Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer Galiani Verlag

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„Wegen des Hustens war ihr verboten worden zu lesen und zu schreiben. Lesen und schreiben lösten ja bekanntlich die schlimmsten Hustenanfälle aus. Sie langweilte sich entsetzlich.“

Welch großes Glück, dass solche Zeiten vorbei sind! Unerträglich wurde mir beim Lesen die Narrenfreiheit die den Männern zu jener Zeit gewährt wurde, unerträglich die Unterdrückung der Frauen, die bestenfalls mit Handarbeiten still dasitzen durften, als Ehefrau jedes Jahr ein Kind bekommen mussten und denen man jeglichen Verstand, jedes Rederecht absprach. Was die lebhafte, begabte Dichterin Annette von Droste-Hülshoff empfand, wie furchtbar es für sie war in solch einem Korsett gefangen zu sein, keine Eigenständigkeit zu besitzen und dass man ihr großes Talent unbeachtet ließ, ja geradezu unterdrückte und klein hielt, kann ich schmerzlich nachvollziehen.
Und die errungenen Frauenrechte dürfen wir uns nie wieder absprechen lassen. Nie wieder darf es so werden, wie in jener Zeit in der Karen Duves biografischer Roman über die Droste spielt. Schon an der Einteilung des Romans kann man erlesen, wie wenig Platz Fräulein Nette einnehmen durfte und wie viel Raum dem männlichen Ego zustand. Annettes Dichtung kommt auch im Roman wenig zum Zuge – niemand mit dem sie darüber reden konnte. Der Roman hat einen langen Vorlauf, in dem vor allem die Männer in Annettes Leben auftreten dürfen, Verwandte und befreundete Künstler wie etwa die Gebrüder Grimm. Ein Spiegel der Zeit.

Die Handlung von Duves Roman spielt zwischen 1817 und 1821 im Westfälischen. An dieser Gegend lässt Duve kein gutes Haar. Und tatsächlich tun sich die Familien um Droste-Hülshoff schwer mit der neuen Zeit. Sie sind frömmelnde Adelige, die von Gleichberechtigung und Industrialisierung wenig halten, alles Neue verteufeln, sich an das vermeintlich unumstößliche Gottgewollte halten, obgleich sie in der Tat mit ihren langsam zu Grunde gehenden Gütern nicht mehr viel Staat machen können.

„Wollen Sie meine Meinung dazu hören: Eine Frau, die schreibt, setzt ihre Weiblichkeit aufs Spiel. Sie verkauft ihre Seele für Eitelkeit und falsches Kritikerlob, vernachlässigt ihre Pflichten und gewinnt dabei doch nichts.“

Für Männer scheint die Droste ein Schrecknis. Sie haben Angst vor ihr und müssen sich durch Sarkasmus und Scherze auf ihre Kosten vor ihr schützen. Und wenn das nicht mehr hilft, wird sie verklärt, zur Seherin, zur Frau mit dem zweiten Gesicht oder zur Zauberjungfer, dann kann man sie auf einen Sockel stellen. Was „mann“ offenbar nicht kann, ist, sie als gleichwertige kluge, talentierte Person zu sehen. Und derjenige, der es dann schließlich  kann, ist der wenig ansprechend aussehende bürgerliche, mittellose perücketragende Dichter Heinrich Straube, angeblich fast so talentiert wie Goethe. Und Annette nimmt dies dankbar an. Endlich einer, der sich für ihr Schreiben interessiert, ihre Verse schätzt, sich ihr im Gespräch zuwendet. Dass sich eine Heirat zwischen dem Bürgerlichen und dem Freifräulein nicht schickt, ist allen klar. Mit einer Intrige schafft es dann auch der gut aussehende, streng gläubige Arnswaldt, ein Freund von Straube, die beiden zu trennen. Er erreicht sogar, dass Annette tief in ihre Schuldgefühle sinkt und sich von Gott zurecht bestraft sieht.

„Es dauerte Monate, bis sie sich zum ersten Mal gestattete, die Angelegenheit mit Arnswaldt und Straube aus einer anderen Perspektive als vom Boden einer Grube aus zu betrachten und in Erwägung zu ziehen, dass man die Schuld manchmal auch bei anderen suchen durfte, dann zum Beispiel, wenn andere die Schuld hatten.“

In kurzen Zwischenkapiteln berichtet Duve von zeitgeschichtlichen Themen passend zur Handlung, wie etwa die Angriffe auf jüdische Mitbürger, die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue und die Gerichtsverhandlung Heinrich Heines aufgrund eines verbotenen Duells mit Pistolen. Überhaupt ist der Roman tief in die deutsche Geschichte eingebettet. Es ist die Zeit zwischen Romantik und Aufklärung. Die Autorin hat extrem viel recherchiert. Das bereichert den Roman sehr. Duves kluger Witz und die geschickten Wendungen von damaliger in heutige Sprache finde ich äußerst gelungen. (So wandelt sie den heutzutage gängigen Spruch „Hätte, hätte, Fahradkette“ um in „Hätte, hätte, Epaulette“.)

Karen Duve steht meiner Meinung nach mit diesem Buch auf der Höhe ihres schriftstellerischen Könnens. Sie hat einen Roman geschrieben, der mich sprachlich beglückt, inhaltlich vollkommen einnimmt und der trotzdem, auch wenn ich dieses Wort ungern benutze, ein Pageturner ist. Etwas, was wirklich selten zusammen kommt. Sapperment! Ein Leuchten!

Der Roman erschien im Galiani Verlag. Im Einband vorne und hinten finden sich Stammbaum der Droste und eine Karte der Orte, zwischen denen die unzähligen Kutschfahrten stattfinden.

Wer mehr über die Droste erfahren will, dem seien diese informativen Seiten empfohlen:
https://www.nach100jahren.de/  und  https://www.droste-portal.lwl.org/de/