Moische Kulbak: Die Selmenianer Die andere Bibliothek

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„Selmenianer sind schwarzhaarig und knochig gebaut. Sie haben eine breite, niedrige Stirn, fleischige Nasen und Grübchen in den Wangen. Im Allgemeinen sind sie ruhig und schweigsam und sehen jeden von der Seite an, es gibt aber, vor allem in der jüngeren Generation, auch solche, die kühn oder sogar frech reden können.

„Die Selmenianer“ ist ein Band aus der kunstvoll gestalteten Reihe „Die andere Bibliothek“. Bereits in „Montag“  hat mich Moische Kulbaks fabelhafte Sprache begeistert. Auch der Gedichtband „Childe Harold aus Disna“ aus der Edition Fototapeta ist ein Kleinod. Der Wagenbach Verlag wird in diesem Frühjahr ebenfalls einen Roman herausgeben. Schön, dass Kulbak wieder aufgelegt und gelesen wird. Er ist ein glänzender Geschichtenerzähler. Bereits auf der zweiten Seite begann ich besonders gelungene Passagen anzustreichen. Kulbak hat einen Humor, der seinesgleichen sucht. Eher naiv muten seine Texte anfangs oft an, bis die Sprache sich vollends verzweigt, ausdehnt und zum großen Lesegenuss wird.  Hellstes selmenianisches Leuchten!

Die Selmenianer sind eine jüdische Sippe, deren Urvater Reb Selmele aus dem tiefsten Russland stammt. Mit Bobe Basche gründet er eine weit verzweigte Großfamilie, die auf dem Rebsehof bei Minsk zusammen lebt und sich doch nicht immer ganz koscher ist. Einige Hauptprotagonisten zeichnen sich beim fortschreitenden Lesen ab, wobei man mit den Namen sehr aufpassen muss, um sich zurechtzufinden: Die Brüder Itsche, Sische, Juhde und der Außenseiter Folje (der als Kind gekränkt wurde), deren Frauen Gite und Malke, deren Söhne, der schlaue Falke und der lebensmüde Zalke und die Töchter Tonke, Chaje und Sonja etc.

„Ihr zufolge hat Bobe Basche die Welt nicht auf natürliche Weise verlassen, sondern ist von einem Tisch gefallen, was bei einem so alten Menschen einem Sturz aus dem zehnten Stock gleichkommt.“

Wir erleben Familienzwist und Unstimmigkeiten, wenn beispielsweise Tochter Sonja heimlich einen Goj heiratet oder Falke nicht nur die Elektrizität auf den Hof bringt, sondern auch noch das Radio. Überhaupt sind die Jungen – Kulbak nennt sie Taugenichtse –, die, die sich fürs Moderne begeistern, die, die sich gegen die alten (religiösen) Traditionen auflehnen z.B. nach der Geburt eines Sohnes gegen das Beschneiden oder gar das Feiern des Pessach-Festes.

„– Sag mal Mottele, wann müssen wir sterben? –, fragte Lipe, das Kindergartenkind.
– Das dauert noch–, antwortete Mottele, – vorher müssen wir noch heiraten, danach in den Krieg ziehen und dann den Ernteertrag erhöhen.“

Alle in der Familie haben ihre Eigenheiten, so etwa einer der oft seufzt, dass es wie ein Wiehern klingt, der andere, der in Ohnmacht fällt, wenn er nicht mehr weiter weiß und wieder einer, der sich von Zeit zu Zeit umbringen will, dem es aber nie gelingt. Einer verlässt den Rebsehof und wird „fast ein Kolchosearbeiter, mit dem typischen Heuduft, aber noch grün hinter der Schläfenlocke und mit langem Kaftan.“

Es ist ein sehr sinnliches Buch. Die Selmenianer duften nach Heu, ein Apfel erfüllt die Küche mit seinem Geruch nach Wein. Der Schnee liegt rosa, die Nacht unendlich tintenschwarz. Durch Wiederholungen intensiviert Kulbak oft bestimmte, wichtige oder skurrile Passagen. Und dennoch ist er ein unzuverlässiger Erzähler, ganz wie die Selmenianer selbst, deren Gerüchteküche unentwegt brodelt. Er wechselt die Jahreszeiten unverblümt wie er es braucht, es ist erschreckend oft Winter, und auch Totgeglaubte stehen mitunter wieder auf. Der Erzähler selbst warnt auch immer wieder, man möge das Erzählte lieber überprüfen.

„In Österreich, einer Art Deutschland, war Onkel Folje als Kriegsgefangener.“

Und es ist vor allem auch ein witziges Buch. Ein Buch dessen Tiefe sich zunächst versteckt und erlesen werden will. Es ist auch ein kritisches Buch. Revolutionskritisch, sowjetkritisch, doch eben nicht auf den ersten Blick. Kulbak, der anfangs noch an die revolutionäre Idee glaubte, unterteilt seinen Roman in zwei Bücher. Während es im ersten Teil zumeist um die innerselmenianischen Belange geht, dringt in Teil zwei die äußere Welt, die moderne, die politische, in die kleine Selmenianerwelt ein. Als dann schließlich Zalkes erneuter Suizid klappt, ist das auch gleichzeitig ein Symbol des Endes des Rebsehofes und damit der Selmenianer. Der Hof wird zur Fabrik umgebaut.

In der Sowjetunion erschien Kulbaks Roman erstmals 1971, allerdings zensiert. Mehr über den 1896 geborenen Autor, der 1937 in einem Schauprozeß zum Tode verurteilt wurde, kann man im aufschlussreichen Nachwort von Susanne Klingenstein und auf der Verlagsseite lesen. Übersetzt aus dem jiddischen wurde der Roman von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme.

„Die Selmenianer“ ist natürlich auch äußerlich wieder ein kleines Kunstwerk. Das nachtblaue Vorsatzblatt, das feine Papier, fadengeheftet und die kleinen Zeichnungen am Anfang und Ende des Buches, welches der Berliner Illustrator Christian Gralingen gestaltet hat, sind Augenschmaus.

Mit Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Moyshe Kulbak: Montag Ein kleiner Roman Edition fotoTAPETA

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Eine große Entdeckung ist dieses schmale blaue Buch aus dem Programm des vorwiegend nach Osten ausgerichteten Verlags Edition fotoTAPETA mit Sitz in Berlin. „Ein kleiner Roman“ heißt der Untertitel des Buches und er ist in der Tat kurz, aber enorm gewichtig. Ich befinde mich gerade selbst aus unerfindlichen Gründen in Lese-Richtung nach Osteuropa, Russland ehemals Sowjetunion und freue mich über dieses schöne, schöne Buch. Es erschien erstmals 1926 und erzählt anhand des jüdischen Hebräischlehrers Mordkhe Markus von der Zeit der Revolutionen in Russland 1917 und der Situation der Juden in dieser Zeit. Und er trifft mit seiner lyrischen zugleich expressionistischen Sprache einen ganz besonderen eindringlichen Ton.

So folgen beispielsweise, wie in der Lyrik oft der Fall, Attribute oder Adjektive dem Substantiv, oft doppelt, was eine merkwürdige Intensivierung entstehen lässt.

„Kleine Einheiten von Soldaten, grauen, gingen von Zeit zu Zeit mit revolutionärem Schritt vorbei, hinab zu ihren Kasernen.“

Zum anderen gibt es auffällig viele Diminuitive (wie ich sie mitunter von den großen russischen Dichtern, etwa Gogol, kenne), was aber hier in den Zusammenhängen alles andere als verniedlichend wirkt.

„Eine Granate seufzte lang und fiel ins Flüsschen. Mit einem Mal explodierte sie dort, wie eine abgefeuerte Rakete, und atmete unter Wasser mühevoll weiter.
Das hölzerne Brückchen erhob sich, und seine Einzelteile stoben über die Felder.“

Manchmal hört sich Kulbaks Sprache dabei an, als würde er einem Kind ein Märchen erzählen. So einfach, so bildreich, so säuselnd. Und steht damit stark im Kontrast zum Erzählten. In dieser Spannung zwischen Sprachgestaltung und Inhalt entfacht er eine starke Wirkung auf den Leser. Ich bin davon sehr beeindruckt. Es ist ein großer Sprachgenuss!
Dabei stellt er noch ganz nebenbei die wichtigsten Fragen der Menschheit. So gibt es dann beispielsweise ein ganzes Kapitel lang einen Monolog über philosophische Fragen über das Sein, das Existieren, die Erkenntnis und Markus alias Kulbak hat kluge Ideen dazu.

„Weil Sein heißt: Sich selbst in der Welt zu erkennen, und Erkennen heißt: sich der Realität stellen, aber Kampf ist gerade das Selbstverschließen, die Spaltung, die Aktivität von etwas gegen etwas. Und weil der Verstand ein Mittel des Menschen im Kampf ist, ist er kein Mittel für die Erkenntnis;“

Bei einem Blick auf die Biografie von Moyshe Kulbak stellt man fest, dass er selbst auch Lehrer war, dass ihm Wissensaneignung und Wissensvermittlung ausgesprochen wichtig war. Kulbak wurde in Vilnius 1896 geboren, ging als Lehrer nach Minsk und später auch für kurze Zeit nach Berlin, wo er im Romanischen Cafe auch auf Elke Lasker-Schüler traf. Zurück in Minsk widmete er sich ausschließlich dem Schreiben von Romanen und Lyrik und war in der jiddischen Literatur sehr bekannt. Bereits 1937 starb er durch die Hand des Regimes. Man warf ihm vor nicht sozialismuskonform zu schreiben.

Ähnlich wie Kulbak ist der Held Markus zerrissen zwischen der „alten“ Ordnung und der neuen Welt. Wie kann Religion einher gehen mit der kommunistischen Ideologie? Viele der neuen Ideen gefielen ihm, doch eben nicht alle. Wo blieb Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Für die vielen Juden, die zu seiner Zeit in Russland lebten gab es diese Ideale bald schon nicht mehr. Immer wieder kam es während der Revolutionen auch zu antisemitischen Progromen. Im Roman wird Markus schließlich so etwas wie ein Messias der Armenleute, die, die immer Montags durch die Viertel zogen und um Almosen baten. Ein langes Leben war ihm damit nicht beschieden …

„Die Armenleute standen unten auf dem Gässchen und weinten. Tränen eines wohligen Schmerzes ergossen sich in ihre Bärte. Es war, so zeigte es sich, wirklich Montag, der Tag der Erlösung.“

Sophie Lichtenstein, die das Werk aus dem Jiddischen übersetzte, hat dem Roman ein aufschlussreiches Nachwort angefügt, in dem sie über die Biografie des Autors schreibt und über die Entstehung seines Werkes. Die verwendeten jiddischen Wörter werden im Anhang erläutert. Das Buch erschien in der Edition fotoTAPETA zum achtzigsten Todestag des Autors. Ich kann Buch und Verlag sehr sehr empfehlen – sehr außergewöhnlich! Ein Leuchten!
Und als Lyrikerin freue ich mich sehr auf den im Herbst erscheinenden Gedichtband von Moyshe Kulbak.