Ulrike Draesner: Die Verwandelten Penguin Verlag

Ich bin erst beim zweiten Versuch in diesen Roman hineingekommen. Anfangs tat ich mich schwer, wie auch schon bei „Schwitters“ mit der mitunter verwirrenden Sprache Ulrike Draesners klar zu kommen. Musste mich erst einlesen und dann war es die Geschichte, das Thema, das mich weitergezogen hat. Weniger die Sprache, die mir oft zu viel wird, zu übertrieben künstlich auf mich wirkt. Manchmal sind es dann einfach schlesische Wörter, die im Anhang erklärt sind. Und dann kommen wieder Sätze oder Sequenzen, die ich stark finde.

„Bis zu meinem sechsten Jahr wuchs alles in mir, wie es in einem Frühling wachsen soll. Dann saß ich in einem Zug, der oft stehen blieb. Die Reise dauerte einen Tag und jeden Tag danach. Es schneite. Fuhr der Zug, schneite, was er aufwirbelte, in mich hinein. Über dem, was ich werden sollte, bildete sich eine Kruste. An manchen Stellen taute sie später weg, an anderen wurde sie dicker und vereiste. Unter diesem Eis liege ich, dort schlafe ich seit über siebzig Jahren in mir.“

Und doch: Auch beim zweiten Versuch gelang es mir nicht, das Buch stracks zu Ende zu lesen. Was mich ausbremste? Ich weiß es nicht genau. Bis etwas über die Hälfte bin ich gekommen und las dann quer, ließ Abschnitte aus. Doch das Wesentliche scheint mir trotzdem erfasst.

Es geht um Krieg, um die unsäglichen Leiden, die durch ihn erzeugt werden. Es geht um den Lebensborn, das Gespinst, dass die Nationalsozialisten erfanden, um immer genug deutschen arischen Nachwuchs zu haben. Das Thema scheint sich in der Literatur gerade zu verankern. Auch Alois Hotschnigs Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ behandelt das Thema.

Draesners Roman hat Polen, genauer Breslau als Ausgangspunkt. Der Startpunkt ist allerdings Berlin. Von hier aus wird die Geschichte in Rückblenden aufgedröselt. Kinga, Rechtsanwältin, alleinerziehend mit einer adoptierten Tochter beschäftigt sich vorrangig mit Erbangelegenheiten und erfährt nach dem Tod ihrer Mutter überraschend, dass sie eine Wohnung in Breslau erbt. Sie beginnt zu recherchieren, was ihre Mutter mit dieser Stadt verband und kommt aus dem Staunen nicht heraus, denn es entspinnt sich eine beinahe unglaubliche Geschichte …

Es beginnt nach einem Vortrag, den Kinga in Hamburg hält. Hier spricht sie eine Frau, Doro, an und meint, sie wüsste mehr über ihre Mutter und ihre Großmutter. Ihre „richtige“ Großmutter. Beide vertiefen ihre Bekanntschaft, Doro führt sie in einen deutsch-polnischen Verein ein, in dem Frauen von Adele erzählen, die eine Tochter namens Alissa hatte. Es scheint sich herauszustellen, dass Adele Alissas leibliche Mutter ist, von der sie sehr früh getrennt wurde und an Adoptiveltern gegeben wurde. Kinga, die ihre Mutter als Gerhild Schücking kennt ist vollkommen überrascht von diesen neuen Entwicklungen. Und nach langen Überlegungen steht eine Reise an. Doro und Kinga reisen an ihren Herkunftsort auf der Spur nach dem, was damals wirklich geschah …

In verschiedenen Strängen aus der Sicht verschiedener Protagonistinnen in verschiedenen Zeiten erlesen wir nach und nach eine höchst komplexe Familiengeschichte. Unglaublich traurig und schmerzvoll ist die Geschichte, vor allem für die Frauen. Die Frauen sind häufig die, die das meiste Leid (er-)tragen. Ulrike Draesner schildert dies in aller Genauigkeit und Dichte, die gerade auch durch die Auslassungen und Streichungen von einzelnen Wörtern lebt.

Als Kriegsenkelin bin ich selbst betroffen von der Sprachlosigkeit der Eltern und Großeltern. Das Trauma hat sich tief verankert. Was genau geschah, erfahren wir meist nie und tragen es doch im Körper weiter. Ulrike Draesner erzählt hier von einem einzigen Schicksal, dass mit doppelten Verstrickungen sicher noch stärker traumatisierte. Wir sollten versuchen, die Traumata aufzuarbeiten und vor allem sollten wir verhindern, dass durch neue Kriege neues Leid entsteht, dass wieder weitergegeben wird. Wir sollten unbedingt versuchen diesen Kreislauf zu durchbrechen.

„So hießen wir nun, die in den 60er-Jahren Geborenen: Nebelkinder. Erwachsen waren wir offensichtlich noch immer nicht. Doch der neue Name drückte aus, wie viele von uns in den Händen von Menschen aufgewachsen waren, die weder von Verlusten noch Freuden erzählten. Eltern, die andeuteten und verstummten, mit Floskeln abspeisten, sich selbst nicht anders verstanden denn als Schemen, Eltern, die den Nebel erzeugten, an dem sie zugleich litten, was sie nie zugegeben hätten, denn sie taten es, um sich zu schützen. Dass sie auch uns auf diese Weise abschnitten von unserer Vergangenheit und den Tiefenlinien unserer Existenz, geschah gleichsam „kollateral“.

Der Roman erschien im Penguin Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Hilfreich, um den Überblick zu behalten, sind auch der Anhang mit Begriffserklärungen und der Stammbaum im Einband. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter Büchergilde Gutenberg/Argon Hörbuch

„Nicht hier sein wollen und woanders nicht hinkönnen, auch das habe ich von ihr.“

Immer wieder habe ich von diesem Roman gehört; oft hieß es „Geheimtipp“ oder „Ganz besonders“. Ich bekam dann die schöne Ausgabe der Büchergilde als Geschenk, als ich gerade auch das Hörbuch entdeckt hatte. Und so habe ich sozusagen parallel gehört und gelesen und muss sagen, dass das zuhören wirklich eine Freude war, denn der österreichische Schauspieler Wolfram Berger interpretiert den Roman grandios. Es ist, als würde er die Geschichte aus seinem Gedächtnis heraus erzählen und nicht etwa ablesen, was die Perspektive der Ich-Form erleichtert. Durch seine Worte hindurch spürt man die Atmosphäre des Romans, man erlebt mit dem Helden mit; stimmig dazu auch die österreichische Tönung der Sprache.

Alois Hotschnig orientiert sich mit diesem Roman an der Biographie des Schauspielers Heinz Fitz. Er schreibt sich suchend und tastend um dieses Leben herum und mitunter auch sehr tief hinein. Dabei macht er stets klar, dass alles wahr oder eben auch fiktiv sein kann. Die wenigen wirklich sicheren Fakten, mit denen sich der Held Heinz zufrieden geben muss, führen dabei wie ein roter Faden voran. Schon als kleines Kind herrscht größtmögliche Unsicherheit, da Heinz der Sohn einer Norwegerin ist, die sich in der Besatzungszeit mit einem deutschen Soldaten „eingelassen“ hat. Die schwangere Gerd wird von ihm 1942 zumindest ein Stück weit in seine Heimat Hohenems in Österreich begleitet. Doch die weitere Reise ist von Unterbrechungen und Unrast geprägt. Nachdem der Sohn geboren ist, erleidet Gerd einen Zusammenbruch und kommt in eine Klinik. Dort wird sie auch gegen ihre Epilepsie behandelt, von der sie erst spät geheilt wird. Heinz wird, vermutlich, in einem Heim des Lebensborn untergebracht.

„Der Lebensborn war es, der meine Mutter mit mir im Bauch von Norwegen nach Hohenems heruntergeholt hat. Der Lebensborn war überall oder sollte überall sein, so war es gedacht und geplant, wo es diese Mütter und deren Kinder gegeben hat. Und doch wusste kaum jemand davon.“

Und so sehen sich beide erst nach vier Jahren wieder, als die Mutter ihn sucht und auf einem Bauernhof findet, wo er als Pflegekind lebte. Immer steht die Frage nach dem Vater im Raum, der nicht mit ihnen leben will und die Mutter, die oft glaubt, Heinz wäre als Baby vertauscht worden. Diese Frage nach der Identität verfolgt Heinz durch sein Leben. Die Mutter heiratet Fritz und bekommt zwei weitere Kinder, Fritz stirbt früh an einer Lungenkrankheit und Heinz muss bald für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Er arbeitet in einer Stickereifabrik in Lustenau. Als Kind erlebte er immer wieder die epileptischen Anfälle der Mutter und ihre Schwermut, die auch auf ihn überging. Als Zwölfjähriger wollte er sich bereits umbringen. Zum Glück traten immer wieder Menschen in sein Leben, die ihm Mentor und Freund wurden. So entdeckte er auch die Welt der Bücher, das Kino und schließlich das Theater, dass ihm nach dem Schauspielstudium zur Heimat wurde.

Erst sehr spät, mit 60 Jahren nimmt sein Vater durch die Stiefschwester Kontakt mit ihm auf. Ein vorheriger Versuch des Jungen scheiterte. Durch seine Stiefschwester und anderen entfernten Verwandten erfährt er dann nach und nach Fragmente seiner Geschichte, Wie es der Mutter ergangen ist, als sie in Hohenems in der Tür stand. Die „Norwegerin“, die Fremde mit dem Silberfuchs um den Hals und der falschen Religion. Immer mehr Puzzleteile setzt Heinz zusammen; es entsteht dennoch nur ein vages Bild. Ein Historiker interessiert sich dann für seine Herkunft als „Lebensborn“-Kind. Auch durch ihn finden wieder einige Teile des Puzzles ineinander. Viel später – Heinz ist Schauspieler und lebt mit vielen Tieren auf einem Hof –kommen dann noch Puzzleteile aus Norwegen, die ein Verwandter Gerds sammelte und nur durch einen glücklichen Zufall finden sie den Weg zu Heinz. Es sind Briefe der Mutter und der Eltern der Mutter und des Vaters, die wieder eine ganz andere Geschichte erzählen und die bisherige in Frage stellen.

„So vieles ist offen. Auch durch diese Briefe jetzt noch einmal neu. Wenn es stimmt, was meine Mutter in den Briefen erzählt, dann werde ich auch mit dieser zweiten Hälfte der Wahrheit leben wie mit der ersten bisher, im Wissen darum, dass eine ganze Wahrheit wohl nicht daraus werden kann.“

Dieses Zitat fast am Schluss des Romans zeigt die große Unsicherheit und auch Zwiespältigkeit auf, die in diesem Leben zu finden ist. Es ist eine Geschichte vom Versuch sich selbst besser zu verstehen und eine Mutter zu finden, die sehr wenig greifbar war. Noch weniger greifbar, der Vater. Und zum Glück gab es immer stützende Menschen, die zur rechten Zeit da waren und halfen dieses Leben leichter lebbar zu machen. Ich bin sehr angetan von diesem Buch. Hotschnig hat ein einfühlsames eindringliches Porträt eines Menschen geschrieben, der trotz aller Widrigkeiten seine Berufung fand, das Schauspiel. Und er hat an die Aktion „Lebensborn“ erinnert, deren Geschichte sicher auch noch nicht umfassend bekannt ist. Ein Leuchten für Buch und Hörbuch!

Das Buch erschien bei der Büchergilde, das Hörbuch bei Argon. Eine Hörprobe gibt es hier.