Knut Ødegård: Die Zeit ist gekommen Elif Verlag

20191011_144609-16089106480339468350.jpg

Rechtzeitig zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit Ehrengast Norwegen erschien im Elif Verlag die erste Übersetzung eines Lyrikbands von Knut Ødegård ins Deutsche. Åse Birkenheier hat dies meisterhaft geschafft. Der Dichter ist in seiner Heimat sehr bekannt und erhielt zahlreiche Preise für sein lyrisches Werk.

Diese Lyrik erzählt. Sie beschäftigt sich mit der Vergangenheit, der Gegenwart  und einer möglichen Zukunft. Es sind keine verrätselten Gedichte, sondern glasklare in ihrer Direktheit. Eindeutige Aussagen werden von poetischen Zeilen umspült. Das liest sich, als würde man auf einem Boot sitzen, von Wellen bewegt, mal mehr, mal weniger heftig.

Mutter

Ich habe eine Mutter in blauem Mantel.

Sie nimmt meine Hand, ich bin
klein, ich habe Angst, sie
führt mich.

Ihr Mantel ist
mit Sternen übersät.
Der Schnee ist sehr tief
hier, wo wir gehen, auf der nicht geräumten
Milchstraße: Sie
und ich.

Ødegårds Gedicht über Zeit, gleich das erste im Band, welches auch den Titel des Buches vorgibt, ist von unglaublicher Eleganz. Was im nächsten Kapitel folgt, sind eigentlich beinahe Fließtexte, die Geschichten erzählen. Man darf sie dennoch Gedichte nennen, so voller Poesie sind sie. Ødegård hat sich durchweg schwierige Themen auferlegt, die es einem nicht leicht machen. Vielleicht ist aber dies der einzig machbare Weg, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie in eine poetische Form zu bringen, sie sozusagen zu umschließen und in ihrer Brüchigkeit zusammenzuhalten.

Ob der Dichter von der Großtante schreibt, die noch Jahrzehnte nach dem Krieg an einem Schal für den (gefallenen) Sohn strickt,

„Saß da
im Dachgeschoss und schaukelte auf und ab, ab
und auf im schwarzen Schaukelstuhl
mit so langen Kufen, dass die schimmelweißen Locken
in Tantes bakteriengelben Kopf mit roten Geschwüren
manchmal Stern berührten, ferne Spiralgalaxien
im endlosen Raum des Himmels,
und manchmal den gierigen Humusmund der Erde,
der von unten schnappte.“

ob vom Kirchendiener, der sich um die kleinen Ministrantenbuben „kümmert“, oder ob er von dem psychisch kranken Lars erzählt, der mit Elektroschocks und einer Lobotomie „behandelt“ wird, es sind erschütternde Zeugnisse der Vergangenheit.

Ein weiteres wichtiges Thema ist das Altern. Hier lese ich sehr anmutige, berührende Verse über den uns allen bevorstehenden Alterungsprozess und das Glück, jemanden an der Seite zu wissen.

„Ein wenig schief kehren wir heim
vom Spaziergang an diesem Sonntag, wir beide. Du
und ich. Und langsam
streiche ich dir übers Haar, das
noch vor kurzem durchs Universum
flog: Du, noch vor kurzem ein kleines Mädchen
auf einer Schaukel.“

Ergänzt wird dieser Teil durch weitere, wie ich finde, sehr schwere Gedichte. Den längeren Zyklus „Nieselregen“ am Ende des Bandes kann ich fast nicht ertragen. Er erzählt von einer Apokalypse der Menschheit. Hier werden Menschen wieder zutiefst unmenschlich, werden zu Monstern, hier stürzt die Welt wieder ins Chaos. Nicht umsonst werden hier auch Zeilen aus der „Edda“ zitiert. Und hier trifft es wirklich zu: Die Zeit ist gekommen.

Ødegårds Gedichte sind schonungslos, aber oft klingt für mich etwas Höheres durch die Zeilen. Es ist viel vom Universum die Rede und das ist womöglich im Blick des Dichters (oder der Leserin?) auch ein spiritueller Raum. Vielleicht kommen wir dem alle näher, wenn sich unser Dasein gen Ende neigt, vielleicht werden wir alle uns erst dann des Todes bewusster …

Der Lyrikband des 1945 in Norwegen geborenen, teils in Island lebenden Knut Ødegård erschien im kleinen feinen Elif Verlag , auf dessen Programm es lohnt, einen Blick zu werfen. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.