Emily Carr: Klee Wyck – Die, die lacht Verlag Das kulturelle Gedächtnis

Nochmal mein Beitrag zu Gastland Kanada, da die Buchmesse ja diesmal stattfindet:
Gastland der letzt- und diesjährigen Buchmesse ist Kanada. Ich habe es nicht geschafft einen kompletten Beitrag als Übersicht über die ins Deutsche übersetzte kanadische Literatur vorzubereiten. Ein Buch hatte ich aber schon im letzten Frühjahr im Auge, schon wegen seiner schönen gestalterischen Aufmachung und es ist auch das einzige geblieben, das ich gelesen habe. Es ist ein Buch, das in Kanada in vielen Auflagen bis heute gut verkauft wird, ja, das sogar Schullektüre geworden ist. Emily Carr (1871-1945), eigentlich Malerin, hat das Buch erst spät in ihren 70ern geschrieben, als sie aus gesundheitlichen Gründen mit dem Malen aufhören musste. Sie nahm dazu ihre Notizbücher, die sie seit jeher führte und formte daraus und aus ihren Erinnerungen autobiografische Erzählungen, so wie wir sie nun im Band Klee Wyck lesen können. Die erste Ausgabe erschien 1940.

In der ersten Geschichte erfahren wir, dass die 15jährige Emily zeitweise bei christlichen Missionarinnen in einem Indianerdorf lebt, um sich mit der Lebensart der Indigenen, der First Nations auseinanderzusetzen. Bereits hier hat sie den Zeichenblock dabei und einen genauen Blick. Ihren indianischen Namen Klee Wyk erhält sie gleich eingangs vom Stammeshäuptling. Sie ist Die, die lacht.

In den drei folgenden Geschichten erfahren wir von Emilys Vorhaben, die Totempfähle der Grabstätten verschiedener indianischer Dörfer zu zeichnen. Mit einem befreundeten Paar reist sie mit dem Boot von Insel zu Insel. Haiida Gwaii heißen die vor der Westküste British Kolumbiens gelegenen Inseln. Hier erzählt Emily von der einfachen naturzugewandten im Jetzt verankerten Lebensweise der Bevölkerung. Spannend zu erfahren, dass es in deren Sprache keine Schimpfwörter gibt.

„Ich setzte mich neben den sägenden Indianer und wir unterhielten uns ohne  Worte, zeigten auf die Sonne und aufs Meer, die Adler in der Luft und die Krähen am Strand. Wir nickten und lachten zusammen, ich saß da und er sägte. Der alte Mann sägte als lägen Äonen von Zeit vor ihm, und als wären all die Jahre, die bereits hinter ihm lagen, geruhsam gewesen, und alle kommenden Jahre wären es ebenso.“

Wir hören von Sophie, die Körbe flechtet und in Vancouver verkauft und die Emilys Freundin wird. Sophie, die einundzwanzig Babys bekommt, von denen nur wenige überleben. Sophie lebt im Reservat. Viele der Kinder werden in Internate gebracht, die von christlichen Institutionen geleitet werden. Dort versucht man sie zu „kultivieren“, doch werden sie ihrer Herkunft und ihrer Tradition komplett beraubt. Wir lesen von Louisa und deren Mutter, der Louisa unbedingt das traditionelle „indianische“ Pfeiferauchen abgewöhnen möchte, weil die Missionare das für Frauen unschicklich finden.

Emily lässt sich immer wieder in teils nicht mehr bewohnte Indianerdörfer bringen, auf der Suche nach Motiven für ihre Bilder. Dort findet sie auch immer wieder die D`Sonoqua, eine heilige Frau, die sie auf imposant geschnitzten Totems findet und von der sie wie magisch berührt wird. Vorrangige Motive werden für sie immer die Totems bleiben, die in den alten Dörfern zurückbleiben, wenn die Familien durch Missionare gedrängt, in modernere Ortschaften mit Läden und Häusern statt Hütten ziehen.

„Selbst diese wenigen Worte waren eine Neuerung – nach dem Vorbild der Weißen. In früheren Zeiten hätten Totemzeichen erklärt, wer dort lag. Die indianische Sprache kannte keine Schriftform. Anstelle der Kreuze wären hier die Habseligkeiten des Verstorbenen aufgetürmt worden: all seine geliebten Schätze, Kleidung, Pfannen, Armbänder – damit jeder sehen konnte, was das Leben ihm an eigenen Dingen geschenkt hatte.“

Dabei gerät sie mitunter in Seenot, auf unheimliche Inseln mit wilden Hunden und in heftigste Moskitostürme. Sie und damit auch die Leser erfahren, dass das Zeitgefühl der indigenen Völker ein ganz anderes ist. In der letzten Geschichte „Kanu“ etwa, fragt sie am Strand eine indianische Familie, ob sie sie im Kanu mit zurück zur Küste nehmen könnten. Sie sagen zu, sie müsse sich aber beeilen, da sie in Kürze ablegen wollen. Tatsächlich aber wird erst noch gekocht, Beeren und Strandgut gesammelt, die Abfahrt erfolgt viele Stunden später …

Emily Carr erzählt ihre Geschichten teils sehr poetisch und bildhaft, aber auch sehr direkt. Sie scheut sich nicht, die Methoden der Missionare in Frage zu stellen. Was dazu führte, dass man ihr Buch zwar zur Schullektüre machte, dabei aber den kritischen Blick auf die christliche Mission heraus kürzte. Die vorliegende vollständige Ausgabe erschien 2003 erst in Kanada. Im Vorwort von Kathryn Bridge erfahren wir mehr dazu. In jeglicher Hinsicht war Emily Carr für ihre Zeit eine bemerkenswert emanzipierte Frau, war sie doch immer sehr selbstbewusst alleine unterwegs, oft nur in Begleitung ihrer Hunde. So trifft sie aber oft auch, wie etwa im Ort Kitwancool, auf ebenso starke weibliche Präsenz bei den Frauen der First Nations.

„Klee Wyck“ erschien im „Verlag Das kulturelle Gedächtnis“. Es ist besonders schön gestaltet, wie alle Bücher aus diesem besonderen Verlag. Übersetzt aus dem kanadischen Englisch hat es Marion Hertle. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Nastassja Martin: An das Wilde glauben Matthes & Seitz

„Das Ereignis an diesem 25. August 2015 ist nicht: Irgendwo in den Bergen von Kamtschatka greift ein Bär eine französische Anthropologin an. Das Ereignis ist: Ein Bär und eine Frau begegnen sich und die Grenzen zwischen den Welten implodieren.“

In diesen zwei Sätzen lässt sich dieses großartige Buch zusammen fassen. Es hat mich nachhaltig beeindruckt und im Kern berührt. Zudem war es als Anschlusslektüre an Katja Kettus Roman „Die Unbezwingbare“wunderbar passend, um in eine weitere Welt einzutauchen, in der die Natur noch die Hauptrolle spielt und die Bewohner noch eine echte Verbindung zum (Über-)Natürlichen haben. Da es überwiegend auf der russischen Halbinsel Kamtschatka spielt, passt es auch zu einem kürzlich besprochenen Titel: Julia Philips „Das Verschwinden der Erde“

Die 1986 in Grenoble geborene Nastassja Martin ist Anthropologin. Es zieht sie aus den Französischen Alpen in die Ferne und die Weite. Unter anderem nach Alaska, wo sie sich mit der indigenen Kultur beschäftigt. Sie hat ein Buch über die Inuit geschrieben. Und nach einem langen Aufenthalt auf der russischen Halbinsel Kamtschatka, wo sie teils mit nomadierenden Indigenen in Gemeinschaft, ja bald auch in Freundschaft lebte, schrieb sie „An das Wilde glauben“. Allein dieser Titel! Und dieses Coverbild! Mit dem Bär Auge in Auge. Als Leser glücklicherweise nur mit dem Cover-Bär.

Doch Nastassja begegnete einem lebendigen Bären, als sie sich beim Abstieg von einem der Vulkane befand, nach schwieriger Tour und alleine. Der Bär biss ihr ins Gesicht, sie konnte ihn mit einem Eispickel in die Flucht schlagen. Kollegen konnten Hilfe anfordern, sie kommt in die Lagerkrankenstation, dann in eine Klinik nach Petropawlowsk, wo sie operiert und stabilisiert wird, um schließlich nach Frankreich zur weiteren Behandlung überführt zu werden. Sie landet in Paris in der Salpetriere und hat monatelang zu kämpfen, um nach neuen Operationen und Behandlungen einigermaßen heil zu werden. Doch das ist nur der Körper. Die Psyche geht ganz andere Wege. (Hier erinnert mich ihr Bericht auch an das sehr empfehlenswerte Buch „Der Fetzen“ von Philippe Lançon, der ähnliche Krankenhausbehandlungen in Paris schildert, allerdings durch den Anschlag auf Charlie Hebdo von Terroristen verursacht). 

„Ich bin nicht gestorben, ich bin geboren worden, sage ich auch ihm, wie meiner Mutter, wie meinem Bruder, die mir alle jaja antworten und hoffen, dass ich bald wieder zu Verstand komme und diese Geschichten von vermischten Seelen und animischen Träumen vergesse.“

Nastassja beschließt, um den Biss des Bären und ihr Überleben besser verstehen zu können, erneut nach Kamtschatka zu fliegen. Verwandte und Freunde können das nicht nachvollziehen. Doch bereits kurz nach den Geschehnissen erklärte ihr ihr indigener Freund Iwan, dass sie nun vom Bären „berührt“ sei und sie somit selbst zur Bärin, zur miedka, geworden sei, halb Tier halb Mensch. Denn dass ein Mensch den Angriff eines Bären überlebt, gleicht einem Wunder. Dort angekommen begibt sie sich in die Natur um dort Stille zu finden und sich ihren Fragen zu widmen. Und sie wird dort herzlich aufgenommen.

„Menschen wie Darja wissen, dass sie nicht die Einzigen sind, die im Wald leben, fühlen, denken, hören, und dass um sie herum andere Kräfte am Werk sind. Es gibt hier ein Wollen außerhalb der Menschen, eine Intention jenseits des Menschlichen.“

Durch Gespräche, ein Sich einlassen und durch symbolhafte Träume ergibt sich für Nastassja ein gewisses Einverstandensein mit dem, was ihr widerfahren ist. In der Reflektion scheint es ihr sogar so, dass sie sich bewusst dieser Gefahr ausgesetzt hat, weil sie etwas hinzog. Eine unbegreifliche Kraft, die vom Bären ausging und die sie der ihren gleich empfand …

„Ich habe meinen Platz verloren, ich suche ein Dazwischen. Einen Ort, um mich wiederherzustellen. Dieser Rückzug soll der Seele helfen, sich zu erholen. Denn man wird sie ja doch bauen müssen, diese Brücken und Tore zwischen den Welten; und aufgeben wird nie zu meinem inneren Wortschatz gehören.“

Ihre Wahlfamilie lädt Nastassja ein zu bleiben. Sie gehöre jetzt zu ihnen, sagen sie: „Du bist das Geschenk, das die Bären uns gemacht haben, in dem sie dich am Leben gelassen haben.“ Doch spürt sie auch den Respekt und die Ehrfurcht, vielleicht sogar Furcht, die manche ihr gegenüber empfinden. Nastassja geht dennoch, sie geht um darüber zu schreiben und um weiterhin Anthropologin zu sein.

Was mich an diesem Buch so fasziniert, ist schwer zu beschreiben. Es gleicht einem Verstehen, einem Hineinfühlen, einem ähnlichen Verständnis von der archaischen Natur der Tiere und Menschen. Martin hat ihre Erlebnisse in eine Sprache übersetzt, die von großer Übereinstimmung von Natürlichkeit und Intellekt zeugt. Wildes Leuchten!

Das Buch erschien im Matthes & Seitz Verlag. Übersetzt hat es Claudia Kalscheuer. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Katja Kettu: Die Unbezwingbare Ecco Verlag

Katja Kettus Roman ist einer von mehreren Romanen, die ich in letzter Zeit las, die sich mit dem Thema der Ausgrenzung indigener Völker beschäftigen und sich speziell auch dem Missbrauch von und Gewalt gegen Mädchen und Frauen widmen. Da gab es im letzten Jahr zum Buchmesse Thema Kanada schon den Roman „Klee Wyck“ von Emily Carr, jetzt neu den Roman „Gestapelte Frauen“ von Patricia Melo, dessen Handlung im brasilianischen Amazonasgebiet spielt und Julia Phillips Roman „Das Verschwinden der Erde“, der auf der russischen Halbinsel Kamtschatka spielt.

„meine Mutter verwandelte sich in einen Wolf, und das ist die Wahrheit.“

Katja Kettus Roman führt in die USA und dort in das Reservat Font du Lac in Minnesota. Sie verbindet darin das Leben des indigenen Stammes der Ojibwe mit dem einer Gruppe ausgewanderter Finnen. Die 20 Kapitel, die jeweils mit indianischen Überschriften beginnen, spielen teils 1973 teils 2018. Sie sind jeweils Briefen nachempfunden, die direkt ein „Du“ ansprechen. Kattja Kettu hat im Vorfeld des Romans viel recherchiert und auch längere Zeit in finnisch/indianischen Gemeinschaften verbracht. Dabei wollte sie auch die Geschichte ihrer eigenen Vorfahren erforschen.

Es beginnt mit der Reise von Lempi, Tochter des Finnen Ettu und der Ochibwe Rose Feathers, in das Reservat, in dem sie ihre Kindheit verbrachte bis sie nach dem Verschwinden ihrer Mutter als 8-jährige ins Internat in die Stadt gebracht wurde. Mittlerweile sind 45 Jahre vergangen und man beschuldigt den kranken Ettu, ein Mädchen versteckt zu halten. Bei der Begegnung mit dem Vater, aber auch mit einem Mann, dem Indigenen Jim Graupelz, mit dem sie damals viel verband, kommen Erinnerungen hoch und Lempi erhält Briefe, die einst die Mutter vor ihrem Verschwinden an sie schrieb. Darin geht es immer wieder auch um die Suche der Mutter nach verschwundenen Mädchen und ihre Aktivität in der Indianerbewegung. Lempi begegnet ihrer stolzen indianischen Großmutter Patti, sie nimmt an einem Pow Wow teil, einem Fest mit rituellen Tänzen und sie trifft immer wieder auf den verheirateten Jim Graupelz, zu dem es sie sehr hinzieht. Ihm sind auch die Briefe gewidmet, aus denen wir die Geschichte erfahren.

Von Lempi selbst erfährt man immer nur Fragmente, die darauf hindeuten, dass sie als Kind im Internat durch Zwang und Gewalt dazu gebracht wurde ihre Sprache und Kultur aufzugeben. Und auch, dass sie sich in der Stadt und in der Welt der „Weißen“ immer unwohler fühlt. Sie entdeckt bei diesem Besuch ihre Wurzeln, Mutter und Großmutter waren Heilerinnen mit großer Naturverbundenheit, und dröselt nach und nach die Geheimnisse dieses seltsamen Ortes und ihrer eigenen Familie auf. Es geht um Gewalt und um Missbrauch. Am Ende beschließt Lempi alias Kleine Tatze wieder abzureisen; ob sie es dann wirklich tut oder ob sie es sich anders überlegt, bleibt unserer Phantasie überlassen, wie überhaupt sehr viel in diesem Roman zwischen den Zeilen zu finden ist.

„Es war Frühling, als in mir das Blut erblühte und Mutter mich zum Lauf des Baches führte, noch hinter die Stelle, wo der achtfüßige Wasserfall die Wasser der Widjiw-Berge auch bei der größten Hitze hinabstürzen lässt und wo die grünhaarigen alten Steine im Strom der Zeit meditieren. Ich weiß noch, dass es nach dem Spätwinter endlich warm geworden war, die Birken hatten grüne Mäuseöhrchen, aber aus den Schatten der Moosbülten starrten noch traurige Augen.“

Das ganz Besondere an diesem Roman ist die Atmosphäre, in dem er spielt und die durch die außergewöhnliche Sprache starke Bilder erzeugt. So verwendet Kettu Worte wie „baumnadelknisternder Zorn“, „die knotige Faust eines Gewitters“, „wurmige Welt“ oder „rundknollige Jahre“. Das funktioniert im Kontext der Geschichte ganz wunderbar. Der Roman lebt von mystischen Geschehnissen, von unausgesprochenen Wahrheiten und in aller Düsternis, die natürlich durch Lempis Nachforschungen zum Vorschein kommt, von einer unverstellten direkten Poesie, wie ich sie sonst oft nur aus Gedichten kenne. Ein Leuchten!

„Die Unbezwingbare“ erschien im neuen Ecco Verlag, der nur Bücher von Autorinnen verlegt. Die große Übersetzungsleistung kommt von Angela Plöger. Gewünscht hätte ich mir ein Glossar, dass die vielen indianischen Begriffe erklärt. Ein Vorwort und ein Interview mit der Autorin auf der Verlagsseite sind aufschlussreich.

Weitere begeisterte Besprechungen gibt es auf den Blogs Letteratura und BooksterHRO.