Zum Welttag der Poesie – Lyrik aus unabhängigen Verlagen: Favoriten aus allen Blogjahren

Zum Welttag der Poesie am 21.3. gibt es Lyrik, die ich in den letzten Jahren auf dem Blog besprochen habe. Da auch der Indiebookday vor der Tür steht, habe ich unabhängige Verlage ausgewählt. Diese Indie-Verlage, bieten eine bunte Buchvielfalt: Es lohnt sich sie zu entdecken. Man erkennt sie meist schon an der außergewöhnlichen Aufmachung und an der liebevollen Gestaltung. Sie überraschen mit noch unbekannten neuen Autoren oder haben sich den Wiederentdeckungen verschrieben oder füllen bestimmte Nischen. Viel Vergnügen!

Hier meine Empfehlungen/Lyrik aus jedem der sieben Jahre, die mein Blog Literatur leuchtet bereits besteht. Mit Klick aufs Bild gehts zur Besprechung:

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Volha Hapeyeva: Trapezherz Literaturverlag Droschl


„jemand verbrennt blätter mit gedichten
auf dem dachboden des universums“

Nach „Mutantengarten“ folgt nun Volha Hapeyevas neuer Gedichtband „Trapezherz“. Die belarusische Autorin wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. In dem mehrseitigen Gedicht „Schwierige Arithmetik“ schreibt Hapeyeva über den Zustand ihres Landes Belarus, über die Einflussname der Regierung, über Zensur, über Russland, im Nacken sitzend. Geschickt schildert sie darin die unruhige Entwicklung des Landes, die die Menschen von alt bis jung miterlebten und erleben.

„denn der staat sorgt sich ja richtig um einen
also
hört er nicht auf, zeitungen und bücher zu überprüfen
er löscht die liste der schädlichen berufe nicht
er schafft die todesstrafe nicht ab
und behandelt andersdenkende
indem er sie zu einem spaziergang mit in den wald nimmt“

Mit ihren Gedichten ist es oft so eine Sache: Sie beginnen ganz einfach und harmlos und ich denke anfangs: „Hm, was wird das?“ und dann im Verlauf und vor allem gegen Ende, meist erst in den letzten Zeilen kommt dann der Knall oder zumindest der Grund, warum das Gedicht geschrieben wurde bzw. warum es eben nicht banal ist, wie man eingangs meinen konnte. So eine Form findet sich selten. Solch ein Schreiben öffnet womöglich die Lyrik auch für Menschen, die denken, sie mögen keine Gedichte oder können damit nichts anfangen. Und dann wieder sind es Gedichte, die sofort treffen, komplex und mit Tiefe.

„immer seltener
möchte ich sprechen

es ist sicherer
briefe an verstorbene zu schreiben

auf geschenke zu warten
nur von mir selbst“

Da kommt ein Gedicht über eine Ente, die einen kalten Schnabel hat und einen kalten Fuß. (Ja, na und?) Und nach all der scheinbaren Harmlosigkeit kommt zuletzt der Hinweis, wie gefährlich es für Enten im Winter ist, weil der Mensch so gerne Daunenjacken trägt, um nicht zu frieren. Da geht es um Schuhkartons, die nach ihrem ersten eigentlichen ganz neue Leben führen, etwa als Aufbewahrungsort für Briefe oder Spielzeug. Da gibt es den typischen Geruch der Umkleidekabine im Schwimmbad. Da gibt es einen weichen Wollteppich, der sich nie erträumt hätte in einem Gedicht vorzukommen und tatsächlich dient er letztlich nur als Metapher. Ein weggeworfener Mantel wird mitgenommen, um ihm das Gnadenbrot zu geben. Doch der Mantel ist Realist und glaubt nicht an ein weiteres Gebrauchtwerden.

Tatsächlich kommen viele Herzformen in ihren Gedichten vor, wie man aufgrund des Titels ahnen konnte: da wird die Herzklappe überprüft oder das Herz macht Sprünge, wird auf der Zunge getragen und stürzt ab wie ein Trapezkünstler, ist aber selbst als Organspende noch wichtig. Auch als Metapher für die Liebe. Es geht um Beziehungen, oft nicht funktionierend und um die daraus resultierende Einsamkeit. Es geht um das Dichterdasein im Allgemeinen wie im Besonderen. Die Sprache wird betrachtet, durchleuchtet und auf links gedreht.

„jede sprache – eine erzwungene reise
niemand sagt wo sie anfing
jede sprache ist übersetzung
jede sprache ist angst
alleine zu bleiben

wo beginnt die einsamkeit
ist sie schon ewig in unseren körper eingeschrieben
die von geburt an versuchen, sie zu vergessen
die seele ist nie allein
aber was soll er tun – der arme körper“

Es gibt viele Liebesgedichte, aber kaum eines, in dem die Liebe gelingt. Es sind sinnliche Gedichte mit viel Körperlichkeit. Mit viel Weiblichkeit. Mit Sehnsucht nach Berührung. Wenn kein Mensch zur Verfügung steht, wird einfach der Wind benutzt, der die Kleidung den Körper berühren und streicheln lässt. Das zeugt auch von einer Unabhängigkeit, die stärkt, von einer Selbstermächtigung als Frau. Ich erlese eine Weichheit und dann wieder eine besondere Härte. Schon als Kind geht es darum geformt zu werden, möglichst einheitlich, ohne Eigenheiten.

„krankenschwestern und passanten
nachbarn, lehrer, verwandte
sie alle sagten etwas über meinen körper
mein verhalten und meine gewohnheiten
brachen mich in stücke, damit ich in ihre schubladen passe
sodass ich bald nicht mehr wusste
wer ich war“

Hapeyeva schreibt alle Gedichte in Kleinbuchstaben. Es sind kritische, mitunter politische Gedichte, sehr klar und direkt in der Botschaft. Aber sie sind auch dem Alltag nah, den kleinen Dingen. Sie sind wenig experimentell, kaum abstrakt, wenngleich manchmal spielerisch. Immer jedoch sind sie menschlich, nah und zugewandt.

Trapezherz erschien im Literaturverlag Droschl. Übersetzt aus dem Belarusischen hat es Matthias Göritz, ebenfalls Lyriker. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Eine Leseprobe gibt es hier hier.

Eine kurze Leseprobe der Dichterin:

Andrea Scrima: Kreisläufe Literaturverlag Droschl

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„Wenn wir nur die Vergangenheit hinter uns bringen könnten und mit ihr die Fehler der Menschen, die uns erschaffen und dann beinah gebrochen haben, könnten wir glücklich sein.“

Es ist der zweite Roman der 1960 in New York geborenen und in Berlin lebenden Künstlerin Andrea Scrima. Nach Wie viele Tage , das mir sehr gefiel, lese ich nun „Kreisläufe“ und finde eine Art Ergänzung zum vorigen Roman vor. Ebenso wie zuvor ist es vor allem auch die Sprache, der Ausdruck innerer Vorgänge und Reflexionen, die Komplexität und die Vielschichtigkeit, die mir das Buch zu etwas Besonderem machen. Ging es zuvor vorrangig um die Lebenswege und Verortungen in der Vergangenheit und Gegenwart, wird nun einerseits die Beziehung zur Mutter und zum Vater thematisiert, aber auch die zum Lebensgefährten.

„Berlin war eine ganz eigene Variante von Nirgendwo; ich hatte meinen Platz unter den Außenseitern und Ausreißern der Stadt gefunden […] Ich redete mir ein, geblieben zu sein, um abseits des Kunstmarkts arbeiten zu können, in Wirklichkeit versteckte ich mich vor etwas, aber das war mir damals nicht bewusst.“

Die Künstlerin Felice lebt in Berlin und hat ihre erste Einzelausstellung in New York, ihrer Heimatstadt. Sie verbindet den Anlass ihrer Reise mit dem Besuch bei der Mutter. Der Vater ist bereits tot, die drei Geschwister an unterschiedlichen Lebensorten angekommen. Sobald sie das Haus betritt, umfängt sie die düstere Atmosphäre der Kindheit. Sie beschreibt gleich eingangs ganz wunderbar, was mit ihr passiert: Sie öffnet den Küchenschrank und findet Büchsen von Nahrungsmitteln vor, eine fällt ihr direkt entgegen. Und nun öffnet sich sinnbildlich eine nach der anderen, jede enthält Erinnerungen, die meisten davon sind keine schönen. Nach und nach und in vielen Zeitsprüngen gelangen wir tiefer in die Familie der Heldin. Anhand von einzelnen Ereignissen, zeigt sich das Bild immer deutlicher, das Bild einer dysfunktionalen Familie. Zwischen der unberechenbaren, manipulierenden Mutter und der Tochter herrscht ein gespanntes Verhältnis, das beide wie eine unsichtbare Mauer voneinander trennt. Jeder Versuch der Aussprache seitens der Tochter ist zum Scheitern verurteilt. Über eine Art Smalltalk geht es nie hinaus, die Mutter blockt, wo die Tochter sich Erklärungen und Anerkennung wünscht. Tatsächlich blitzt die Anerkennung dann einmal kurz hervor, als die Mutter, die Schwester und eine Nachbarin die Ausstellung Felices in der Galerie besuchen, obwohl es womöglich eher darum geht, diese mit dem Berühmtsein der Künstler-Tochter zu beeindrucken.

Zwischendurch erinnert sich Felice an die Zeit, als sie von zuhause auszog, an die Beziehung mit einem Mitstudenten, an die konzentrierte Atelierarbeit während des Studiums, diese magische Zeit, die immer auch mit Geldmangel verbunden war, aber auch ihr Schwangerschaftsabbruch wird thematisiert. Auch später beim Studium in Berlin öffnen sich manche Türen und Felice hat mehrere Ausstellungen an verschiedenen Orten Deutschlands.

„Meine Familie hatte mich aus der Bahn geworfen. Uns alle hatten unsere Familien aus der Bahn geworfen – Bobby, Rick, Sunny und mich – und die Kunst war unser Versuch wieder eine Ordnung herzustellen.“

Im zweiten Teil rückt der Vater in den Vordergrund, dessen Tagebuchkalender Felice nach dem Tod des Vaters findet und mit zurück nach Berlin nimmt. Sie entdeckt, dass der Vater an Depressionen litt und Psychopharmaka nahm, dass er fortweg arbeitete, um die 6-köpfige Familie zu ernähren. Ich spüre hier eine besondere Zuneigung der Tochter zum Vater; das Verhältnis scheint ein viel innigeres gewesen zu sein, als zur Mutter. Jeder Tagebucheintrag weckt Erinnerungen und ruft Bilder hervor; doch manches bleibt für immer im Dunklen. Scrima schreibt sich hier an den Tagebucheinträgen entlang, die meist nur aus kurzen Stichworten bestehen und auch keine spektakulären Ereignisse aufzeigen. Oft geht es um die Arbeit, manchmal ums Wetter oder neue Anschaffungen. Diese Art des Schreiben ist anders, als der erste Teil, der für mich persönlich ausdrucksstärker wirkte, weil sich die Sprache mehr ausdehnen darf. Auch Träume und ihre möglichen Deutungsvarianten spielen durchweg eine Rolle.

In beiden Teilen liegt auch immer wieder der Fokus auf der Partnerschaft mit Michael. Michael ist in der DDR aufgewachsen und wegen zu viel Widerstand und Eigenwillen gegen das System in einen Jugendwerkhof und in Haft gebracht worden. Die Geschehnisse haben in extrem traumatisiert, so dass er nach dem Fall der Mauer zunächst begeistert die neu gewonnene Freiheit nutzt, bald jedoch von der Vergangenheit wieder eingeholt wird und aus mangelndem Vertrauen immer mehr auf Rückzug geht. Auch Felice gegenüber. Gespräche sind kaum möglich. Scrima beschreibt hier sehr klar und eindringlich, wie stark die Veränderungen durch den Fall der Mauer, die Menschen, die in viel zu kurzer Zeit in einer vollständig anderen Staatsform leben sollten, verunsicherte und teils komplett aus der Bahn warf.

„Ich würde ihm (Anmerkung: dem Vater) erzählen, wie mit der Wiedervereinigung eine einzige entzweigerissene Psyche, deren eine Hälfte ihre schlimmsten Ängste auf die andere projizierte, in eine deutsch-deutsche Romanze verfiel, in einen plötzlichen Rausch, der die verheerenden Schäden verleugnete, die das Verschmelzen der beiden grundsätzlich verschiedenen Staaten an den Menschen der früheren DDR anrichtete, deren Land sich mit einer schwindelerregenden Plötzlichkeit in Luft aufgelöst hatte, mit allem, wofür es einst gestanden hatte.“

Die beiden bekommen einen Sohn und trotzdem bestreitet Felice fast allein den Lebensunterhalt mit Übersetzungen. Die Kunst bleibt dabei auf der Strecke. Erst mit der Trennung beginnt ein neues Kapitel, mit dem auch Sohn Max im Text in den Mittelpunkt rückt.

Der Roman ist sprachlich so gekonnt und formell so gut gelungen, dass ich einfach nur beeindruckt bin, wie die Autorin Erinnerungen so aufbereitet, dass sie literarisch leuchten. Dennoch hat mich die Geschichte, obwohl sie mich tief berührt, zeitweise ziemlich mitgenommen, da ich so einige Übereinstimmungen zu meinem eigenen Leben fand. Wenn Literatur so tief auf mich wirkt, ist das für mich doch immer ein großer Gewinn. Besonders intensiv und wunderschön zu lesen, fand ich die Sequenzen, in denen fast nichts passiert, die nur einen Augenblick einfangen, eine Betrachtung, eine Empfindung und diese dann durch Nachdenken und Nachspüren ausdehnen und ins Literarische überführen. Ein Leuchten!

„Kreisläufe“ erschien im Literaturverlag Droschl. Aus dem Amerikanischen übersetzt hat es Andrea Scrima selbst zusammen mit Christian von der Goltz. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

3 x Lyrik – Kurzüberblick erlesener Gedichtbände: Eva Maria Leuenberger: Kyung / Anthologie Rote Spindel, schwarze Kreide / Séptimas von Klaus Anders

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Für manche bereits gelesenen Lyrikbände fehlen mir Worte und/oder Zeit, um einen längeren Blogbeitrag zu schreiben, obwohl ich sie sehr mag und empfehle. Deshalb hier ein kurzer Einblick in loser Folge:

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„ein ich /      außerhalb ihrer eigenen äußerung
schwebend, mit beiden füßen fest auf der erde
eine handvoll augen, ohne gesicht, eine handvoll stimmen,
ohne körper

eine leerstelle, wo der name war

erinnerung, fragmentiert zu sprache“

Eva Maria Leuenbergers zweiter Lyrikband nach „dekarnation“ ist ganz anders. Sie hat sich diesmal an einer konkreten Person, an einem konkreten künstlerischen Werk orientiert und macht etwas ganz Besonderes daraus. Wie schon der Titel verrät, geht es um die koreanisch/US-amerikanische Künstlerin Theresa Hak Kyung Cha (1951-1982), die im Alter von 31 vergewaltigt und ermordet wurde. Leuenberger hat sich intensiv mit deren Werk, vor allem mit „Dictée“ (was erst posthum veröffentlicht wurde) und mit deren Biographie auseinandergesetzt. Entstanden ist ein Band, der dieser Künstlerin ein Denkmal setzt. Die Wertschätzung für Kyungs Kunst zieht sich durch das ganze Buch, ohne Leuenbergers eigene Stimme zu überdecken. So werden auch Worte und Bilder Kyungs mit eingebunden und in ihrer Tiefe sensibel durchleuchtet. Der Band erschien im Droschl Verlag.

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MärchenTitelMaerchen.jpg Rote Spindel

Ich habe die Märchen vergessen. Sie vergessen mich nicht.
Wir lernen uns näher kennen nach Mitternacht in den Bil-

derbüchern hinter den Bergen. Da deuten uns die Sterne.
Das Zündholzmädchen kocht mir Tee im gesprungenen Glas.
Ich fülle die Schachtel mit Gedanken-Splittern.“

Rose Ausländer

„Rote Spindel, schwarze Kreide“ versammelt Gedichte klassischer und zeitgenössischer Lyriker*innen zu einer wunderbaren Sammlung von Texten über Märchen in einem Band. Herausgegeben von Birgit Kreipe und Ron Winkler, die beide selbst Gedichte schreiben, zeigt sich eine traumhafte Fülle, die die Leser in eine Zauberwelt entführt. Im Vorwort erläutert Birgit Kreipe die Herkunft der Märchen, ihre Beziehung zu Träumen und auch zur Psychologie und erzählt, wie bei der Auswahl der Texte vorgegangen wurde. So überwiegen zeitgenössische Dichter*innen, wobei das älteste Gedicht von 1880 stammt und die neuesten aus dem 21. Jahrhundert. Die meisten Gedichte beziehen sich dabei auf die Grimm`schen Märchen. So gefiel mir beispielsweise besonders gut das Gedicht „Märchen“ von Selma Meerbaum-Eisinger:

„So weit meine Augen sind –
verloren in einem Wald,
spielen sie blind und tot mit dem Wind,
und ich – bin müd und kalt.“,

aber auch Rolf Dieter Brinkmanns „Schneewittchen“

„…wer weiß in der luft die leuchtet weiß her und tanzt geliebte im wind der weiß geliebte vornüber hinunter auf dächern die sterne …“ 

und Werner Söllners „Märchen zur Unzeit“:

Alles und nichts in Käfig und Reuse.
Die Welt ist entzaubert, Hans ist im Glück.
Wer nicht mehr am Gold klebt, sagt leise:
Einmal Bremen, hin und zurück.“

Weiterhin finden sich Gedichte von Birgit Kreipe selbst, von Nora Gomringer und Nora Bossong, von Gertrud Kolmar und Erika Burkart, von Kerstin Hensel und Elke Erb, von Paul Celan und Günter Eich und viele viele mehr. Der Band erschien im Verlag Edition Azur.

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„Lang ging ich in düsteren
Gedanken, die Wälder schlossen sich
hinter mir, keiner folgte, ich blieb
lang allein mit den Bäumen.
Sie schützten mich, sie sprachen mir zu
bis die Düsternis schwand, bis ich sang,
mit neuen Liedern heimkam.“

Klaus Anders` neuer Lyrikband „Séptimas“ versammelt lauter siebenzeilige Gedichte, die meditativ sind wie Haikus, aber durch ihre etwas längere Form mehr verraten. Sie sind wunderbar zum täglichen Lesen geeignet, vielleicht morgens oder abends wie ein Gebet. Für den Geist ist es genau richtig, sieben Zeilen, die leicht zu lesen sind, aber mitunter wie ein Koan zum Weiterdenken herausfordern. Es finden sich Bezüge zur Weltliteratur, zum Menschsein, zur Natur und im letzten Kapitel sind die Verse 7 japanischen Dichtern gewidmet. Der Band erschien in der Edition Rugerup.

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Neue Lyrik im Herbst – Eine subjektive Auswahl aus den Verlagsvorschauen Herbst 2021

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Viele Blogger gestalten derzeit Beiträge zu den Herbstvorschauen 2021 der Verlage. Was dabei aber fast immer fehlt ist die Lyrik. Diese Lücke will ich nun schließen. Aber: Es ist ein sehr subjektiver Blick, es ist eine winzige Auswahl, es sind die, die mich am stärksten ansprechen. Viel Vergnügen beim Entdecken!

Meine vier Favoriten:

Auf Ulrich Kochs neuen Lyrikband freue ich mich sehr. Er ist ein, wenngleich unerreichbares, Vorbild für mein eigenes Schreiben. Geniale Kostproben gibt es immer wieder auf Facebook. „Diese Gedichte sind groß, groß genug für Gegensätze und Selbstwidersprüche, und sie nehmen sich zurück, als hätten sie sich gekürzt. Sie sind das, was übrig bleibt, wenn das Ich – »Ein Niemand / Unvergessen« – gestrichen ist.“ (aus dem Vorschautext). „Dies ist nur ein Auszug aus einem viel kürzeren Text“ erscheint am 27.8.21 beim Jung und Jung Verlag.

Levin Westermann hat mich mit seinem letzten Gedichtband sehr begeistert. „Denn das Schreiben ist immer auch ein Überschreiben. Literatur ist Palimpsest. Und alles ist verbunden, im Text und in der Welt. Kein Lebewesen existiert für sich allein, und kein Text entsteht aus dem Nichts.“ (aus dem Vorschautext).  „farbe komm dunkel“ erscheint am 26.8.21 im Matthes & Seitz Verlag.

Ich bin Fan von Lutz Seilers Texten, sei es Prosa oder Lyrik. Sein neuer Band heißt  „schrift für blinde riesen“. „Mit seiner suggestiven Stimme und einer gehärteten Sprache jenseits aller Moden eröffnet Lutz Seiler einen ureigenen poetischen Raum. Vor allem ist es die Materialität der Dinge, das Sprechen nah an den Substanzen – verwandelt in Rhythmus und Klang, bilden sie den Erzählton seiner neuen Gedichte.“ (aus dem Vorschautext) Erscheinungstermin ist der 16.8.21, wie immer im Suhrkamp Verlag.

Der Debütband „dekarnation“ von Eva Maria Leuenberger hat mich bereits fasziniert und ich bin sehr gespannt auf  „kyung“.  Eva Maria Leuenbergers zweites Buch ist eine unerschrockene Auseinandersetzung mit Identität, Herkunft und Sprache, Ent- und Verwurzelung, sexueller Gewalt und Angst. All das macht kyung zu einem hochpolitischen und hochaktuellen Werk.“ (aus dem Vorschautext) Der Band ist bereits erschienen am 25.6.21 im Literaturverlag Droschl.

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Ron Winklers Bände stehen fast alle in meinem Buchregal. Sein neuer Band trägt den Titel „Magma in den Dingen“. „Ron Winkler untersucht in seinem neuen Band, wie die Sprache in der Bewegung ihre Fließgeschwindigkeit verändert. Unermüdlich sind Winklers Gedichte dem »strapaziösen Schönen« auf der Spur, tragen sie die überraschenden Überschüsse dessen nach, was der Fall ist.“ (aus dem Vorschautext). Der Band erscheint am 20.7.21 im Schöffling Verlag.

Birgit Kreipes neuer Lyrikband aire“ ist gerade bei Kookbooks erschienen. „Die Gedichte in aire spüren inneren und äußeren Umbrüchen nach – etwa Krankheit, Umzug, Verlust – und interessieren sich für disruptive oder allmähliche Veränderungen: für die sukzessive Integration von Sinneseindrücken, das Gären von Gefühlen, Gedanken- und Erinnerungsspuren sowie die dadurch ausgelöste spezifische Unruhe – und deren Sprünge und Transformation in neue Erfahrung.“ (aus dem Vorschautext). ET 28.6.21

Herausgegeben von beiden, von Birgit Kreipe und Ron Winkler erscheint eine Anthologie über Märchen im Gedicht: „Rote Spindel Schwarze Kreide“.  Es überrascht nicht, dass Märchen auch die Poesie inspirieren. Es überrascht eher, dass märchenhafte Lyrik bisher nicht in dieser Form zusammengekommen ist. Dabei sind sich beide Genres äußerst nah. Am Wunderbaren rühren, die eigene Zeit verwandeln oder hinterfragen, vertuschen und verblüffen, es mit dem Unergründlichen aufnehmen: Das können Märchen, können Gedichte.“ (aus dem Vorschautext) Ab 13.9.21 bei Edition Azur/Voland Quist.

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Die Gedichte der jungen albanischen Lyrikerin Luljeta Lleshanakus fielen mir schon in der Anthologie „Grand Tour“ positiv auf.  Nun erscheint der Band Die Stadt der Äpfel im Hanser Verlag. „Luljeta Lleshanaku gehört zu den prägendsten Stimmen der neuen Lyrik Osteuropas. In jungen Jahren erlebte sie den politischen Umbruch in Albanien, jene plötzliche Beschleunigung der Zeit, die ihrer Generation eine Welt ohne Anker und Zukunft hinterließ. Lleshanakus Gedichte sind von großer Unmittelbarkeit und Melancholie gezeichnet.“ (aus dem Vorschautext) ET 27.9.21

Ronya Othmann, die bereits beim Gertrud Kolmar-Preis den Förderpreis erhielt, bringt nun nach ihrem Debütroman auch einen Gedichtband heraus. „Widerständig und zugleich an jeder Stelle ungeschützt und intim tragen diese existenziellen Gedichte einen neuen Ton in die Gegenwart: „wir werden die detonation rückwärts lesen.““ (aus dem Vorschautext)  „Die Verbrechen“ erscheint am 25.10.21 im Hanser Verlag.

Den Hauptpreis beim Gertrud Kolmar-Preis erhielt Ulrike Draesner mit ihrem Gedichtzyklus  „doggerland“ „Oszillierend zwischen Deutsch und Englisch, zwischen gebundener und freier Rede, wirft Draesners bereits vor der Veröffentlichung preisgekröntes Gedicht einen Blick zurück: vom immer wahrscheinlicheren Ende des Holozäns zu unseren Anfängen. Eine bewegende, von jahrhundertealten, meist männlichen Vorstellungen befreite lyrische Suche nach unseren Wurzeln.“ (Vorschautext) Der Band erscheint am 4.10.21 im Penguin Verlag.

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9783945832462.jpg frau20210624_130415158214244945771143.jpgDas Kettenkarussell

Die 1982 in Syrien geborene Rasha Habbal ist bereits an dem wunderbaren Projekt „Weiterschreiben“ beteiligt. „Rasha Habbals Gedichte machen sich verletzlich. Sie sind immer intim, aber nie privat – immer alltäglich, aber nie belanglos. Szenen und Situationen projiziert Habbal auf den Hintergrund ihrer Entstehung: die syrische Revolution von 2011, den Bürgerkrieg, das Leben in Deutschland. Die Geschehnisse gewinnen aber nicht die Oberhand über das Gewöhnliche, das eine umso größere Symbolkraft entfaltet.“ (aus dem Vorschautext) „Die letzte Frau“ erscheint am 1.9.21. im Verlagshaus Berlin.

Bei Kookbooks erscheint der neue Band des Lyrikers Farhad Showghi. „Ich entwerfe ein Sprechen. Und komme zum Erzählgedicht. Was geschieht, wenn ich sage: Genaugenommen verlasse ich das Haus und die Ortschaft. Die Ort-schaft. Die Silbe schaft beschäftigt mich. Und ich will jetzt einen Zuruf suchen, mit einem mundfernen Sprechgefühl, mir indes einen Namen machen, einen Namen, der von sich aus nichts tut, keiner Anweisung folgt, eher Lautfolge bleibt.“ (O-Ton Showghi in der Vorschau)  „Anlegestellen für Helligkeiten“ erscheint im Oktober 21.

Neue Gedichte der Georgierin Bela Chekurishvili sind bereits am 13.7.21 erschienen. Der Gedichtband heißt „Das Kettenkarussell und erschien beim Wunderhorn Verlag. „Die neuen Gedichte von Bela Chekurishvili haben ihre Ankerpunkte in der Kindheit. Sie rückt umso mehr in den Blick, je länger und je weiter sich die georgische Dichterin aus ihrer Heimat entfernt hat. Die Gedichte Bela Chekurishvilis holen die Ferne heran, mit den uralten Mitteln der Poesie.“ (Text aus der Verlagsvorschau).

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Zwei interessante Lyrikbände erscheinen Mitte September im Elif Verlag. Zum einen ein weiterer Band aus Island, diesmal „Lederjackenwetter“ von Fríða Ísberg, wieder zweisprachig und übersetzt von Wolfgang Schiffer und Jon Thor Gislason. Eine Empfehlung vom Verleger selbst ist der Band „Schmutzfleck“ von Seyyidhan Kömürcü. 

Şafak Sarıçiçeks neuester Gedichtband scheint mir inhaltlich sehr spannend: „Mit Aplomb treten auch die Gedichte auf, die Im Sandmoor ein Android versammelt. Bemerkenswert ist ein Zyklus, der die Heidelberger Sammlung Prinzhorn – ein Museum für Kunstwerke aus psychiatrischen Kliniken – reflektiert und in kraftvolle Sprachbilder übersetzt. Überhaupt geht es in Sarıçiçeks Lyrik oft um Objekte, um Exponate. Kaum ein Gedicht ohne Auftritt lebender oder fossiler Pflanzen und Tiere.“ (aus dem Vorschautext)  „Im Sandmoor ein Android“erschien bereits am 14.7.21 beim Quintus Verlag.

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Titelfoto: Constanze Matthes

 

Julia Cohen: Ich wurde nicht geboren Literaturverlag Droschl

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Ein recht ungewöhnlicher Band kommt aus einem meiner Lieblingsverlage, dem Droschl Verlag aus Graz. Dass sich das Buch auf einem Foto, so oft ich es auch versuchte, vollkommen unscharf zeigt, ja luftig verschwommen, fast unwirklich, passt wiederum irgendwie auch zum Inhalt, deshalb lasse ich es so stehen.

„Es ist okay, wenn du sagst, dass du ein Gefühl fühlst, bis du es nicht mehr fühlst. Ein Buch ist ein Schleusenzustand. Glaube auf dem Antlitz der Nacht, auf den blutigen Konstellationen von Sprache.“

Die in Chicago lebende Amerikanerin Julia Cohen hat eine Mischung aus poetischer Selbstbetrachtung und psychotherapeutischem Tagebuch geschrieben. Dass es um reine Selbsterforschung geht, die Literatur hervorbringt, gefällt mir über die Maßen gut. Cohen spiegelt sich im Leser, spiegelt ihre komplizierte Beziehungsgeschichte, wie es womöglich noch niemand vor ihr getan hat. Das ist nicht immer einfach, keine freundliche Lektüre sondern Herausforderung an Leser, die tiefer gehen wollen und keine Angst vor dem haben, was womöglich ziemlich nahe kommt. Doch es ist keine autobiographische Selbstentblößung á la Knausgard, sondern der Unterschied liegt in der Reflexion und der poetischen Sprache, die eben nicht beliebig ist, aber auch nicht unanstrengend.

„Eine Ampel, drei Kreuzungen, der beißend blumige Geruch eines Waschsalons. Ich renne die sechs Blocks nach Hause und finde N. zusammengesackt auf dem Sofa liegen. Die Schlinge im Rucksack, den Kopf voller Selbstmord.“

Der Text entzieht sich jeder Zuordnung, ist weder Gedicht noch Roman, noch Essay oder reines Tagebuch. Der einzige inhaltliche Aspekt, an dem man sich festhalten kann, das einzige, was sicher ist, ist der Selbstmordversuch des Lebenspartners, N. genannt, der Protagonistin. Drumherum versucht diese sich damit auseinanderzusetzen, einen Weg zu suchen, damit umzugehen. Dass sich herauskristallisiert, dass eine Trennung nötig wird, ein Lösen aus einer destruktiven Beziehung, macht das Buch nicht leichter, gibt aber der Suche nach Halt durch die Sprache einen noch höheren Wert, ja vielleicht ist sogar sie es, die diese Erkenntnis überhaupt hervorbringt.

„Ich habe dein Gesicht erkannt, aber du hast es mich nicht lesen lassen. Oder es konnte nicht gelesen werden.“

Neben der Therapie, von der Cohen uns recht viel erzählt – manche Stunde könnte eins zu eins übernommen sein – zeigt sie uns viel von ihrem Inneren, in aller Schönheit und in aller Dunkelheit. Jede/r, der/die einmal eine Liebe verloren hat (und wer hat das nicht?), erkennt sich darin wieder.

„kreativität ist überleben, ich versuche,
mir nicht mehr zu fehlen.“

Wie die Autorin das sprachlich ausarbeitet, macht das Besondere aus und ist keineswegs nur bloße Selbsthilfe. Es ist literaturgewordenes Suchen, Zweifeln, Anlehnen, Durchdrehen, aber auch ein Erden durch den so vielseitigen Ausdruck durch Sprache. Dabei wird der Text, gerade im Gedichtzyklus „der schmerz der schmerz“, wunderbar vom Rhythmus weitergetragen.

„Steckt irgendwer Salz in den Briefkasten? Kurzlebiger Flieder. Besucht irgendwer den falschen Fluss, sein verzaubertes Kind? Eine zu Wüste verwitwete Küste. Früher Feind? Nimm das Geschmeichel aus der Antwort, um ein Antlitz ist ein Antlitz zu fegen. Absteigende Sterne oder Marzipangefühle.“

Für mich ist es ein Buch, dass weitab aller derzeitigen Veröffentlichungen steht. Ich bin sehr dafür, dass es solche konsequent herausfordernden Texte in Buchform gibt und denen sehr dankbar, die sich in dieser heutigen allzu schnellen Zeit trauen, solch „zeitraubende“ und gleichzeitig so viel mehr gewinnbringende Literatur zu verlegen.
Ein Leuchten!

„ich wurde nicht geboren“ erschien im Literaturverlag Droschl und wurde hervorragend übersetzt von Maria Hummitzsch. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.