird, werden auch die Farben „härter“, die Stiftspuren deutlich sichtbar. Vorherrschend sind die Farben Blau, Grün, Rot, Gelb in ihren Nuancen, durch Verwässerung oft farblich abgeschwächt bzw. verfeinert. Aus rein persönlichem Künstlerinteresse hätte mich noch interessiert, mit welchem Material die Bilder gemacht wurden, habe aber keine Angaben dazu gefunden. Ich vermute das vor allem Buntstift, Aquarell- und/oder Ölkreide verwendet wurde.

Die Geschichte wird, denke ich, aus Sicht der Schwester des Protagonisten Lars erzählt. Es beginnt mit einer ganz normalen Familie, Vater, Mutter, Tochter und Sohn. Die Kinder sind altersmäßig nicht so weit entfernt und verstehen sich gut. Lars ist wenig auffällig, bis er zum Studium von zuhause aus- und in eine andere Stadt zieht. Beim ersten Besuch zuhause, fällt den Eltern auf, dass Lars sich seltsam verhält und er sich beobachtet oder verfolgt fühlt. Nach kurzer Zeit zieht er deshalb auch wieder zu Hause ein. Doch auch hier geht es weiter, Lars will die Kaffeebohnen nicht für seinen Kaffee, sie könnten vergiftet sein, der Nachbar, der gegenüber Rasen mäht ist plötzlich böse. Wenn die Eltern versuchen zu verstehen und zu intervenieren, rastet Lars immer öfter aus. Die Schwester recherchiert die Symptome und zusammen mit den Eltern wird klar, dass Lars besser zum Arzt gehen müsste, um die Situation zu klären und um professionelle Hilfe zu bekommen. Als Lars das mitbekommt, verschwindet er.

Hier wird auch gut aufgezeigt, was das ganze mit der Familie macht. Alle sind unsicher, besorgt, können sich schlecht auf den Alltag konzentrieren, die Mutter sucht die Schuld bei sich. Lars taucht nach Tagen wieder auf, sieht aber für sich keinen Handlungsbedarf, da für ihn alles Realität ist, was er in seiner Psychose erlebt. Diese Diagnose erhält er schließlich in der Klinik, in die die Eltern ihn notgedrungen bringen. Über den Klinikaufenthalt und die Behandlung erfährt man nichts. Hier stehen auch wieder die Angehörigen im Fokus. Es braucht Wochen, bis Lars wieder den Kontakt nach draußen sucht und zuhause anruft. Beim ersten Besuch versucht er den Eltern und der Schwester zu vermitteln, was in ihm vorging. Doch das bleibt schwierig. Denn das ganze Ausmaß ist vermutlich nur zu verstehen, wenn man selbst in der Situation ist. Dennoch kommt die Familie wieder in einen stabileren Rhythmus, als Lars Wochen später nach Hause entlassen wird. Es bleibt schwierig, aber nicht unmöglich, dieses neue Zusammenleben …

Cynthia Häfliger ergänzt ihr Buch am Ende mit Adressen, bei denen man Hilfe holen kann, wenn man selbst oder als Angehöriger von dieser Krankheit betroffen ist. Das finde ich eine richtig gute Idee. 

Das Buch erschien gerade im Kunstanstifter Verlag. Mehr darüber hier . Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. 

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Weitere Bücher aus dem tollen Verlag, die ich hier bereits besprochen habe:

Dobrot/Knausenberger, Chaumeny/Ehninger: Wenn ich Flügel hätte Kunstanstifter Verlag

Karen Minden / Marie Luise Kaschnitz: Eisbären Kunstanstifter Verlag

Lucia Jay von Seldeneck/Florian Weiß: Ich werde über diese Merkwürdigkeit noch etwas drucken lassen Kunstanstifter Verlag