Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann Dumont Verlag

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„Wenn wir etwas anschauen, kann es aus unserer Sicht verschwinden, aber wenn wir nicht versuchen, es zu sehen, kann dieses etwas nicht verschwinden.“

Nicht nur mit diesem japanischen Koan, mit Mon Cherie mit der Piemontkirsche und einer weisen Frau, die wie Rudi Carell aussieht, sondern auch mit einer hinreißenden Geschichte, mit ungewöhnlichen Redewendungen und Sprachspielereien, mit witzigen Dialogen, mit eigenartigen und liebenswerten Protagonisten und mit märchenhaft-alltäglichen Ereignissen darf man als Leser*in hier rechnen. Der Roman ist ein Leichtgewicht unter den Neuerscheinungen diesen Herbsts und selten zuvor gab es so viele positive Stimmen zu einem Buch. Alle sind des Lobes voll … und haben recht.

Der Optiker nahm immer die mittlere Heimliche Liebe ohne Sahne. „Die große Heimliche Liebe schaffe ich nicht“, sagte er und sah Selma aus den Augenwinkeln an. Selma aber hatte keinen Sinn für Metaphern, auch wenn sie direkt vor ihrer Nase auf einem Eiscafétisch standen, mit Schirmchen.

Ob Leky nun von der Kinderfreundschaft zwischen der Hauptfigur Luise und Martin erzählt, der Gewichtheber werden will oder von einem riesengroßen grauen Hund namens Alaska oder von Selma, Luises Großmutter, die manchmal im Traum ein Okapi sieht, von der traurigen Marlies, die immer verbitterter wird oder vom Optiker, der in Selma verliebt ist, diese Liebe aber sich nie zu gestehen traut, ob später ein paar buddhistische Mönche plötzlich am Waldrand des Dorfes im Westerwald auftauchen und den verschwundenen Alaska suchen und einer davon Luise den Kopf verdreht und trotzdem wieder ins Kloster nach Japan zurückkehrt, ob Luises Vater von seinem Psychoanalytiker durch die weite Welt geschickt wird, während Luises Mutter in ihrem Blumenladen Kränze und Sträuße bindet und mit dem Eisdielenbesitzer liiert ist, immer ist da ganz viel Herzenswärme für ihre Figuren. Und das bringt einem die Protagonisten sehr nah, bald gehört man selbst zur Familie. Besonders geschickt empfinde ich, wie Leky es schafft, durch ritualisierte, immer wiederkehrende Geschehnisse in ihrem Roman, die Zeit vergehen zu lassen. Denn es vergehen Jahrzehnte, in denen vermeintlich wenig passiert in diesem Dorf und doch bewegen sich alle in einem fort.

Frederik und ich schreckten hoch, als das Telefon klingelte, ich erschrak, weil ich wusste, dass so früh nur bei unaufschiebbarem Sterben oder unaufschiebbarer Liebe das Telefon klingelt, und weil alles was die Liebe für Unaufschiebbarkeit gebraucht hätte, auf meinem Klappsofa lag, dachte ich: Jetzt ist jemand gestorben.“

Alles an diesem Roman ist klug konstruiert und wirkt dennoch vollkommen natürlich und ungekünstelt. In der Tat braucht es dann keinen hippen Großstadtroman mehr, wenn man Lekys tragikomischen Dorfroman in Händen hält und auch so schnell nicht mehr weglegt. Mit diesem Buch ist Leky nach langer Pause seit dem 2010 erschienenen ebenfalls empfehlenswerten Roman „Die Herrenausstatterin“, endlich eine neue zauberhafte, eigenartige, unbedingt und ausnahmslos lesenswerte Geschichte gelungen.

Das Buch erschien im Dumont Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier.

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Marion Poschmann: Die Kieferninseln Suhrkamp Verlag

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Ein neues Buch von Marion Poschmann ist da! Es ist diesmal kein Lyrikband, es ist ein Roman, wenn auch ein sehr kurzer, jedoch gehaltvoller. Zuletzt erschien von ihr „Geliehene Landschaften“. Zahlreiche Gedichte darin sind auch in Japan entstanden und ergänzen den neuen Roman stimmig.

Hauptdarsteller in dieser Geschichte ist Gilbert Silvester, ein ziemlich unsympathischer Zeitgenosse, wie sich schnell herausstellt. Gilbert träumt eines Nachts, seine Frau würde ihn betrügen. Mathilda bestreitet dies vehement. Gilbert weiß nicht mehr was er tut und fliegt mit dem nächsten Jet nach Japan. Während des Langstreckenflugs erfährt der Leser von Gilberts Arbeits- und Forschungsthema:

„>Bartmode und Gottesbild< lautete sein Themenschwerpunkt, den er je nach Tagesform als enorm ergiebig, ja elektrisierend, oder aber als vollkommen absurd und zutiefst deprimierend empfand.“

Auf einem Bahnsteig in Tokyo begegnet er Yosa Tamagotchi, der immerhin ein Ziegenbärtchen trägt, der allerdings gerade vorhat sich umzubringen. Gilbert hält in davon ab und fortan reisen die beiden zusammen weiter. Gilbert plant anhand eines Buches auf den Spuren des Dichters Bashõ zu pilgern, um zu Einkehr und meditativer Ruhe zu finden. Zunächst versucht er noch mit Mathilda zu telefonieren, doch dann schreibt er nur noch Briefe und mancherorts ein Haiku. Yosa plant zunächst sein Vorhaben an anderer Stelle durch zu führen, anhand eines Suizid-Ratgebers findet er einige beliebte Orte, doch alles kommt anders. Yosa kommt Gilbert schließlich abhanden …

„Das Ganze, so konnte man von Bashõ lernen, mußte auf einem anderen Niveau stattfinden. Konsequente Fußmärsche. Einfachste Quartiere. Verzicht auf technische Hilfsmittel, allem voran Mobiltelefone. Erst dann erreichte man eine Haltung, die es erlauben würde, zu jenem gestrengen Über-Ich auf Distanz zu gehen, das jeden von ihnen im Alltag unter Kontrolle zu halten suchte.“

Wie immer ist auch dieses Buch sorgfältig und ergiebig recherchiert, so dass der Leser sowohl über Bärte, als auch über die japanische Suizidkultur mit besserem Wissen aus der Lektüre heraustritt. Den typischen skurrilen Blick und den feinen Humor Poschmanns kennen die Leser*innen möglicherweise schon aus vorigen Romanen, wie „Die Sonnenposition“, „Hundenovelle“ und „Schwarzweißroman“ (dich alle sehr empfehlen kann).

„Die Kieferninseln“ geht jedoch noch tiefer, ist ein Roman voller Bedeutsamkeiten, die sich erst auf den zweiten Blick zu erkennen geben. Es ist ein Roman über Natursensationen und darin ein sehr farbintensives Buch. Es schafft Platz für innere Räume und Wege in die „innere Landschaft des menschlichen Bewusstseins“. Es ist ein geheimnisvolles, zugleich witziges Buch, das zum Mitdenken einlädt. Womöglich ist Poschmanns Buch selbst ein Koan, der Leser somit ein ZEN-Schüler, der sich anschickt, das Rätsel zu lösen … Ein Leuchten!

„Fern von zu Hause
Kiefern, so alt wie der Fels –
ziehende Wolken“

Haiku von Gilbert Silvester

„Die Kieferninseln“ steht auf der SWR-Bestenliste in diesem Monat auf Platz 1 und auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017 (ich drücke die Daumen) und erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe und mehr über die Autorin und ihr Werk findet man hier.
Ein schönen Blick auf die Kieferninseln findet man auch bei Herr Hund