Gertraud Klemm: Einzeller Kremayr & Scheriau


Seit Herzmilch habe ich alle Romane von ihr gelesen (ältere Besprechungen hänge ich unten an), fast alle gefielen mir. Alle behandeln wichtige Themen, immer in Richtung Feminismus/Frausein. Der neue Roman Einzeller hat mich wieder besonders neugierig gemacht, da ich auch selbst spüre, wie stark sich doch der „alte“, für mich echte aktive Feminismus vom „neuen“, wie sagt Simone im Roman so schön: „Sternchenfeminismus“, unterscheidet.

Gästinnen. Wie sie dieses Wort hasste. Wie sie diese Sprachpolitik nervte. Dieses woke Erbsenzählen. Jeder Text eine Minenfeld, an jeder Ecke die neuen Moralistinnen, die einem an den Lippen hängen und jedem falschen Wort auflauerten und Aussagen auf Mikroaggressionen prüften.“

In einem renovierungsbedürftigen ungenutzten Schulhaus in Wien gründen die drei langjährigen Freundinnen Simone, Eleonora und Maren eine Frauen-WG, genannt der Bienenstock. Simone ist mit fast Sechzig bereits eine Ikone in Sachen Feminismus. Sie hat allerhand bewirkt und in Bewegung gebracht und versucht das noch immer. Die jungen Feministinnen sind ihr ein wenig suspekt, so sie doch vor allem auf Social Media-Kanälen aktiv sind und wenig im realen Leben, wo es dringender notwendig wäre. Dennoch wollen die drei sich zwei weitere Mitbewohnerinnen dazu holen um den „Bienenstock“, so der WG-Name, zu erneuern und zu verjüngen. Die Wahl fällt auf Flora, eine junge Juristin und auf Lilly, die noch Studentin ist. Das Kennenlernen und Zusammenleben lässt sich zunächst gut an. Alle sind aufeinander neugierig.

Klemm erzählt wechselweise aus der Perspektive von Simone und von Lilly. Aus Simones Sicht erfahren wir am meisten über feministische Themen. Lilly erzählt vor allem von sich selbst. Als Hauptthema am stärksten vertreten ist das Thema Abtreibung, da hier die Politik wohl am Status Entscheidungsfreiheit rütteln möchte, denn Wahlen stehen bevor. Bald schon zeigen sich Unterschiede bei den Prioritäten zwischen jung und älter. Lilly, die es eigentlich betrifft, kümmert sich wenig um das Thema, sie findet ihre Meinung vor allem beim Mainstream auf Instagram. Simone hingegen kämpft draußen gegen konservative Parteien und kirchliche Gruppen und in Interviews und Aktionen für „Mein Körper, meine Entscheidung“. Männer sind nicht erlaubt in der WG. Das macht Lily nichts aus, denn ihr Freund ist ohnehin viel auf Reisen.

Als Simone angesprochen wird, mit ihrer WG an einer TV-Show mitzuwirken, ist sie zunächst skeptisch, lässt sich aber doch überreden. Drei WG`s unterschiedlicher Ausrichtung und unterschiedlichen Alters sollen mit einer Person, die einen anderen Standpunkt vertritt live diskutieren und einander überzeugen. Das wird natürlich zum Desaster und Simone wird immer angefressener. Ihr wird generell alles zu viel. Sie arbeitet sich an Themen ab, die längst in Sack und Tüten waren, doch nun offenbar von vielen in Frage gestellt werden. Die Politik wird konservativer und rechter. Durch die Sendung driften die Bewohnerinnen immer mehr auseinander.

“ Die Cis-Hetero-Normalo-Frauen, die ihr als SWERFs und TERFs beschimpft, wissen gar nicht , was SWERFs und TERFs sind. Denen geht dein theoretischer Feminismus am Arsch vorbei, weil ihnen das Patriarchat die Zeit zum Lesen und Nachdenken über die weibliche Identität stiehlt. Die können nicht über Judith Butlers feuchte Träume diskutieren, weil sie in ihren ungeputzten Wohnungen und schlechtbezahlten Jobs „echte“ Sorgen haben.“

Lilly wird ungewollt schwanger vom Freund ihres Freundes, will das Kind nicht abtreiben, sondern zieht mit dem Vater zusammen. Auch Flora zieht aus. Viele Monate später, das Kind ist da, flüchtet Lilly in den Bienenstock, weil der Kindsvater sie schlägt. Die Frauen bieten ihr sofort Hilfe an. Doch nach einer Weile kehrt sie wieder zu diesem Mann zurück. Simone, nach einem Burnout und einer Reise nach Venedig, gerade von einem Besuch bei ihrer Tochter in Berlin zurückgekehrt, hat den Entschluss gefasst, nicht mehr aktiv zu sein. Einen Preis soll sie bekommen für ihre langen Bemühungen um Frauenrechte. Den Preis wird sie noch mitnehmen und dann wird sie in Rente gehen und nicht mehr kämpfen, nur noch leben.

„Sie sitzen in einem dieser Cafés mit idiotischen Namen, die den Kollwitzplatz säumen, weil Simone es mit eigenen Augen sehen wollte: das bourgeoise, grüne Ökoberlin, über das man sich in Wien lustig macht“

Das Ende empfand ich ziemlich erschütternd, möchte es aber hier nicht vorweg nehmen. Für mich ist eindeutig Simone die Heldin und Sympathieträgerin. Ihr Handeln und Denken sind mir vertraut. Sie sieht das Große und Ganze, die Zusammenhänge. Sie weiß, dass es nicht mit social media-Posts getan ist.

“ Der Netzfeminismus, den sie mitkriegt, schwebt gerade über dem Regenbogen ins Einhornland, während darunter so gut wie jedes Terrain, das in den Siebzigern erstritten wurde, von den Patriarchen zurückerobert zu werden droht.“

Mir hat die Geschichte richtig gut gefallen, denn sie ist trotz des Themas nicht mainstream. Ich habe bei unglaublich vielen Passagen genickt und zugestimmt. Die Autorin lässt sich nicht von irgendeiner Seite vereinnahmen und dadurch gelingt ihr ein eindrückliches Porträt der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Situation der Frauen. Sie blättert einzelne Frauenbiographien auf und lässt uns selbst sehen, wie es läuft und gelaufen ist. Es liegt an uns, wie es weiter geht. Bleibt zu hoffen, dass es in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen nicht wieder Rückschritte gibt

Das Buch erschien im Kremayr & Scheriau Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Olga Tokarczuk: Empusion Kampa Verlag


Auf diesen Roman von Olga Tokarczuk war ich sehr neugierig, wurde er doch als eine Art Pastiche auf Thomas Manns Zauberberg, den ich sehr liebe, gehandelt. Und, ja, tatsächlich gibt es sehr viele gelungene Anspielungen auf den Zauberberg (wie etwa die berühmte Bleistiftszene!), aber auf seine ganz eigene Art, ist er womöglich noch einen Tick besser, jedenfalls moderner, obwohl durchaus im altmodischen Sprachstil Manns gehalten. Ich bin jedenfalls sehr begeistert – im wahrsten Sinne des Wortes – denn es gibt sehr viel hochprozentige Getränke und eben auch geisternde gespensterartige Wesen zuhauf. (Wikipedia: „Empusa (altgriechisch Ἔμπουσα Émpousa) ist in der Griechischen Mythologie eine weibliche Spukgestalt und ein Schreckgespenst.“) Was ich nicht so wirklich finden kann, ist der vom Verlag angekündigte „feministisch-ökologische“ Schauerroman. Das war aber vermutlich ein Marketingkniff, der zum Kauf anregen soll. Der Roman jedenfalls, feministisch hin, ökologisch her, beginnt mit einem Foto des Schauplatzes (siehe unten) mit einem Zitat aus Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ (welches ich sehr liebe).

Görbersdorf in Niederschlesien (heute Sokolowsko) im Herbst 1913 ist der Tokarczuk`sche Zauberberg. Ein Sanatorium für Lungenkranke und ein Gästehaus für Herren sind die Orte, an denen sich die unterschiedlichsten Tuberkulose-Kranken aufhalten. Einige von ihnen lernen wir näher kennen. Allwissende Erzählerinnen führen die Hauptperson ein, den um die 20-jährigen lungenkranken Mieczyslaw Wojnicz aus Breslau. Ihn umgibt ein Geheimnis, dass erst sehr spät im Roman zu Tage tritt.

„Wir sehen, wie die Kleidung Schicht um Schicht seinen schlanken Körper bedeckt, bis seine Gestalt, nun gänzlich verschieden von der gestrigen, die mit gelblichem Gesicht von Hustenstößen geschüttelt wurde, an der Tür steht, die Hand auf der Klinke, und sich mit geschlossenen Augen vorzustellen versucht, welchen Eindruck sie wohl machen würde, auf jemanden, der sie eben jetzt sähe.“

Er kommt im Gästehaus für Herren unter und trifft dort auf eine illustre Gesellschaft von vier weiteren Gästen und dem Pensionswirt Opitz. Hier ähneln sich die Gesprächsthemen denen des Zauberbergs. Jedoch kann ich mich nicht an solch frauenfeindliche Diskussionen, bei denen sich alle einig sind, bei Thomas Mann erinnern. Unten auf dem Foto kann man lesen, was es mit diesen herabwürdigenden Textstellen auf sich hat. Tokarczuk hat diese nicht etwa erfunden, sondern allerhand bekannte männliche Persönlichkeiten hatten sie geäußert.

Tokarczuk erzählt absolut kurzweilig vom Kuralltag der Gäste. Von den Arztsitzungen, bei denen es auch manchmal psychoanalytisch zugeht, von der Liegekur und der Hydrotherapie, von den Spaziergängen und Ausflügen. Man trifft sich zum Essen im Kurhaus und am Abend in Opitzens Gasthaus mit den anschließenden tiefschürfenden Gesprächen. Hier wird ein geheimnisvoller selbstgebrauter Likör namens „Schwärmerei“ ausgeschenkt, der die Gäste in entspannte, mitunter in bewusstseinsverändernde Zustände versetzt. Wie man sich später zusammenreimen kann, werden hier halluzinogene Pilze verarbeitet. Doch es gibt auch verstörende und irritierende Geschehnisse, die besonders Mieczyslaw in Erregung und Angst versetzen. Zunächst begeht die Wirtin Suizid. Dann erzählt einer der Gäste von seltsamen Todesfällen unter Männern, die immer zur gleichen Zeit im Jahr stattfinden. Thilo, ein Kunststudent, zu dem sich Mieczyslaw sehr hingezogen fühlt, geht es von Tag zu Tag schlechter. Von ihm lernt er, einen anderen Blick auf die Dinge zu finden, optische Täuschungen wahr zu nehmen, genau hinzusehen.

„Es gibt Dinge, die wir noch nicht erfassen können. Über die wir kaum etwas Verlässliches zu sagen wissen. Zumal sie nicht auf rationale Weise erklärbar sind. Aber wenn sie existieren, müssen sie auch ihren Platz haben in der Ratio der Welt.“

Immer wieder blicken wir auch in Mieczyslaws Vergangenheit. Er wuchs ohne Mutter nur mit dem Vater auf. Der Vater ist streng und hart und hält hin für verweichlicht, für „weibisch“. Deshalb soll er Ingenieur werden, was aber aufgrund der Erkrankung scheitert. Sehr spät erfahren wir Leser dann noch in Andeutungen, warum er als Kind mit dem Vater zig Arztbesuche über sich ergehen lassen musste.

Sehr schade finde ich, dass die Autorin zwar eine Art „Madame Chauchat“ in den Roman einführt, sie dann aber nicht mehr auftauchen lässt. Auch der Freitod der Pensionswirtin, der ja viele Fragen aufwirft, wird nicht auserzählt, dient letztlich vielleicht nur, um dem Helden einen geheimen Platz zu schenken, an dem er sie selbst sein kann, die Kammer der toten Wirtsgattin. Mehr werde ich zur inhaltlichen Entwicklung nicht schreiben, denn sonst wäre einiges an Spannung verloren.

Olga Tokarczuk hat einen unbedingt lesenswerten Roman in virtuoser Sprache geschrieben. Die ganze Atmosphäre, die melancholische, geheimnisvolle Stimmung hat sie gekonnt widergespiegelt. Skurrile Szenen wechseln sich mit philosophischen Themen ab. Die Natur spielt eine Rolle, eine nicht immer sanfte. Eins greift ins andere. Die Geschichte ist höchst vielschichtig und wirft unentwegt neue Fragen auf. Und das Sanatorium gab es tatsächlich. Es wurde durchaus bekannt durch die neuen Heilarten die ein Dr. Brehmer einführte, und an denen sich wohl sogar Thomas Mann für seinen Roman orientierte. Davos in der Schweiz ist es natürlich nicht. Ich habe jedenfalls einmal wieder den Zauberberg aus dem Regal gezogen und einzelne Passagen nachgelesen. Ein schwärmerisches Leuchten!

Der Roman erschien im Kampa Verlag. Die Übersetzer*innen sind Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Fotos: aus dem Roman

Brigitte Reimann: Die Geschwister Aufbau Verlag / Carolin Würfel: Drei Frauen träumten vom Sozialismus Hanser Berlin


Nach einem hochinteressanten Abend in der Bibliothek Lichtenberg mit Kristina Stella, Herausgeberin einer Bibliographie von Reimanns Werken, die den Debütroman „Die Denunziantin“ von Brigitte Reimann vorstellte, der auch nach mehreren Überarbeitungen nicht erscheinen durfte und nun mit allerlei Anmerkungen 2022 erschienen ist, war ich neugierig auf mehr. Franziska Linkerhand kannte ich schon. Unweigerlich kommt man dann auf den Roman „Die Geschwister“, der kürzlich in einer neuen Ausgabe erschienen ist. Man hatte im letzten Jahr im Keller eines Hauses in Hoyerswerda, in dem Brigitte Reimann wohnte, handschriftliche Notizen und das ursprüngliche Typoskript dieses Romans gefunden. Sozusagen den Text, der von der Zensur damals gestoppt wurde, verändert wurde und 1963 erschien. Liest man ihn, wird auch schnell klar, warum. Ähnlichkeiten finden sich: Jedes Mal ist es eine weibliche junge Hauptfigur, die an die neue Sache hingebungsvoll glaubt und eine junge männliche Hauptfigur, die daran zweifelt. Beides Mal will die eine Hauptfigur die zweite überzeugen von der Richtigkeit und Wahrheit des Systems.

„Ich gehe in den Westen“, sagte Uli, „ich gehe nach Hamburg. Übermorgen.“

1961:Die Geschwister-Geschichte spielt an einem Osterwochenende. Die Familie trifft sich im Elternhaus. Elisabeth ist Künstlerin, arbeitet aber gleichzeitig aus Überzeugung in der Produktion. Elisabeth erfährt, dass ihr geliebter Bruder Uli das Land verlassen will, weil er für sich keine Zukunft sieht. Bereits der ältere Bruder Konrad ging in den Westen. Uli ist schon am zusammenpacken, er will so bald wie möglich weg. Er hat Kontakt mit Konrad, Elisabeth hingegen hatte den Kontakt abgebrochen, die Ausreise als Verrat empfunden. Es beginnen nun Tage, an denen Elisabeth ihren Bruder unbedingt überzeugen will, hier zu bleiben und das Land weiter mit zu unterstützen. Sie versucht es auf ganz verschiedene Arten, dabei hat sie selbst schon erfahren, wie schwierig es werden kann, wenn man nicht auf Linie bleibt. Dabei erfahren wir viel über das bisherige Leben der Geschwister und wie eng sie immer zueinander standen. Wie konnte sich plötzlich dieser Spalt zwischen ihnen auftun? Auch ihren Freund Joachim bezieht Elisabeth mit ein, um ihren Bruder umzustimmen. Doch damit erschafft sie quasi eine ausweglose Situation für ihren Bruder, denn Joachim hat eine höhere Position und wäre in der Lage, ja fast gezwungen ihn zu verraten, um nicht als Mitwisser behandelt zu werden. Das Ende bleibt offen. Wir wissen nicht, ob Uli bleibt oder geht.

Im ausführlichen Anhang lesen wir über den Fund der Originale und was sich dadurch veränderte. Herausgegeben haben diese Neuausgabe Angela Drescher und Nele Holdack.

Als ergänzende Lektüre passt „Drei Frauen träumten vom Sozialismus“ von Carolin Würfel. Die Journalistin wurde 1986 in Leipzig geboren, also noch in der DDR. Sie stellt in ihrem Buch die drei Schriftstellerinnen Maxie Wander, Christa Wolf und eben Brigitte Reimann vor. In drei Teile chronologisch eingeteilt, erzählt sie abwechselnd von den drei Frauen, deren Geburtsjahre nicht weit voneinander entfernt liegen, die sich auch begegnet sind, aber jede ihre ganz eigene Entwicklung durchmachte. Alle drei machten auf ganz eigene Art Bekanntschaft mit dem Nationalsozialismus, Christa Wolf sogar sehr engagiert, so engagiert wie sie direkt danach dem nächsten System, dem Kommunismus anhang. Alle drei hatten jedenfalls die Vorstellung einer besseren Welt, die sie antrieb. Sie waren bildungshungrig auf unterschiedliche Weise.

Bei Maxie Wander, alias Elfriede „Fritzi“ Brunner war die Lage etwas anders, denn sie ist schon immer überzeugte Kommunistin, sie ist mit ihrem Mann Fred extra von Österreich in die DDR gekommen, um den kommunistischen Alltag wirklich zu leben. Dass sie letztlich wohl am kritischsten ist, hängt sicher damit zusammen, dass sie als österreichische Staatsbürger jederzeit ausreisen können. Die Wanders wohnten zur Zeit des Mauerbaus in Kleinmachnow und verloren bei Grenzziehung die Hälfte ihres Gartens. Wie absurd muss das gewirkt haben? Andererseits lebt auch Christa Wolf in Kleinmachnow, allerdings in einem viel feineren Viertel in einer Architektenvilla. (Alle sind gleich. Manche gleicher. Fällt mir dazu ein.) Solche kleinen Details erfahre ich zum ersten Mal und empfinde sie durchaus als wichtig. Die Autorin hat genau recherchiert und das ins Buch gebracht, was möglicherweise noch wenig bekannt ist, zumindest aber ausschlaggebend für die Literatur der Frauen war. Was mir nicht so stimmig vorkommt, ist, dass die Autorin in einem Kapitel einen fiktiven Brief an Brigitte Reimann schreibt. Das soll vielleicht als Auflockerung dienen oder Nähe schaffen, wirkt für mich aber ein wenig aufgesetzt.

Mitte der 60er Jahre scheint sich in der Kulturpolitik etwas weiter zu verengen. Christa Wolf verteidigt Werner Bräunig und seinen Roman „Rummelplatz“, der den Oberen aufgrund seiner Abbildung der sozialistischen Wirklichkeit nicht behagt und an dem ein Exempel statuiert werden soll. Für Christa Wolf war nach dieser Rede alles anders. Auch ihr Schreiben war gefährdet. Sie wird krank. Auch Maxie Wander ereilt ein Unheil. Die geliebte Tochter Kitty stirbt bei einem Unfall. Und Brigitte Reimann erhält die Diagnose Brustkrebs. Maxie überlegt, der DDR den Rücken zu kehren, Brigitte zieht um, nach Neubrandenburg. Auch der Prager Frühling, die Aufstände, die brutal zerschlagen werden desillusionieren die drei Schriftstellerinnen, was Fortschritt und Reformen angeht.

Carolin Würfels Buch hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ich, die ich fast nie Sachbücher lese, habe viel Neues erfahren in einer Form, die mir gefiel, auch sprachlich, so dass ich wieder offener werde für dieses Genre. Als nächstes freue ich mich auf ein Sachbuch, dass im Mai erscheinen wird. Es passt gerade zu meinem Interesse am Thema DDR, dass wieder erweckt wurde, seitdem ich im Osten Berlins lebe: Diesseits der Mauer – Eine neue Geschichte der DDR 1949 – 1990 von Katja Hoyer.

Die Geschwister“ erschien im Aufbau Verlag. „Die Denunziantin“ erschien im Aisthesis Verlag. „Drei Frauen träumten vom Sozialismus“ erschien bei Hanser Berlin. Leseproben finden sich auf der jeweiligen Verlagsseite.

Judith Herrmann: Wir hätten uns alles gesagt Hörbuch Der Hörverlag


Nach dem bemerkenswerten Roman „Daheim“ aus dem Jahr 2021 hat der S. Fischer Verlag nun auch die Frankfurter Poetikvorlesungen von Judith Hermann herausgegeben. Hier erzählt sie über ihr Schreiben, das auch immer mit der eigenen Biografie zu tun hat. Es geht um die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, um das Erzählen, das Erfinden von Geschichten, oft als verfremdete eigene Lebensereignisse. Wie schon beim letzten Roman habe ich auch hier das Hörbuch gewählt, weil ich ihre Stimme, ihre Art vorzulesen so liebe. Vier Stunden sind es, es hätten gerne noch mehr sein dürfen. Besonders gefällt mir auch das Coverbild. Zudem entdeckte ich in den Büchern, die ich von ihr hier stehen habe, dass ich zwei signierte Exemplare besitze. Die Lesung, die ich vor vielen vielen Jahren beim Erfurter Bücherherbst besuchte, hatte ich fast vergessen.

„Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“

Ich bewundere Judith Hermann für ihre Offenheit, für das Private, das sie mitteilt, nie voyeuristisch, jedoch wunderbar in Literatur zu verwandeln weiß. Gleichzeitig lässt sie uns immer in Unsicherheit über den Anteil an Fiktion in ihren Texten. Das Buch lässt sich als Roman lesen, als würde alles, was sie zu erzählen weiß in eine lesbare Form gleiten.

So begegnet die echte(?) Judith Hermann ihrem ehemaligen Psychoanalytiker zufällig in einem Spätkauf in Berlin, in dem sie an einem fortgeschrittenen Abend mit einem Freund steht, um Zigaretten zu kaufen. Sie folgt ihm in die Bar, in die er verschwindet und die beiden kommen ins Gespräch. Sie reden über das, was in der Analyse nie gesagt wurde. Immerhin viele Jahre lag sie 3x wöchentlich auf seiner Couch. Und er als klassischer Freud`scher Analytiker saß am Kopfende und sagte fast nichts – viele Jahre lang. Hermann weiß, dass es letztlich darum geht, die Fragen, die man sich oder ihm stellt, nach und nach selbst beantworten zu können. Es geht ums freie Assoziieren, ums „laute“ Denken. Tatsächlich ist es eine sehr ausführliche andauernde Selbsterforschung, die erstaunlich viel bringen kann. Wir erfahren dabei, wie sie ihr half weiter zu schreiben (weiter zu leben), als es sehr schwierig war. Wir erfahren von ihrer langjährigen Bekannten, die ihr den Therapeuten empfohlen hatte und wie letztlich eine Erzählung im Band „Lettipark“ durch beide entstehen konnte. Da ich diese Erzählungen nicht kannte, habe ich mir gleich noch das Hörbuch aus der Bibliothek als Ergänzung angehört.

Im weiteren Verlauf wird mir klar, weshalb diese langjährige Analyse so notwendig war. Vieles, was (die echte?)Judith Hermann aus ihrer Kindheit, aus ihrer Familie erzählt, kommt mir sehr bekannt vor. Dysfunktional könnte man es nennen. Es besteht eine Enge, keine Fröhlichkeit ist erlaubt, keine Offenheit nach außen, keine Schulkameraden dürfen mit nach Hause gebracht werden. Wie oft habe ich genau diesen Satz in einer Abwandlung („Vögel, die morgens pfeifen …“) gehört, den Judith Hermanns Großmutter ebenfalls aussprach: „Wer am Morgen singt, den holt abends die Katze“. Die Wohnung dem riesigen Puppenhaus ähnelnd, das der Vater der Tochter baute. Die ängstlichen Kinderträume. Der unzuverlässige Vater, der später lange Zeit in der Psychiatrie lebte. Die Mutter, die arbeiten geht, die Großmütter, die sich um das Kind kümmerten. Es ist die Kriegsenkelgeneration, zu der ich auch gehöre.

„Für das Wort Glück, musste Gott um Verzeihung gebeten werden.“

Und immer wieder die Freundin Ada, das Rudel drumherum, die Wahlfamilie, mit der sie als junge Frau im Sommer immer wieder an die Nordsee in das ererbte Haus fährt. Das freie wilde Leben mit den Kindern und Freunden, eine große Patchworkfamilie. Sie erzählt von Marco, dem besonderen Cliquenmitglied, dessen Tod als noch junger Mann. Das Auseinanderdriften nach und nach. Die erste eigene Familie, dann die zweite. Von der riesigen übervollen elterlichen Wohnung der Eltern in Neukölln nach Prenzlauer Berg. Die schweren Zeiten, die es durchzustehen gilt. Und dann natürlich das Schreiben. Wie und weshalb entstehen die Geschichten? Wie werden sie zu literarischen Erzählungen? Was ist der essentielle Satz darin, um den sich alles dreht? Was muss verborgen bleiben, verschwiegen werden, damit die Story funktioniert? Hier empfinde ich Judith Hermann als höchst authentisch, als bei der eigenen Art bleibend, mitunter gar als schreibend gegen die Moden und den Mainstream.

„Jede Geschichte hat ihren ersten Satz, nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt. Manchmal ein Bild oder ein Augenblick, ein Blick auf etwas hin oder von etwas weg. Aber meist ist es ein Satz, den jemand zu jemandem sagt. Ich höre diesen Satz und das Hören ist begleitet von einer nur Sekunden langen aber eindeutigen und unmittelbaren körperlichen Empfindung, ein Erschauern, Vorahnung, eine Gänsehaut.“

Schließlich auch eine neue Beziehung. Eine Beziehung, obwohl das sich öffnen, das Vertrauen so schwer fällt. Hier gehört auch der Satz hin, der den Titel des Buches bildet. Welche Ausnahmesituation braucht es, damit „wir hätten uns alles gesagt“ passieren kann. Judith Hermann kommt im Erzählen vom Hundersten ins Tausendste ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Sie zeichnet die Nebenschauplätze genauso, wie die Hauptfiguren. Ihre Figuren sehnen sich nach den „Verstehst du, was ich sagen wollte“-Momenten, die ich nur allzu gut kenne und die so selten auf Resonanz treffen.

„Jede Geschichte ist eine rückläufige Bewegung auf einen Anfang zu, Schichtung um ein Zentrum. Nicht nur die eigenen sondern auch die der anderen, viel mehr wohl die Geschichten der Anderen, die ich lese, um aus ihnen heraus auf meine eigene Stimme zu kommen, die ohne die Stimme der anderen aber gar nicht hörbar wäre.“

Von der ersten Kurzgeschichte, die mit einem Stipendium in Wewelsfleth im Günter-Grass-Haus entstand, über den ersten Erzählband „Sommerhaus später“ bis zum ersten Roman und immer weiter bis zu „Daheim“ und bis zu den Frankfurter Poetikvorlesungen. Ein Werdegang. Ein Heranreifen, ohne je das eigene, besondere aufzugeben, so empfinde ich es. Und ich habe von Anfang an mitgelesen. Ich empfehle jedes Buch von Judith Hermann, dieses ganz besonders und freue mich schon auf das nächste. Ein Leuchten!

Der Roman erschien im S. Fischer Verlag, Das Hörbuch gelesen von der Autorin im Hörverlag. Eine Hörprobe gibt es hier.

Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Irene Diwiak: Sag Alex, er soll nicht auf mich warten C. Bertelsmann Verlag


Nach ihrem Romandebüt „Liebwies“ das mich sehr begeistert hat und dem zweiten Roman „Malvita“, gibt es nun von der Österreicherin Irene Diwiak einen neuen Roman: „Sag Alex, er soll nicht auf mich warten“, der sich an einer historischen Figur orientiert und der ebenso gelungen und fesselnd ist, ist jedoch aufgrund der Thematik wesentlich ernster. Es ist schon erstaunlich, wie die Autorin solch unterschiedliche Themen gekonnt meistert. Der Roman erschien bewusst am 22.2.23 zum 80. Todestag von Hans und Sophie Scholl. An diesem Februartag 1943 wurden die Geschwister beim Verteilen ihrer Flugblätter des Widerstands gegen den Nationalsozialismus an ihrer Universität in München vom Hausmeister an die Gestapo verraten. Kurz darauf wurden sie hingerichtet. Der Titel des Buches entspricht wohl den Worten, die Hans kurz nach der Festnahme einer Freundin zugerufen haben soll. Mit diesem Ende beginnt die Autorin ihren Roman.

Da muss man doch etwas tun!, und wir haben doch etwas getan, aber nie genug, niemals ist es genug, und wenn es schließlich Sophie ist, die es ausspricht: So geht es nicht mehr weiter. Wir müssen die Flugblätter auf die Universität bringen. Ja, am hellichten Tag.“

Irene Diwiak hat sich mutig eines Stoffs angenommen, von dem man niemals genug lesen kann. Zudem hat sie diesen wirklich feinfühlig und sorgfältig behandelt, nah an historischen Daten, aber eben doch fiktional eigen. Sie nimmt in ihrem Roman eine andere Perspektive ein, als die, die man sonst über die „Weiße Rose“ liest. In den meisten Büchern und Filmen ist Sophie im Fokus. Sie beginnt mit Hans Scholl, der beim Appell des Wehrsports 1941 auf den ebenfalls Medizin studierenden, aber eigentlich in Richtung Bildende Kunst orientierten Alexander Schmorell trifft. Schnell verbindet sie eine enge Freundschaft. Beide waren bereits 1940 als Sanitätsoffiziere an der Front und sind nun zunächst fürs Studium freigestellt. Sie treffen sich abends oft mit Freunden und Studienkollegen und diskutieren über Philosophie, Kunst, Literatur, Musik. Anfangs nimmt die politische Situation nur wenig Platz ein, doch als ein Architekt, der ihnen während seiner Arbeitsabwesenheit seine Räume für die Treffen zur Verfügung stellt, von den Gräueltaten der Nationalsozialisten, von der Verfolgung und Ermordung der Juden, die er mit eigenen Augen gesehen hat, erzählt, ändert sich etwas grundlegend. Es erschüttert Hans und Alex so sehr, dass sie beginnen über Veränderungen nachzudenken.

In Rückblenden erfahren wir mehr aus dem Leben und der Familie von Hans und Alex, die Zeit, die sie geprägt hat. Alexander hat russische Wurzeln und ist als kleines Kind nach Deutschland gekommen. Er hat seine russische Mutter verloren. Er studiert Kunst und hat mit Philosophie wenig am Hut. Hans, der früher ein glühender Freund des Nationalsozialismus war, in der Hitlerjugend, obwohl der Vater, durch und durch Pazifist und religiös, dies nicht erlauben wollte, denkt nun in Richtung Widerstand. Zusammen mit Alex plant er Flugblätter mit aufrüttelnden Texten.

„Ob Hans glaube, fängt der Vater donnernd an, dass es lustig sei, Krieg zu spielen, ob er denn die Unmenschlichkeit kenne, ob Hans etwa im Krieg gewesen sei oder ob das nicht viel eher er selbst gewesen sei, der Vater? Und dass es nur der Anfang sei, Andersdenkende mit der Faust zu bekämpfen, dass bald schon Gewehre und Bomben zum Einsatz kommen werden, das sei es nämlich, was dieser Hitler wolle, und ob Hans denn wirklich zu dumm sei, um das zu verstehen?“

Bald jedoch werden sie erneut als Sanitätsoffiziere ins Lazarett an der Front, diesmal nach Russland abgerufen. Alex, der Russisch spricht, findet hier Freunde und spürt, dass dies sein Heimatland ist. Er schwört, niemals zu schießen und erlebt sich als vollkommen anderer Mensch – er scheint nach Hause gekommen. Als Sanitätsoffiziere sind sie nicht so stark gefährdet, erleben aber bei einem Zwischenstopp in Warschau den Wahnsinn des Warschauer Ghettos. Als sie nach Monaten Heimaturlaub bekommen, überlegt Alex sogar, sich den russischen Partisanen anzuschließen. Eine Erkrankung verhindert das.

„Wenn sie von zerstörten Städten und Dörfern erzählen. Wenn sie erzählen, dass Russland brennt. Wenn sie erzählen, dass es ihnen nicht leidtut, dass noch mehr brennen muss, dass die Russen keine Menschen sind, kein Recht auf Leben haben, weniger wert seien als Tiere. Dann, ja, dann würde Alex ganz weit ausholen und dem Halbgefrorenen im Krankenbett ganz unverfroren ins Gesicht schlagen müssen.“

Während Alex nun eher halbherzig bei der Herstellung und Vervielfältigung der Flugblätter mitmacht, können sie einen Universitätsprofessor überzeugen mitzuwirken und Sophie wird wichtiger Teil der Gruppe. Enge Freunde schließen sich an. Besonders auch Willi, ein Mitstudent, der sich an seine christlichen Glaubensfreunde wendet. In ganz Deutschland, ja sogar bis ins Ausland versuchen sie nun neue Gruppen aufzubauen, doch es scheint als wollen sich die Menschen nicht aufrütteln lassen, als wäre es immer zu wenig, was sie tun. Stehen wirklich alle trotz jahrelangem Krieg hinter diesem fanatischen Führer? Haben die Menschen einfach nur Angst und wollen irgendwie überleben? Als Leserin stellt man sich natürlich gleich stellvertretend die Frage: Wäre ich damals so mutig gewesen und Teil des Widerstands geworden?

Obwohl man die Geschichte kennt, obwohl man weiß, wie es ausgeht, vermag die Autorin einen doch unglaublich zu fesseln. Es entsteht ein Lesefluss, fast könnte man das Buch einen Pageturner nennen. Das liegt sicher auch daran, dass wir die Hauptfiguren genauer kennenlernen und ihnen nahe kommen. Die einzelnen Charaktere sind gut herausgearbeitet. Ich bin verblüfft, wie sehr ein Perspektivwechsel gleich ein neues Licht auf das Thema wirft. Diwiaks Erzählart ist auf sprach- und inhaltlicher Ebene absolut gelungen. Große Empfehlung!

Im ausführlichen Nachwort erzählt die Autorin über ihre Herangehensweise an das Thema und über ihr Schreiben und auch wie plötzlich der Krieg während der Arbeit am Roman wieder aktuell in die Nähe rückte. Ich selbst war und bin sehr erschrocken, wie stark sich die Entwicklungen damals und heute ähneln (siehe obige Zitate) und wie wenig Menschen doch aus der Geschichte lernen. Ich werde das nie verstehen. Frieden! Peace!

Das Buch erschien im C. Bertelsmann Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar!

Volha Hapeyeva: Trapezherz Literaturverlag Droschl


„jemand verbrennt blätter mit gedichten
auf dem dachboden des universums“

Nach „Mutantengarten“ folgt nun Volha Hapeyevas neuer Gedichtband „Trapezherz“. Die belarusische Autorin wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. In dem mehrseitigen Gedicht „Schwierige Arithmetik“ schreibt Hapeyeva über den Zustand ihres Landes Belarus, über die Einflussname der Regierung, über Zensur, über Russland, im Nacken sitzend. Geschickt schildert sie darin die unruhige Entwicklung des Landes, die die Menschen von alt bis jung miterlebten und erleben.

„denn der staat sorgt sich ja richtig um einen
also
hört er nicht auf, zeitungen und bücher zu überprüfen
er löscht die liste der schädlichen berufe nicht
er schafft die todesstrafe nicht ab
und behandelt andersdenkende
indem er sie zu einem spaziergang mit in den wald nimmt“

Mit ihren Gedichten ist es oft so eine Sache: Sie beginnen ganz einfach und harmlos und ich denke anfangs: „Hm, was wird das?“ und dann im Verlauf und vor allem gegen Ende, meist erst in den letzten Zeilen kommt dann der Knall oder zumindest der Grund, warum das Gedicht geschrieben wurde bzw. warum es eben nicht banal ist, wie man eingangs meinen konnte. So eine Form findet sich selten. Solch ein Schreiben öffnet womöglich die Lyrik auch für Menschen, die denken, sie mögen keine Gedichte oder können damit nichts anfangen. Und dann wieder sind es Gedichte, die sofort treffen, komplex und mit Tiefe.

„immer seltener
möchte ich sprechen

es ist sicherer
briefe an verstorbene zu schreiben

auf geschenke zu warten
nur von mir selbst“

Da kommt ein Gedicht über eine Ente, die einen kalten Schnabel hat und einen kalten Fuß. (Ja, na und?) Und nach all der scheinbaren Harmlosigkeit kommt zuletzt der Hinweis, wie gefährlich es für Enten im Winter ist, weil der Mensch so gerne Daunenjacken trägt, um nicht zu frieren. Da geht es um Schuhkartons, die nach ihrem ersten eigentlichen ganz neue Leben führen, etwa als Aufbewahrungsort für Briefe oder Spielzeug. Da gibt es den typischen Geruch der Umkleidekabine im Schwimmbad. Da gibt es einen weichen Wollteppich, der sich nie erträumt hätte in einem Gedicht vorzukommen und tatsächlich dient er letztlich nur als Metapher. Ein weggeworfener Mantel wird mitgenommen, um ihm das Gnadenbrot zu geben. Doch der Mantel ist Realist und glaubt nicht an ein weiteres Gebrauchtwerden.

Tatsächlich kommen viele Herzformen in ihren Gedichten vor, wie man aufgrund des Titels ahnen konnte: da wird die Herzklappe überprüft oder das Herz macht Sprünge, wird auf der Zunge getragen und stürzt ab wie ein Trapezkünstler, ist aber selbst als Organspende noch wichtig. Auch als Metapher für die Liebe. Es geht um Beziehungen, oft nicht funktionierend und um die daraus resultierende Einsamkeit. Es geht um das Dichterdasein im Allgemeinen wie im Besonderen. Die Sprache wird betrachtet, durchleuchtet und auf links gedreht.

„jede sprache – eine erzwungene reise
niemand sagt wo sie anfing
jede sprache ist übersetzung
jede sprache ist angst
alleine zu bleiben

wo beginnt die einsamkeit
ist sie schon ewig in unseren körper eingeschrieben
die von geburt an versuchen, sie zu vergessen
die seele ist nie allein
aber was soll er tun – der arme körper“

Es gibt viele Liebesgedichte, aber kaum eines, in dem die Liebe gelingt. Es sind sinnliche Gedichte mit viel Körperlichkeit. Mit viel Weiblichkeit. Mit Sehnsucht nach Berührung. Wenn kein Mensch zur Verfügung steht, wird einfach der Wind benutzt, der die Kleidung den Körper berühren und streicheln lässt. Das zeugt auch von einer Unabhängigkeit, die stärkt, von einer Selbstermächtigung als Frau. Ich erlese eine Weichheit und dann wieder eine besondere Härte. Schon als Kind geht es darum geformt zu werden, möglichst einheitlich, ohne Eigenheiten.

„krankenschwestern und passanten
nachbarn, lehrer, verwandte
sie alle sagten etwas über meinen körper
mein verhalten und meine gewohnheiten
brachen mich in stücke, damit ich in ihre schubladen passe
sodass ich bald nicht mehr wusste
wer ich war“

Hapeyeva schreibt alle Gedichte in Kleinbuchstaben. Es sind kritische, mitunter politische Gedichte, sehr klar und direkt in der Botschaft. Aber sie sind auch dem Alltag nah, den kleinen Dingen. Sie sind wenig experimentell, kaum abstrakt, wenngleich manchmal spielerisch. Immer jedoch sind sie menschlich, nah und zugewandt.

Trapezherz erschien im Literaturverlag Droschl. Übersetzt aus dem Belarusischen hat es Matthias Göritz, ebenfalls Lyriker. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Eine Leseprobe gibt es hier hier.

Eine kurze Leseprobe der Dichterin:

Heidi Furre: Macht Dumont Verlag

Foto gemeinfrei: pixabay Mond, Niki de Saint Phalle, Giardino dei Tarocchi

Die Norwegerin Heidi Furre hat einen bemerkenswerten Roman über ein schweres Thema geschrieben. Was mich daran vor allem überzeugt hat, ist die Form und die Sprache, die sie dafür wählt. Zudem schafft sie es auf nur 170 Seiten das Thema derart komplex zu gestalten, dass es einen tiefen Eindruck hinterlässt. Und nicht zuletzt ist es das Auftauchen der Künstlerin Niki de Saint Phalle und ihr selbst gestalteter Garten „Giardino dei Tarocchi“ in Italien an der Grenze zwischen Toskana und Latium, der die Geschichte zu einem positiven Ende hinführt. Mit der Künstlerin habe ich mich selbst schon manches Mal beschäftigt – leider war der Garten jedes Mal geschlossen, wenn ich in der Toskana war.

Inhaltlich geht es um eine Vergewaltigung. Scheinbar ganz assoziativ in teils kurzen Sequenzen erzählt die Autorin die Geschichte der Protagonistin nach dem „Vorfall“, wie sie es oft nennt. Denn allein das Wort auszusprechen, scheint eine große Hürde. Es würde dadurch deutlich, dass es wirklich passiert ist. Denn die Hauptfigur wünscht sich nichts sehnlicher, als das Geschehnis auszublenden, zu verdrängen, einfach normal weiterzuleben, was sie letztlich auch tut. Für sie ist es ein Albtraum Opfer zu sein und immer als „Vergewaltigte“ gebrandmarkt zu sein. So geht sie auch nicht zur Polizei, um die Tat anzuzeigen und nimmt auch keine psychologische Hilfe in Anspruch.

„Was mir Angst bereitet, ist der Gedanke, in diesem andächtigen Gerichtssaal zu sitzen, unter diesen hochgebildeten Menschen mit Geld und Macht und all dem. Und sie dann sagen hören, das alles sei nur eine Lüge. Alles, was sie gesagt haben, ist erlogen. Er hat es nicht getan.“

Erzählt wird aus der Sicht der Frau viele Jahre später. Liv, Mitte 30, ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder und arbeitet als Krankenpflegerin. Ihr Mann Terje taucht selten auf, doch die Kinder, vor allem der erstgeborene Sohn Johannes spielen eine wichtige Rolle, da er sie immer wieder an ihre Körperlichkeit erinnert und sie besonderen Wert darauf legt, dass er frei und ohne Ängste aufwächst, dass sie ihren Kindern die Sicherheit geben kann, die ihr so oft fehlt.

Von der tatsächlichen Tat erfahren wir erst gegen Ende des Buches, was stimmig ist. Vorher wird erzählt, was die Tat aus der jungen Frau gemacht hat, die nie Opfer sein wollte und immer selbst Macht darüber haben wollte. doch auch fünfzehn Jahre später ist nichts vergessen. Alltägliche Situationen lassen das traumatisierende Ereignis immer wieder auftauchen. Das können Kleinigkeiten sein, wie ein Geräusch, ein Duft oder aber der Routinebesuch bei der Frauenärztin. Schnell erfahren wir auch, dass die Frau kaum ohne Medikamente auskommt. Schmerzmittel, Schlaftabletten oder Tranquilizer sind immer zur Hand.

„Alles war in bester Ordnung, niemand hielt mich an oder konnte mir ansehen, was passiert war. Alles normal. Es war völlig normal, vergewaltigt zu werden, ich hatte keine zerzausten Haare oder Blutergüsse. Eine Vergewaltigung war klein, sie passte genau in meinen Körper. Ich würde es aushalten, es mit aller Macht hinkriegen, weiterzulaufen. Mit aller Macht und aller Macht und aller Macht.“

Liv kommt an die Medikamente an ihrem Arbeitsplatz, einem Pflegeheim. Manchmal reicht es schon, sie in der Nähe zu wissen. Als eine neue Patientin aufgenommen wird, deren Bruder, ein bekannter Schauspieler, sie regelmäßig besucht, wirft das Liv wieder in die Vergangenheit zurück. Denn der Schauspieler stand vor längerer Zeit wegen einer Vergewaltigung vor Gericht und wurde frei gesprochen. Sein Auftauchen im Heim wird zum regelmäßigen Trigger für Livs Trauma. Wie sehr sie sich dadurch wieder mit den eigenen Erlebnissen auseinandersetzt, merkt man beispielsweise daran, dass sie akribisch den Schauspieler mittels Internet durchleuchtet, alles zu seinem Gerichtsprozess liest und sich ausmalt, wie es bei ihrem eigenen Prozess gewesen wäre, hätte sie den Mann damals angezeigt. Dabei geht sie soweit, sich auszumalen, welche Kleidung, welches Make up sie vor Gericht tragen würde. Es geht immer darum, nicht wie ein Opfer auszusehen. Generell dreht sich bei Liv sehr viel um das Äußere, sie kauft teure Markenkleidung, geht oft ins Fitnessstudio, geht regelmäßig ins Spa um sich mit Botox die Falten wegspritzen zu lassen. Es scheint mir wie ein Davonlaufen, um sich nicht mit dem inneren Zustand auseinander zu setzen. So wechselt sie immer wieder von Stolz bis zur Selbstverurteilung. Redet sich den Vorfall mitunter klein: wie vielen anderen Frauen ist es schließlich auch passiert? Oder gibt sich selbst die Schuld. Sie hätte viele Male anders entscheiden können und dann wäre es nicht passiert.

„Meine Mauer besteht nicht nur aus Tabletten. Sie besteht aus Ritualen und Regeln. Meine Klamotten sind ein Panzer. Wie bei Kindern die sich als Piraten, Prinzessinnen und Feuerwehrleute verkleiden. Sie verkleiden sich, um keine Kinder mehr zu sein, so wie ich mich verkleide, um keine Vergewaltigte mehr zu sein.“

Furre bringt alle Aspekte stimmig ein in diesen Gedankenstrom der Hauptfigur. Ich war erstaunt, in wie viele Richtungen Livs Gedanken gingen, auf welche Weise sie innerlich mit sich verhandelt und wie sie schließlich langsam aktiver wird und damit wieder mehr sie selbst. Beispielsweise spricht sie den Schauspieler direkt auf seine Tat an, ohne jedoch Antwort zu bekommen, sie fährt mit dem Bus zum Haus ihres Vergewaltigers und erzählt es dem Nachbarn. Schließlich kann sie es sogar ihrem Mann erzählen. Das ist die einzige Szene, die mir etwas zu wenig ausgearbeitet ist.


Und eine weitere große Veränderung bewirkt die Entdeckung der Künstlerin Niki de Saint Phalle, die erst sehr spät über ihre Vergewaltigung reden konnte und in ihrer Kunst mit verarbeitete. Deshalb das Vorsatzblatt des Romans mit der schießenden Niki. Liv beschäftigt sich mit ihrem Werk und ist beeindruckt von ihr als Frau und Künstlerin und fliegt schließlich mit einer Freundin, die ebenfalls Künstlerin ist, nach Rom und von dort aus in den Giardino dei Tarrocchi. Auf dieser Reise findet Liv ein Stück weit zu sich selbst. Große Empfehlung für dieses vielschichtige Buch! Leises Leuchten!

Der Roman erschien im Dumont Verlag. Übersetzt aus dem Norwegischen hat es Karoline Hippe.

Zwei weitere sehr unterschiedliche Romane zum Thema hier bereits besprochen:

Franziska Beyer-Lallauret: Falterfragmente / Poussière de papillon dr. ziethen verlag


Franziska Beyer-Lallauret begegnete mir als Lyrikerin mit ihren Gedichten in der Literaturzeitschrift Wortschau, wo sie in einer Ausgabe Hauptautorin war und später auch in den sozialen Medien. Der Band Falterfragmente/ Poussière de Papillon entstand in Kombination mit Bildern der Malerin und Lyrikerin Johanna Hansen, deren Tischtuchmalerei mir einst auf fixpoetry begegnete und die mich gleich ansprach. Johanna Hansens Lyrikband „zugluft der stille“ habe ich bereits hier auf dem Blog vorgestellt. Nun begegnen sich beide Frauen in einem schon äußerlich schönen kleinen Band. Johanna Hansens Tuschebilder ergänzen und bereichern die Texte, die zudem noch zweisprachig französisch/deutsch abgedruckt sind. Die Zweisprachigkeit erklärt sich aus der Lebenssituation der Dichterin. Sie stammt aus Deutschland, aus einem kleinen Ort in Sachsen, lebt aber heute als Lehrerin in Frankreich in der Stadt Angers an der Loire.

„Mich hältst du immer noch für den Garten
Und dich für den Wald
Du kennst meine Finsternis schlecht
Ich kann jetzt Hexenstich“

Da ich nicht französisch spreche, kann ich zu diesem Teil des Bandes nichts sagen. Hilfreich ist da aber das Nachwort von Patrick Wilden. Die Gedichte auf Deutsch kommen mir sehr spielerisch vor. Verschiedene Motive tauchen immer wieder auf, die sich auch in Märchen finden lassen. Der Mond, ja, sowieso, aber auch Fischschwänze kommen sehr häufig vor. Das Wasser, das Meer, der Fluss. Der Himmel, die Sterne. Teils irdisch, teils aber auch aus reiner Fantasie geboren. Die Sprache ist eine sehr sinnliche: Farben, Formen nehmen Raum ein.


Einerseits empfinde ich die Gedichte jeweils als eine kurze Geschichte. Andererseits schweben sie oft über den irdischen Geschehnissen. So wie Falter, Papillons. Zumindest lese ich einige mitunter als nicht greifbar, so, als würden sie jeden Moment davonfliegen. Irgendwie klingen sie auch lockend, verlockend. Der meisten lesen sich für mich wie Liebesgedichte. Das lyrische Ich will verführen. Alles scheint fließend; selbst die unterschiedlichsten Situationen finden sich losgelöst vom Ursprung zusammen. Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll, aber diese Lyrik strahlt für mich in Pastell-Farben. Farben der Liebe, die zärtlich aber auch leidenschaftlich sein können. Gedichte, die auf ein Du abzielen, auf ein Zusammensein, auf ein Uns, auf gemeinsame Gestaltung.

„Dilemma

Gegen die Kürze der Tage
Treiben wir in Lichtrechtecken
Silben aufeinander zu
Durchs Wasser dem wir vertrauen
Schicken wir ein Echoboot
Das nicht mehr ganz blickdicht ist
Als stünden wir uns bevor
Ohne Geständnisse kreisen wir
Auf zwei Meridianen
Um kaltgewordene Gegenden
Die wir weiter bewohnen werden
Eine Wellenlänge liegt
Zwischen den Umlaufbahnen“

Es gibt viele Zeilensprünge, die verschiedene Lesarten möglich machen. Sprichwörter fließen mit ein, werden aber nicht immer in ihrer eigentlichen Verwendung gebraucht oder durch andere Konstellationen verändert. Sie bereichern und täuschen aber auch, viele Zeilen sind witzig. Die Lyrikerin bereist mit ihrem lyrischen Ich auch die Heimat. Was sie dort findet, ist eine Vergangenheit, keine Zukunft. Der Ort, die Landschaft scheinbar unverändert; und doch fühlt es sich anders an. Verloren? Gewonnen hingegen das neue Dasein im anderen, im anderssprachigen Land, das die Möglichkeiten der Muttersprache ergänzt und ausdehnt. Hinter allen steckt, wie ich meine, eine sehr durchdachte Anordnung, eine genaue Komposition und sprachliches Feingefühl. Ich empfehle diesen Band besonders auch Kunstinteressierten, denn hier fügt sich eins so schön ins Andere.

Das Buch erschien im Dr. Ziethen Verlag. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Karin Smirnoff: Wunderkind Hanser Berlin Verlag


Nach Karin Smirnoffs bemerkenswertem Debüt „Mein Bruder“ folgt nun in deutscher Übersetzung „Wunderkind“. Ich bin weiterhin sehr erfreut über die Entdeckung dieser Autorin, obgleich es schwere harte Themen sind, die Smirnoff in ihren Romanen bearbeitet. Es geht auch diesmal um dysfunktionale Familien, um Missbrauch und vor allem um Kinder, die in den dargestellten Familien das Nachsehen haben und es aus der Not heraus erlernt haben, wie man überlebt, wenn man sich nicht auf Eltern verlassen kann. Tatsächlich gibt es kaum Lichtblicke in diesem Roman, noch weniger als im vorigen. Dies als Vorwarnung.

Hauptfigur und Heldin im Wortsinn ist Agnes, die wir von ihrer Geburt an begleiten und die sich schnell als Wunderkind entpuppt, was ihr musikalisches Können angeht. Bereits mit zwei beginnt sie schon auf dem Klavier zu spielen. Das Talent hat sie wohl von der Mutter geerbt, Anita, deren Karriere jedoch aufgrund der Schwangerschaft mit Agnes gestoppt wurde. Der Vater ließ sie allein mit dem Kind. Mit dem eigentlich ungewollten, sie störenden Kind. Sie tut alles, damit Agnes das auch spürt und erlaubt ihr nicht einmal die Flucht in die Musik. Schon früh teilt sich Agnes ihr Dasein in die „Umwelt„, also das Alltägliche, meist Hoffnungslose und in die „Welt„, die für sie die Musik ist und in die sie am liebsten immer eintauchen würde. Doch die Umwelt stört immer wieder. Agnes nennt ihre Mutter Anitamama, ich lese – ganz freud`scher Verleser – ständig Antimama. Zunächst gibt es noch Großeltern, die sich kümmern, dann bricht Anita mit den Eltern. Als sie wieder einen neuen Mann findet, scheint sich das Blatt zunächst zum Besseren zu wenden. Doch Anita kommt aufgrund von Depressionen in eine Klinik. Wieder zurück, wird bald ein Geschwisterkind geboren, für das Agnes sich gleich verantwortlich fühlt/fühlen muss.

„Ich bin das Kind das das Leben seiner Mutter zerstört hat. Das den Platz übernommen hat der eigentlich ihr gehörte. Sie singt ich spiele. Sie singt falsch ich passe mich an. Wenn ich überleben will darf ich sie nie übertreffen.“

Durch den Musiker Frank, der Anita schon länger kennt, tut sich für Agnes wieder die Welt der Musik auf. Zusammen mit Kristian, der Cello spielt und mit dem sie zusammen beginnt, eigene Stücke zu komponieren, gibt es sogar bald Auftritte mit Publikum. Als Leserin freute ich mich, dass da endlich jemand ist, der Agnes liebevoll annimmt. Doch dann zeigt sich langsam aber immer deutlicher, dass Frank Kinder nicht nur gern hat, sondern sie auch sexuell missbraucht und das Liebe nennt. Das ist als Leserin kaum auszuhalten, diese Hoffnung, die dann wiederum im Unguten mündet. Für mich war es ein großer Zwiespalt, mit anzusehen, wie die Kinder ihn total mögen, wie er ihnen Hilfe, Förderung und lang vermisste Zuneigung entgegenbringt, und dann aber doch diese Grenze überschreitet und den Kindern neues Leid antut. Gut beschrieben wird hier auch, wie er sich immer „bedürftige“ Kinder aussucht, deren Eltern sich wenig um sie kümmern. Gleichzeitig zeigt die Autorin auch den eigenen Missbrauchshintergrund von Frank als Kind. Agnes trifft es spät, Kristian und auch Miika, der zum Ensemble dazu kommt, leiden stark unter Franks Übergriffen. Die jeweiligen Eltern merken nichts davon oder wollen es nicht merken.

Als Anitas neuer Mann sie plötzlich mit dem leiblichen Sohn Richtung Frankreich verlässt, ist Agnes erschüttert. Zwischen dem kleinen Bruder und ihr, gab es ein starkes Vertrauensverhältnis. Sie überredet Frank, mit ihnen nach Paris zu fahren und ihn zu suchen. Frank organisiert dort Konzerte für die Kinder, die immer besser und stärker werden durch das gemeinsame Musizieren. Oft betäuben sie sich mit Alkohol unter dem Motto: „Schmeckt nicht gut tut aber gut“. Kristian, der immer wieder Selbstmordgedanken hat, und Agnes sind durch die Musik besonders stark verbunden. Sie komponieren ganze Stücke und kommen damit an. Doch Frank nutzt das aus und schickt sie zuletzt sogar in die Prostitution (die Kinder sind zum Zeitpunkt des Haupterzählstrangs 9 bis 12 Jahre alt!)

„Aus dem Fenster zu fallen ist Nummer vier von neun denkbaren Arten zu sterben. Die drei ersten hat er genau durchdacht und in einem Schreibheft notiert.“

Agnes Mutter ist nach deren Rückkehr aus Paris wieder in einer Klinik, die Wohnung aufgelöst und Agnes zieht wieder zur Großmutter. Hier zeigt sich die Krankheit der Mutter wieder deutlich: Sie überlässt Agnes völlig ihrem eigenen Schicksal. Auch hier lässt Smirnoff immer wieder durchscheinen, dass der Großvater womöglich auch übergriffig war gegenüber Agnes` Mutter. Das Hausmädchen der Großeltern, Susanna, dass entlassen wurde, als sie schwanger war und in die Drogensucht abgleitet, war Agnes oft eine große Stütze mit ehrlicher Zuneigung. Sie ist es auch, die am Schluss, die Kinder aus den Klauen von Franks Machenschaften rettet, in dem sie die Polizei verständigt. Spät genug, denn die Kinder sind längst traumatisiert, in mehrfacher Hinsicht. Agnes und Kristian sehen sich nicht mehr, scheinen beide nicht mehr musizieren zu können. Was als Überlebensstrategie und Flucht aus dem Alltag lange funktionierte, scheint verloren …

„Ich war ein Wunderkind. Jetzt bin ich ein gewöhnliches Kind. Das ist einfacher.
Die Musik ist verstummt.
Wenn ich nicht spielen kann ist es nicht passiert.“

Karin Smirnoffs Sprache ist verkürzt und dicht. Ruppig und oft kindlich wirkt sie; sehr nah an der Ich-Erzählerin angelegt. Oft fehlen Satzzeichen, oft wechselt die Perspektive rasch. Die Autorin schafft es die furchtbaren Geschehnisse so verschleiert und unklar zu lassen, dass die Geschichte der Kinder auch der Fantasie der Leserin ausgeliefert ist. Gleichzeitig stattet sie die Kinder mit einem gewissen Galgenhumor aus, der sie oft rettet. Sie bewahrt den Stil, den ich von „Mein Bruder“ so schätzte und ich werde sicher auch den nächsten Band lesen.

Das Buch erschien im Hanser Berlin Verlag. Übersetzt wurde es von Ursel Allenstein. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Gratulation! Peter-Huchel-Preis 2023 für Judith Zander

Foto mit freundlicher Genehmigung des dtv: Copyright: © Grafik: dtv / Foto: Sven Gatter

„…so gibt er mir nach
und nach seinen vom andren ende zurecht
gelegten schlaf drin liege ich falsch und wach“

Judith Zander wurde 1980 in Anklam geboren. Sie schreibt sowohl Lyrik als auch Prosa. Nun erhält sie für ihren neuesten Lyrikband „im ländchen sommer im winter zur see“ den Peter-Huchel-Preis 2023. Am 3.4.23 wird er verliehen. Auszug aus der Begründung der Jury:

„Judith Zanders Gedichtband „im ländchen sommer im winter zur see“ faltet in einem weiten literarischen Hallraum eine elegische Sprachlandschaft aus. In äußerst nuancierter Wortarbeit und mit hoher Musikalität schafft sie einen Raum für Erfahrungen des Ostens und übersetzt sie in eine allgemeine, kritische Reflexion von Erfüllung und Verlust. Ihr Band versammelt Liebes- und Naturgedichte, die immer auch in einem politischen Zusammenhang stehen. Sie spielt mit Sprachbildern, bricht verhärtete Redewendungen und stellt die damit einhergehenden Ordnungen infrage.“

Ich habe den Band gleich nach Erscheinen in die Hand genommen, brauchte jedoch mehrere Anläufe, bis sich mir die Gedichte erschlossen. Immer braucht es den richtigen Zeitpunkt für eine bestimmte Lektüre. Es ist ein Band, den man nicht mit ein mal lesen erfassen kann. Dazu ist er zu ausgeklügelt und sprachlich zu bewusst konstruiert. Hier ist nichts zufällig, alles gehört an seinen Platz. Dennoch wirken die Gedichte, vor allem auch wegen der vielen schrägen Zeilenumbrüche, mitunter sperrig. Ein Hin- und Herdenken wird beim Lesen gefordert. Oder aber man verlässt sich voll auf den Klang und gibt sich nur dem Rhythmus hin. Das funktioniert auch; vor allem, wenn man laut liest. Letztlich habe ich Zanders Lyrik lieb gewonnen. Und freue mich über die Vielfalt, die mir bei Lyrik fast größer erscheint als bei Prosa. Judith Zanders Lyrikband landete auch auf meiner persönlichen Bestenliste im Jahr 2022. Hier gehts zu meiner ausführlichen Besprechung:


Sehr gefallen hat mir auch ihr letzter Roman „Johnny Ohneland„: Welch ein Sprachfunkeln!
Es war der erste Roman, den ich von ihr las. Ihre Sprache ist wunderbar. Es ist wieder einmal so ein Buch, bei dem für mich die Sprache vor der Geschichte selbst steht. Die Geschichte ist eine Familiengeschichte, eine Entwicklungsgeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte. Die Sprache spielt die Hauptrolle und wird zelebriert in jeder Hinsicht. Wir erleben die Heldin Joana Wolkenzin in ihrer kleinen Heimatstadt im nördlichen Ostdeutschland. Beginnend mit dem Kindergarten, noch vor dem Mauerfall, bei dem sie 10 Jahre alt ist, begleiten wir sie, ihren ein Jahr jüngeren Bruder Charlie und ihre Eltern durch die Zeit bis in ihr Erwachsenenalter. Die eigentlich spektakulären Dinge passieren in Zanders Roman weniger im Außen, als im Inneren der Heldin. Denn sie reflektiert und seziert fast pausenlos ihr Dasein und versucht sich ihr Alleinsein und ihr Anderssein zu erklären und zu akzeptieren. Für mich als Leserin ist das hochinteressant, denn die Sprache, die die Autorin dabei verwendet sprüht vor Wortspielereien und Metaphern (die bis auf sehr wenige Ausnahmen stimmig sind). Dabei entstehen oft extrem lange Satzschlangen, die mitunter mehrfaches Lesen nahelegen. Eine weitere Besonderheit ist die Du-Perspektive, in der das Buch geschrieben ist. Hier geht es zu meiner ausführlichen Besprechung:


Gerade habe ich noch einmal ins „manual numerale“, erschienen 2014, hineingeschaut. Gelesen habe ich es bereits vor meiner Bloggerzeit. Zwei passende Gedichte habe ich gefunden. Eins, was mich an aktuelle politische Zukunftsszenarien erinnert:

„Ach, was muß man oft von bösen zukünften hören oder lesen
wo am wenigsten passiert was am meisten interessiert
dieses nähret den verdacht zukunft sei nicht selbstgemacht
sag in welchen massenküchen wird sie eingeweckt mit flüchen
wer kauft sie bei Netto ein die geschmacksvereitlungspein
und flößt ein sie seinen kindern um sich nicht allein zu hindern?

oder dieses Einsatzgedicht, welches ich mir beim Dichten in Zukunft immer vor Augen führe:

„heute schrieb ich dir ein langes mir gefallendes gedicht“

Alle Bücher von Judith Zander erscheinen beim dtv.