
Seit Herzmilch habe ich alle Romane von ihr gelesen (ältere Besprechungen hänge ich unten an), fast alle gefielen mir. Alle behandeln wichtige Themen, immer in Richtung Feminismus/Frausein. Der neue Roman Einzeller hat mich wieder besonders neugierig gemacht, da ich auch selbst spüre, wie stark sich doch der „alte“, für mich echte aktive Feminismus vom „neuen“, wie sagt Simone im Roman so schön: „Sternchenfeminismus“, unterscheidet.
„Gästinnen. Wie sie dieses Wort hasste. Wie sie diese Sprachpolitik nervte. Dieses woke Erbsenzählen. Jeder Text eine Minenfeld, an jeder Ecke die neuen Moralistinnen, die einem an den Lippen hängen und jedem falschen Wort auflauerten und Aussagen auf Mikroaggressionen prüften.“
In einem renovierungsbedürftigen ungenutzten Schulhaus in Wien gründen die drei langjährigen Freundinnen Simone, Eleonora und Maren eine Frauen-WG, genannt der Bienenstock. Simone ist mit fast Sechzig bereits eine Ikone in Sachen Feminismus. Sie hat allerhand bewirkt und in Bewegung gebracht und versucht das noch immer. Die jungen Feministinnen sind ihr ein wenig suspekt, so sie doch vor allem auf Social Media-Kanälen aktiv sind und wenig im realen Leben, wo es dringender notwendig wäre. Dennoch wollen die drei sich zwei weitere Mitbewohnerinnen dazu holen um den „Bienenstock“, so der WG-Name, zu erneuern und zu verjüngen. Die Wahl fällt auf Flora, eine junge Juristin und auf Lilly, die noch Studentin ist. Das Kennenlernen und Zusammenleben lässt sich zunächst gut an. Alle sind aufeinander neugierig.
Klemm erzählt wechselweise aus der Perspektive von Simone und von Lilly. Aus Simones Sicht erfahren wir am meisten über feministische Themen. Lilly erzählt vor allem von sich selbst. Als Hauptthema am stärksten vertreten ist das Thema Abtreibung, da hier die Politik wohl am Status Entscheidungsfreiheit rütteln möchte, denn Wahlen stehen bevor. Bald schon zeigen sich Unterschiede bei den Prioritäten zwischen jung und älter. Lilly, die es eigentlich betrifft, kümmert sich wenig um das Thema, sie findet ihre Meinung vor allem beim Mainstream auf Instagram. Simone hingegen kämpft draußen gegen konservative Parteien und kirchliche Gruppen und in Interviews und Aktionen für „Mein Körper, meine Entscheidung“. Männer sind nicht erlaubt in der WG. Das macht Lily nichts aus, denn ihr Freund ist ohnehin viel auf Reisen.
Als Simone angesprochen wird, mit ihrer WG an einer TV-Show mitzuwirken, ist sie zunächst skeptisch, lässt sich aber doch überreden. Drei WG`s unterschiedlicher Ausrichtung und unterschiedlichen Alters sollen mit einer Person, die einen anderen Standpunkt vertritt live diskutieren und einander überzeugen. Das wird natürlich zum Desaster und Simone wird immer angefressener. Ihr wird generell alles zu viel. Sie arbeitet sich an Themen ab, die längst in Sack und Tüten waren, doch nun offenbar von vielen in Frage gestellt werden. Die Politik wird konservativer und rechter. Durch die Sendung driften die Bewohnerinnen immer mehr auseinander.
“ Die Cis-Hetero-Normalo-Frauen, die ihr als SWERFs und TERFs beschimpft, wissen gar nicht , was SWERFs und TERFs sind. Denen geht dein theoretischer Feminismus am Arsch vorbei, weil ihnen das Patriarchat die Zeit zum Lesen und Nachdenken über die weibliche Identität stiehlt. Die können nicht über Judith Butlers feuchte Träume diskutieren, weil sie in ihren ungeputzten Wohnungen und schlechtbezahlten Jobs „echte“ Sorgen haben.“
Lilly wird ungewollt schwanger vom Freund ihres Freundes, will das Kind nicht abtreiben, sondern zieht mit dem Vater zusammen. Auch Flora zieht aus. Viele Monate später, das Kind ist da, flüchtet Lilly in den Bienenstock, weil der Kindsvater sie schlägt. Die Frauen bieten ihr sofort Hilfe an. Doch nach einer Weile kehrt sie wieder zu diesem Mann zurück. Simone, nach einem Burnout und einer Reise nach Venedig, gerade von einem Besuch bei ihrer Tochter in Berlin zurückgekehrt, hat den Entschluss gefasst, nicht mehr aktiv zu sein. Einen Preis soll sie bekommen für ihre langen Bemühungen um Frauenrechte. Den Preis wird sie noch mitnehmen und dann wird sie in Rente gehen und nicht mehr kämpfen, nur noch leben.
„Sie sitzen in einem dieser Cafés mit idiotischen Namen, die den Kollwitzplatz säumen, weil Simone es mit eigenen Augen sehen wollte: das bourgeoise, grüne Ökoberlin, über das man sich in Wien lustig macht“
Das Ende empfand ich ziemlich erschütternd, möchte es aber hier nicht vorweg nehmen. Für mich ist eindeutig Simone die Heldin und Sympathieträgerin. Ihr Handeln und Denken sind mir vertraut. Sie sieht das Große und Ganze, die Zusammenhänge. Sie weiß, dass es nicht mit social media-Posts getan ist.
“ Der Netzfeminismus, den sie mitkriegt, schwebt gerade über dem Regenbogen ins Einhornland, während darunter so gut wie jedes Terrain, das in den Siebzigern erstritten wurde, von den Patriarchen zurückerobert zu werden droht.“
Mir hat die Geschichte richtig gut gefallen, denn sie ist trotz des Themas nicht mainstream. Ich habe bei unglaublich vielen Passagen genickt und zugestimmt. Die Autorin lässt sich nicht von irgendeiner Seite vereinnahmen und dadurch gelingt ihr ein eindrückliches Porträt der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Situation der Frauen. Sie blättert einzelne Frauenbiographien auf und lässt uns selbst sehen, wie es läuft und gelaufen ist. Es liegt an uns, wie es weiter geht. Bleibt zu hoffen, dass es in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen nicht wieder Rückschritte gibt
Das Buch erschien im Kremayr & Scheriau Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.