Stewart O`Nans neuer Roman Ocean State fügt sich nahtlos in die Reihe seiner vorigen Romane ein. Er ist einer der großen US-amerikanischen Erzähler. Immer lesenwert, dabei unspektakulär, wechselnde Themen, fein konstruiert und kurzweilig erzählt. Ich habe in den letzten Jahren einige seiner Romane gelesen, zwei auch bereits auf dem Blog besprochen. Siehe unten.
Wir befinden uns in der Stadt Westerly, Rhode Island, USA. Die Geschichte dreht sich um einen Mord, der von einer 18jährigen Highschool-Schülerin begangen wird. O`Nan beginnt mit dem Treffen des jungen Liebespaares Birdy und Myles, die eigentlich beide mit einem anderen Partner zusammen sind. Was für Myles wohl nur ein Abenteuer ist, fühlt sich für Birdy wie die große Liebe an. Birdy, eigentlich Beatrix lebt bescheiden mit ihrer alleinerziehenden Mutter, von Myles erfährt man nur, dass er aus einem reicheren Elternhaus kommt. Seine Freundin Angel lebt mit ihrer Mutter Carol und ihrer 13jährigen Schwester Marie, aus deren Perspektive auch die meiste Zeit erzählt wird in einer schlechten Wohngegend. Der eintönige Alltag besteht aus Schule, Arbeit, fernsehen, durchbrochen von wenigen feierlichen Anlässen wie Halloween oder Weihnachten. Die Mutter, die regelmäßig trinkt, bringt immer wieder neue Männer mit, auch Angel ist viel unterwegs. Marie fühlt sich alleingelassen und nicht gesehen. Immer wieder wird sie zur Großmutter abgeschoben. Denn sie ist in der Familie die brave Tochter. Im Gegensatz zu Angel, die wohl öfter über die Stränge schlägt. Aus Frust isst sie zu viel, fühlt sich dabei minderwertig gegenüber ihrer hübschen Schwester Angel.
„Wir fürchteten Dramen, waren aber auch süchtig danach. Weil wir jung waren, hielten wir uns für stark. Wir dachten, wir wären abgehärtet. Wir wollten, dass das Schlimme schnell passierte, damit die schmerzlichen Augenblicke vorüber waren und wir unser normales, langweiliges Leben fortsetzen konnten.“
Der Autor schafft es über mehr als die Hälfte des Buches die Spannung zu steigern, bevor die Tat wirklich begangen wird. Geschickt geht er dabei vor und schildert gekonnt die einzelnen Charaktere, die Abhängigkeiten und die Unsicherheiten der Paare im Collegealter, aber auch die deren Eltern. Man erinnert sich dabei selbst an die eigene Zeit der ersten bedeutungsvollen Liebe und des furchtbaren Liebeskummers. Beim Lesen dachte ich dann oft, wie abgeklärt man die Geschichte jetzt im fortgeschrittenen Alter liest und sich wundert, wie ernst und tragisch das alles damals war, als die Gefühle Achterbahn fuhren.
O`Nan lässt uns Leser nicht erfahren, was und wie genau der Totschlag passiert, erzählt auch wenig über die Phase der Inhaftierung, außer, dass die Tat im Strandhaus von Myles Eltern geschah, welches auch der Treffpunkt der beiden Liebenden war. Die Täterin scheint nach Außen hin kühlen Kopf zu bewahren, so als wäre sie vollkommen unbeteiligt.
„Egal, ob es ein Unfall war oder nicht, sie weiß, dass sie Reue empfinden sollte, doch wenn sie ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie irgendwie wollte, dass das kleine Miststück tot ist. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. In ihren schwächsten Momenten schließt sie ihre Tür ab, kniet sich wie ein Kind vors Bett und erfleht die Barmherzigkeit Gottes.“
Tatsächlich blieb mir aus meiner Sicht unerklärlich, wie man eine solche Tat, die in diesem Fall ja im Ansatz geplant war und dann aus dem Ruder lief, begehen kann. Aus beleidigtem Stolz? Aus Nervenkitzel? Was muss passieren, damit man soweit geht? Es erschließt sich mir nicht. Und das sagt auch Marie, die im abschließenden Kapitel rückblickend von den weiteren Geschehnissen und der Zukunft der Protagonisten erzählt. Sie ist die einzige, die weiter im Ort lebt, und als Lehrerin noch lange mit der Geschichte von Außen konfrontiert wird. Einen Krimi sollte man nicht erwarten, aber eine spannend beleuchtete Milieustudie.
Der Roman erschien im Rowohlt Verlag. Übersetzt hat wie immer Thomas Gunkel. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Eine weitere Besprechung gibt es bei Letteratura. Ein schönes Interview mit dem Autor gibt es hier.
Zwei weitere Romane des Autors habe ich hier besprochen. Auch „Die Chance“ empfehle ich sehr.
Stewart O`Nan: Stadt der Geheimnisse Rowohlt