Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee Hörbuch Hamburg


Nach „Im Frühling sterben“ und Der Gott jenes Sommers“, beide hier auf dem Blog besprochen, folgt der letzte Teil der Trilogie, deren Bände auch gut einzeln gelesen werden können. Jeder ist in sich abgeschlossen. Trotzdem war ich gespannt, wie die Geschichte ihren Abschluss findet. Aus Gründen habe ich mir die Geschichte wieder vorlesen lassen.

Die Geschichte ist in zwei Stränge aufgeteilt, die auch von zwei Sprechern interpretiert werden. Abwechselnd hören wir von einem jungen Mädchen auf der Flucht vor den Russen nach Nordwesten gegen Ende des zweiten Weltkriegs. Diesen Strang liest Markus Hoffmann (mitunter etwas pathetisch). Den zweiten Strang, in dem die Geschichte von Elisabeth und Walter, die schon Hauptfiguren in den beiden vorigen Büchern waren, weitergeführt wird, liest Nina Petry. Ihre Stimme, die auch manchmal den norddeutschen Tonfall trifft, passt ganz wunderbar und gefällt mir auch besser als die männliche.

Der Titel des Romans Die Nacht unterm Schnee passt zur Fluchtgeschichte, die tatsächlich im Winter unter schwersten, grausamen Bedingungen stattfindet. Sie ist in die eigentliche Geschichte in kurzen Zwischenepisoden eingefügt. Tatsächlich hätte ich lieber auf die genauen Schilderungen der sexuellen Gewalt verzichtet, so dass ich auch zum allerersten Mal für ein Buch eine Triggerwarnung ausspreche.

In der eigentlichen Geschichte, die rückblickend von Luisa erzählt wird, die wir aus dem letzten Roman kennen, begegnen wir Elisabeth, Liesel, wieder, die im Kieler Hafen in der Gaststätte von Luisas Eltern arbeitet. Luisas Vater lebt nicht mehr und die Mutter stellt Elisabeth schließlich sogar als Geschäftsführerin ein, weil sie so gut in ihrer Arbeit und so beliebt ist. Liesel ist mit Walter verlobt, der nördlich von Kiel auf einem Hof als Melker arbeitet, wie vor dem Krieg. Sie ist scheinbar kein Kind von Traurigkeit zumindest sieht es von außen so aus. Nach einem Suizidversuch, der für alle überraschend kommt, zieht sie zu Walter auf das Gut und bekommt ein Kind. Die Arbeit ist hart und oft sehnt sie sich nach der Stadt.

Nebenbei erfahren wir von Luisas Abitur, den ersten Liebeserfahrungen und schließlich dem Studium der Bibliothekswissenschaft. Sie verliebt sich in ihren Dozenten und die beiden werden ein Paar, obgleich er wesentlich älter ist. Luisa erhält einen Hilferuf von Elisabeth, die wegen einer komplizierten Schwangerschaft die schwere Arbeit auf dem Hof nicht mehr machen kann und fährt kurzerhand aufs Land zu Walter um zu helfen. Elisabeths Tochter wird mit einer leichten Behinderung geboren, Walter wirft ihr vor, dass das von ihrem vielen Trinken und Rauchen herrühre. Doch es gibt zu dieser Schwangerschaft noch weitere Geheimnisse …

Während Luisa und Richard in Kiel ein recht gutes Leben leben, kommen Walter und Elisabeth nie aus ihren Traumata heraus. Nach der Geburt des zweiten Kindes verließen sie den Hof und zogen in den Ruhrpott, wo sie nun zwar eine bessere Bleibe und neue Arbeit finden und doch immer weiter unglücklich miteinander bleiben. Walter schuftet im Stollen und Elisabeth wird Hausfrau und sucht Ablenkung bei Festen und Feiern. Sie kann ihre schrecklichen Erlebnisse nie verarbeiten, trinkt und raucht, schlägt die Kinder und beim Ausgehen über die Stränge.

„Ihr war kaum zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen.“

Aus der Geschichte, die Rothmann Luisa aus der Erinnerung heraus erzählen lässt, höre ich mitunter einen klassistischen Ton heraus, obwohl sie die Ereignisse rückwirkend durchaus reflektiert betrachtet. Luisa, die studierte Akademikerin und Elisabeth, die Kellnerin mit Walter, dem Arbeiter. Möglicherweise, ich bin mir da nicht schlüssig, liegt es auch an der Interpretation Nina Petrys, die die Stimmlage der beiden Frauen sehr unterschiedlich klingen lässt.

Mir ist die Geschichte an vielen Stellen viel zu intim, viel zu intensiv. Rothmann schreibt über seine eigenen Eltern und mich wundert, dass er es in solch einer Weise tut. Seine Sprache ist so dicht an den Protagonisten dran, dass ich beim Hören immer wieder Pausen machen muss. Was andernorts in Kritiken bewundert wird, empfinde ich als grenzüberschreitend. Es fühlt sich für mich an, als dürfe diese Geschichte nicht in die Welt. Aber das ist meine persönliche Empfindung, die mich selbst erstaunt. Es wundert mich, dass diese Art mir nicht bei den beiden vorigen Bänden auffiel. Oder waren diese tatsächlich anders geschrieben? Bin ich angesichts des schlimmen aktuellen Geschehens empfindlicher geworden?

Das Hörbuch erschien bei Hörbuch Hamburg, der Roman bei Suhrkamp. Eine Hörprobe gibt es hier.

Weitere Besprechungen gibt es unter anderem auf dem Blog Zeichen & Zeiten und bei Kommunikatives Lesen.

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Thomas Hettche: Herzfaden Kiepenheuer & Witsch Verlag

„Eine Insel mit zwei Bergen …“ und „Tief unter der Erde, da ist es schön …“
Seit ich Thomas Hettches „Herzfaden“ las, habe ich dauernd Ohrwürmer. Ich glaube, an Weihnachten kamen sie immer im Fernsehen, die neuen Geschichten der Augsburger Puppenkiste. Als Kind freute ich mich auf jede neue Folge. Sei es Jim Knopf oder das Urmel, Kalle Wirsch oder die Blechbüchsenarmee, später auch Schlupp oder die Dschungeldetektive. Thomas Hettche hat nun einen Roman über die Augsburger Familie Oehmichen, die Gründer der Puppenkiste geschrieben. Äußerlich schön anzusehen in Leinen gebunden und mit Illustrationen, dazu farbigem Druck. In Rot und Blau sind die zwei Erzählstränge unterteilt (wobei ich das Rot beim Lesen anstrengend für die Augen empfand).

Hettche beginnt mit dem „roten“ Erzählstrang, in dem ein 12-jähriges Mädchen nach dem Besuch eines Theaterstücks mit dem Vater, verschwindet. Es entdeckt eine Geheimtür, die durchs Dunkle auf einen geheimnisvollen Dachboden führt. Ähnlich wie bei Alice im Wunderland, öffnet sich hier eine ganz neue Welt. Die Welt der Marionetten und der Phantasie. Das Mädchen wird selbst klein wie eine Marionette und begegnet Hatü, der Puppenspielerin und vielen der bekannten Gestalten der Puppenkiste. Hatü erzählt ihre Geschichte:

So landen wir im zweiten „blauen“ Strang und treffen Hannelore, genannt Hatü, im Kreis ihrer Familie. Zu Beginn wird die Ferienidylle der Oehmichens auf dem Land jäh unterbrochen, weil der Vater einen Einberufungsbefehl bekommt. Der Krieg hat begonnen. Hatü und ihre Schwester Ulla sind 9 und 10 Jahre alt und werden den Rest ihrer Kindheit im Krieg verbringen. Die Mädchen verstehen noch nicht alles, was passiert. Doch dass die alte Frau Friedmann und eine Schulkameradin verschwinden, weil sie Jüdinnen sind, verwundert sie schon. Der Vater, ein Schauspieler am Augsburger Theater, kehrt zurück und übernimmt, als unverzichtbar eingestuft, die Reichskammer-Theaterleitung. Weihnachten 1941 bekommen die Schwestern vom Vater Marionetten geschenkt. Hatü ist fasziniert davon. Mit dem Vater zusammen spielt sie noch während des Krieges vor der Familie und Bekannten ein improvisiertes privates Marionettenstück. Mir scheint, aus allem, was ich herauslese, dass die Familie eher zu den privilegierteren Bürgern gehörte. Erst als die Allierten deutsche Städte angreifen, wird der Vater noch einmal eingezogen. Doch die Familie übersteht alles und beginnt mit dem Neuaufbau einer echten Marionettenbühne – das Stadttheater hat die Bombadierungen nicht überstanden.

„Und wie der Vater eines Tages wieder in Uniform vor ihnen stand und dann nicht mehr da war. Und dass sie selbst seitdem das Gefühl hat, erwachsen zu sein, ohne zu wissen, was das bedeutet. Nur, dass es sich anfühlt wie ein bitterer Geschmack im Mund, weiß sie. Dass sie keine Schuld hat und sich doch schuldig fühlt. Dass sie nichts Falsches getan hat und doch alles falsch ist.“

Nun wird abwechselnd mit der Geschichte des Mädchens auf dem Dachboden die Geschichte des steten Wachstums und des Erfolgs der Augsburger Puppenkiste erzählt. Die Geschichte spannt sich von ca. 1939 bis in die 60er Jahre. Hatü steht dabei in beiden Erzählsträngen im Mittelpunkt. Die Geschichte der Familie zeigt auf, welch große Veränderungen, oft angekurbelt mithilfe der Amerikaner, in den Nachkriegsjahren ihren Lauf nehmen. Der Vater und Hatü brennen vor Leidenschaft für ihr Projekt und entwickeln nach und nach neue Stücke. Beide sind die tragenden Säulen, doch auch das Personal wächst. So werden außer Märchen dann auch „Der kleine Prinz“ und später Michael Endes „Jim Knopf“ erfolgreich aufgeführt. Schließlich kommen die Verfilmungen mit dem Aufkommen der Fernsehapparate. Der Roman erzählt damit auch viel über das Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahre in Deutschland, ohne dabei allzu politisch zu werden. Nur einige der jungen Mitarbeiter der Bühne, beschäftigen sich kritisch mit den Männern, die schon im Nationalsozialismus und nun auch wieder in der neuen Republik das Sagen haben. Überall zeigt sich die allgemeine Verdrängung, sowohl im Privaten, als auch im öffentlichen Raum. Die märchenhaften Stücke der Marionettenbühne bieten dabei für viele Menschen, nicht nur für Kinder, eine gute Möglichkeit, dem Alltag und der Last der Vergangenheit zu entfliehen. Mit Stücken wie „Faust“, „Der kleine Prinz“ und „Jim Knopf“ wird das Programm aber auch gesellschaftlich relevanter und kritischer. (Wer beispielsweise heute über Jim Knopf herzieht, sollte sich den Text mal im Kontext der Zeit anschauen.)

Hettche hat einen guten biographischen Roman geschrieben, wobei mir der „rote“ Strang, der im Heute spielt, eher als spärlich und nur als Halterung der tatsächlichen Geschichte erscheint. An „Pfaueninsel“ kommt der Herzfaden meiner Meinung nach nicht heran.

Der Roman erschien im Kiepenheuer & Witsch Verlag und war 2020 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

 

Benjamin Myers: Offene See Dumont Verlag

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Auf der Bestsellerliste also. Platz 13. Eigentlich finden sich selten richtig gute Romane auf der Bestsellerliste. Dann schon eher an der SWR-Bestenliste orientieren, denke ich. Trotzdem bestellte ich „Offene See“ in meiner Bibliothek vor, um zumindest hineinzulesen. Die Welle auf dem Cover lockte. Gleich auf den ersten Seiten scheint mein Eindruck bestätigt: Gewollte missglückte Metaphern – so etwas ist für mich schwer erträglich:

“ … und ich kam an Kühen vorbei, deren Euter, wie Partyballons herumbaumelten“ […] und deren Rippen hervortraten wie die Rümpfe von gestrandeten Booten.“

oder

„Das graue Meer brüllte in der Ferne wie ein Fußballstadion, das eine Fehlentscheidung in der Nachspielphase erlebt, …“

Ich sehe in der Biographie des Autors, dass er auch Lyrik schreibt. Na gut. Vielleicht kann er das besser. Und doch lese ich weiter, irgendetwas lockt. Die Dialoge sind auch gut gelungen. Und sehr spät, auf Seite 148, kriegt er mich dann. Kein Wunder: es geht um ein gefundenes Manuskript einer Lyrikerin. Und wie Benjamin Myers da beschreibt, wie ein 16-jähriger das Gedichtelesen für sich entdeckt, was er dabei erlebt, das trifft es schon sehr gut. Das kann ich nachvollziehen. Als ich die genannte Dichterin google, erfahre ich, dass es sie tatsächlich gab: Romy Landau, 1912 in Bayern geboren, später in England lebend und erfolgreich mit ihrem Debütlyrikband von 1936 „The Emerald Chandelier“, doch als Deutsche mit Beginn des Zweiten Weltkriegs ausgegrenzt. Ihr Manuskript „The Offing“, nach dem dieser Roman benannt ist, erschien posthum.

„Bis zu diesem Sommer war Lyrik eine Geheimsprache gewesen, die nur von vornehmen Leuten gesprochen wurde, […]
Jetzt jedoch tat sich mir dieses geheime Universum durch die Gedichte, die ich im Atelierhaus las, jeden Abend etwas weiter auf, und nirgends mehr als in den Worten, die John Clare, Landarbeiter und Prophet der Scholle, über ein Jahrhundert zuvor geschrieben hatte.“

Der 16-jährige Robert erlebt den 2. Weltkrieg in Nordengland in einer Bergbaustadt und geht kurz nach dessen Ende 1946 auf eine Wanderung. Er will in die Natur, er will ans Meer, bevor er wie schon der Vater und Großvater zuvor Grubenarbeiter werden wird. Etwas in ihm sträubt sich gegen diesen vorgegebenen Lebenslauf. Auf einem kleinen Cottage an der Westküste begegnet er schließlich nach langem Wandern der weltoffenen Dulcie, die allein mit ihrem Schäferhund lebt und trotz der Nachkriegsarmut, die überall herrscht, über große Lebensmittelvorräte verfügt. Zwischen den beiden entwickeln sich Gespräche, die Robert zum Nachdenken anregen, die ihn auf Gedanken bringen, auf die er in heimatlicher Enge nie gekommen wäre. Er hilft ihr mit Arbeiten auf dem Grundstück mit Meerblick und sie kocht für ihn und bringt ihm manche Lektüre nahe.

Als Robert das kleine Gartenhaus, das Atelier, renoviert, entdeckt er ein Manuskript, liest die Gedichte und versenkt sich hinein. Hier spürt er zum ersten Mal, was es mit Gedichten wirklich auf sich haben könnte (unter anderem liest er auch John Clare, von dem ich hier bereits einen Band besprochen habe). Nach und nach erzählt ihm Dulcie von der Herkunft des Manuskripts …

Und hier an dieser Stelle wundere ich mich ein wenig. Ein Roman, in dem es um Lyrik geht auf der Bestsellerliste? Okay. Wahrscheinlich liegt es an der bezaubernden Landschaft, am Nature Writing„, was ja sehr beliebt ist und hier mit Ausnahmen (siehe oben) ja durchaus funktioniert. Und doch wünsche ich mir sehr, dass die, die das Buch gekauft und damit auf die Bestsellerliste gebracht haben, auch entflammen und sich wie Robert mutig ans Lyriklesen wagen. Und wenn dann ein Bruchteil davon ähnliche Initiationserlebnisse hätte wie er, wäre schon viel gewonnen. Denn Lyrik ist ein Geschenk, Lyrik birgt Geheimnisse, die man in keinem Roman findet. Lyrik leuchtet und dieses Buch insofern schlussendlich mit ihr!

Der Roman des 1976 geborenen Engländers Benjamin Myers erschien im Dumont Verlag. Übersetzt haben ihn Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Ulrich Alexander Boschwitz: Menschen neben dem Leben Hörbuch Der Audio Verlag

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Der 1915 in Berlin geborene Autor Ulrich Alexander Boschwitz hat nicht viel schreiben können, denn er starb früh mit 27 Jahren. Mit nur 20 schrieb er diesen ersten Roman im skandinavischen Exil, wohin er als Jude mit der Mutter 1935 geflohen war. Das Buch war erfolgreich und so konnte er sich ein Studium in Paris leisten. Doch die Flucht ging weiter nach England, wo man ihn aber nach Kriegsbeginn zunächst internierte und dann in eine Strafkolonie nach Australien brachte. Dass sein Schiff auf der Rückreise aus der Gefangenschaft 1942 von einem deutschen Boot versenkt wurde, ist bittere Ironie des Schicksals. Sein zweiter und leider letzter Roman „Der Reisende“ von 1939 wurde bereits im vorigen Jahr von Wiederentdecker Peter Graf herausgegeben. Ich kann beide sehr empfehlen.

Da eine Reise mit dem Auto anstand und ich beim Fahren gerne Hörbücher höre, hatte ich mich diesmal für das Hörbuch entschieden.

Boschwitz`Debütroman spielt im Berliner Lumpenproletariat anfangs der 30er Jahre: Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Kriegsversehrte, Armut.

„Ein alter Mann betrat den Keller, und Schreiber betrachtete ihn erstaunt. Er war bei seinen Kunden keine große Eleganz gewohnt, aber dieser Mann war nicht bekleidet, sondern behangen. Um seine Schultern schlotterte ein viel zu weites Jackett. Die ehemals wohl amerikanisch geschnittene Sporthose, jetzt eine farblose
Menge Stoff, war viel zu breit und verhüllte sackartig seine Beine. Der ehemalige Besitzer musste ein gut beleibter, großer Mann gewesen sein. Denn anders ließ sich
die Differenz zwischen Träger und Getragenem nicht erklären. Dieser hier war klein, und wenn er ging, so hatte es den Anschein, als würde er einen Rock statt Hosen tragen. Der Schritt reichte ihm bis zu den Knien und die offensichtlich zu langen Hosenbeine waren so abgeschnitten worden, dass sich zahllose Fransen gebildet hatten. Dazu trug er einen Hut, der ihm recht gut passte und das Lächerliche und Vogelscheuchenartige seiner übrigen Erscheinung nur noch mehr hervorhob. Sein Gesicht war gelb und knochig. Mit matten Augen sah er sich in dem Raum um.“

Fundholtz lebt vom Betteln. Zusammen mit dem dicken „Tönnchen“, einem geistig Zurückgebliebenen, den er unter seine Fittiche genommen hat, schlägt er sich durch die Straßen, immer auf der Suche nach einer Bleibe für die Nacht und etwas zu essen. Oft dabei: der arbeitslose Grissmann, vormals Straßenbahnschaffner, der sich mit allerlei kleinen Gaunereien ein Zubrot zur Stütze verdient. Der Leser/Hörer begleitet die drei durch die Stadt und lernt so diverse weitere typische Berliner Zille-Milljöh-Gestalten kennen, wie etwa den Gemüsehändler, der seinen miefigen, feuchten Keller als Absteige vermietet. Oder die Kriegswitwe Fliebusch, die immer noch auf ihren gefallenen Mann Wilhelm wartet. Es taucht der kriegsversehrte Blinde Sonnenberg auf, der sich mit dem Verkauf von Zündhölzern über Wasser hält, im Gefolge seine Frau Elsie, eine die früher „Tippeln“ ging, sprich als Prostituierte auf der Straße arbeiten musste. Der Zuhälter Wilhelm, der nach einer auskurierten Krankheit nicht wieder in die Gilde seiner Zunft zurückkehren, sondern richtig arbeiten will und die junge Hermine, Minchen, die sich von reichen, älteren Männern finanzieren lässt und mit dem Geld auch ihrem Vater, einem ehemaligen, nun entlassenen Bezirksrichter, zuhilfe kommt. Sie alle landen abends oft im „Fröhlichen Waidmann“, einer Kneipe mit Tanzsaal, um den Alltag und ihr wenig frohes Dasein hinter sich zu lassen, beim Tanzen oder beim Trinken. Dort kommt es schließlich auch zu einem Showdown zwischen dem Blinden und Grissmann, als Elsie mit diesem tanzt und turtelt.

Der Roman erinnert an Döblins Berlin Alexanderplatz, an Kästners Fabian, an Tergitts Käsebier und an Brechts Dreigroschenoper, steht aber doch ganz für sich. Boschwitz hat einen Blick für die „kleinen Leute“. Seine Sprache ist nicht so derb, wie bei Döblin oder Brecht. Er wendet sich fast liebevoll seinen Figuren zu, die er typgerecht ausgearbeitet hat. „Menschen neben dem Leben“ ist ein ausgezeichnetes Zeitdokument. Schlimm ist es allerdings, dass die Geschichte fast gleich auch in heutiger Zeit spielen könnte, denn auch in unserer Wohlstandsgesellschaft müssen Menschen immer noch betteln und obdachlos leben.

Das Hörbuch  aus dem Audio Verlag ist ungekürzt (7,46 Stunden) und aus- und eindrucksvoll gelesen von dem Schauspieler Hans Löw. Auch das informative Nachwort von Peter Graf ist beim Hörbuch dabei. Eine Hörprobe gibt es hier.

Annette Hess: Deutsches Haus CD Hörbuch Hamburg

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Die Schauspielerin und Sprecherin Eva Meckbach hat für ihre Lesung des Hörbuchs „Deutsches Haus“ von Annette Hess den Deutschen Hörbuchpreis als „Beste Interpretin“ 2019 erhalten.

Das kann ich beim Hören gut nachvollziehen. Die Schauspielerin, die auch stetes Mitglied in der Berliner Schaubühne ist, macht ihre Sache gut. Glaubwürdig verkörpert sie die Stimme der weiblichen Hauptperson, schafft es aber auch die anderen Stimmen gut klingen zu lassen. Was mich bei männlichen Vorlesern oft stört, die weibliche Figuren, um sie zu unterscheiden, immer in unmöglich hoher unnatürlich betonter Stimmlage präsentieren, passiert hier nicht. Das ist mehr als angenehm.

Annette Hess` Geschichte spielt in Frankfurt am Main im Jahr 1963. Die Heldin Eva kommt aus einer Mittelschichtsfamilie, die Eltern führen ein Gasthaus, eben das „Deutsche Haus“, der Vater kocht, die Mutter macht den Service. Eva ist gelernte Dolmetscherin und auf dem Sprung in ein anderes Leben, nämlich in eine Ehe mit dem wohlhabenden Versandhausbesitzerssohn Jürgen. Als sie zum Dolmetschen in einem Gerichtsprozeß angefordert wird, ändert sich für Eva nach und nach alles. Zum ersten Mal erfährt sie in aller Deutlichkeit und Direktheit von den Greueltaten der Nazis, denn es ist der erste Auschwitzprozeß, der 20 Monate dauert und der für großes Aufsehen sorgt. Sie, die für die polnischen Augenzeugen übersetzt, kommt dadurch ganz nah an die unfassbaren Geschehnisse heran, von denen sie bisher so gut wie nichts wusste. Die Familie und auch Jürgen insistieren, sie solle diese Arbeit nicht annehmen, doch etwas in Eva drängt der Wahrheit entgegen. Sie erinnert plötzlich Szenen ihrer eigenen Kindheit, die in Verbindung zu stehen scheinen, mit dem, was sie hier hört. Warum konnte sie als Kind schon polnische Wörter? Warum hat sie diese Sprache für ihre Dolmetscher-Ausbildung gewählt? Die Eltern ignorieren zunächst die Fragen ihrer Tochter nach deren Vergangenheit. Nach und nach zeigt sich, wie verwickelt die eigene Familie in diese „alten Geschichten“ ist, die fast durchweg von der deutschen Bevölkerung verdrängt wurden.

Als Evas künftiger Mann ihr die Arbeit verbietet, löst sie die Verlobung. Eine Delegation des Gerichtsprozesses fährt nach Auschwitz, um sich der Richtigkeit der Standorte zu versichern und damit die Aussagen der Zeugen und der Angeklagten zu bestätigen. Eva ist dabei und sieht nun auch den Ort, den sie offensichtlich bereits in ihrer Kindheit kannte …

Die Autorin arbeitet ihre Figuren, vor allem Eva sehr gekonnt heraus, Eva wird beim Zuhören lebendig. Man merkt, dass Hess für den Film als Drehbuchautorin arbeitet: von ihr stammen die Fernsehserien „Kudamm“ und „Weissensee“. So steht hier auch nicht die Sprache im Vordergrund, sondern die Wirksamkeit der erzählten Story. Und die funktioniert auch überwiegend. Einige wenige Male gelangt sie allerdings nahe an die Grenze zum Unglaubwürdigen, weil sie ein wenig zuviel hinein packt. Insbesondere die Geschichte von Evas älterer Schwester wirkt überzogen und hätte gut weggelassen werden können.

„Was haben Mutti und Vati denn gemacht? Eva antwortete, „Nichts“. Wie sollte sie ihrem Bruder erklären, wie richtig diese Antwort war?“

Schlussendlich: Die Heldin Eva wird von einer relativ unbedarften jungen Frau zu einer verantwortungsbewussten, selbständigen, reflektierenden Persönlichkeit. Wenngleich sie die einzige, sich entwickelnde in der Familie bleibt …

Das Hörbuch erschien bei Hörbuch Hamburg. Es handelt sich um eine gekürzte Lesung.
Mehr über den Deutschen Hörbuchpreis und die Preisträgerin auf der offiziellen Seite:
https://www.deutscher-hoerbuchpreis.de/dhp-2019/detailansicht/preistraeger/?no_cache=1&hbuid=3590

Leseprojekt Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl von Uwe Johnson Suhrkamp Verlag

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Letztes Jahr am 20. August hat es begonnen: Jeden Tag einen Jahrestag. In dieser Dosis jeden Morgen gelesen, fand ich die Jahrestage geradezu ideal als Einstieg in meinen eigenen Tag. Angefangen hat das Vorhaben mit den Aktivitäten des Suhrkamp Verlags zum 50-jährigen Jubiläum mit einer vierbändigen Ausgabe im Schuber. Den ganzen Schuber traute ich mich nicht zu kaufen, da ich mir nicht sicher war, ob ich mit Johnsons sehr eigener Sprache klar kommen würde. Doch es war ein Ereignis und anhand der Lektüre spürte ich die Zeit vergehen, spürte die davon rasenden Tage, merkte wie schnell ein Jahr vergeht.

Zahlreiche Beiträge haben mich neugierig gemacht auf diese Chronik, die genau ein Jahr umfasst, und eigentlich im Jahr 1967/68 in New York spielt. Eigentlich, weil Johnson seine Hauptprotagonistin Gesine Cresspahl in wiederkehrenden Erinnerungsschleifen an ihre deutsche/mecklenburgische Kriegs/Nachkriegsbiografie denken lässt, animiert von der neugierigen, und oft auch altklugen 10 später 11-jährigen Tochter Marie, die natürlich vor allem die Ereignisse um den Tod ihres Vaters Jakob interessieren.

„Sie ist jetzt vierunddreißig Jahre. Ihr Kind ist fast zehn Jahre alt. Sie lebt seit sechs Jahren in New York. In dieser Bank arbeitet sie seit 1964.“

Die beiden leben nahe des Hudson am Riverside Drive. Gesine arbeitet in einer Bank, steigt sogar auf von einem Übersetzerinnenjob bis in die Chefetage und das obwohl sie eine Frau ist. Marie geht in eine katholische Mädchenschule und hinterfragt Dinge, die mich wundern lassen, ob sie wirklich erst 10/11 Jahre alt ist. Meiner Ansicht nach übertreibt Johnson da ein wenig, was die Klugheit und Reflektiertheit von Marie angeht.

Die „Tante“ New York Times spielt in Gesine und Marie Cresspahls Leben eine wichtige Rolle. Sehr schön zu lesen, wie wichtig damals noch Tageszeitungen waren, um an Informationen zu gelangen. Es ist zudem die Zeit des Vietnam-Kriegs, von dem die Times regelmäßig berichtet und von anderen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen in der Welt. Es ist die Zeit des Kalten Krieges in Europa.

Der Leser verfolgt mit Marie und Gesine („Dschisaini“) das Attentat auf und den Trauermarsch für J.F. Kennedy und das Attentat auf Martin Luther King und die anschließenden Unruhen in der schwarzen Bevölkerung. Ich schrecke immer ein wenig auf, wenn ich lese, wie unbedenklich Uwe Johnson das Wort Neger benutzt. Das war damals üblich in den USA und es gab auch die bestimmten Viertel, in die Marie eigentlich nicht gehen sollte. Dennoch hat Marie besten Kontakt zum schwarzen Portier und sie schafft es nach einiger Zeit näheren Kontakt mit der einen einzigen farbigen Klassenkameradin (die „Quotennegerin“) aufzunehmen.

„1968, zu Anfang unseres achten Jahres in der Stadt, höre ich zwei negerhäutige Herren vor mir reden an der Bushaltestelle 97. Straße, ohne sie belauschen zu wollen.“

Marie erklärt den Samstag zum „Tag der South Ferry“, er wird immer Ausflugstag bleiben, eh sei denn D.E. ist zu Besuch und hat andere Vorschläge. D. E. ist der potentielle Ehepartner und bester Freund von Gesine und Marie und stammt ebenfalls aus dem Mecklenburgischen. Er arbeitet für eine finnische Firma und ist ständig auf Reisen.

Die Rückblicke in die Kinder- und Jugendzeit von Gesine sind spannend und aufschlussreich. So wird von Gesines tragischer Kindheit erzählt: Die Mutter kommt zu Tode im Feuer, man munkelt von Selbsttötung. Tatsächlich war die sehr religiöse Frau extrem streng und geizig ihrer Tochter gegenüber und litt an Depressionen.

Die Leserin erfährt, wie die Vor- und Nachkriegszeit sich in einem Dorf in Mecklenburg anfühlte. Wie Menschen mit der Besatzung der „Ostzone“ klar kommen mussten, wie ehemalige Nazis plötzlich zu glühenden Kommunisten wurden. Gesines Vater, der im Krieg für die Engländer spionierte, wird Bürgermeister unter den Sowjets, kurz darauf in den Karzer geworfen und für viele Jahre weggesperrt und kommt gebrochen wieder heraus. Gesine wächst bei Bekannten heran und verliebt sich schon als Mädchen in Jakob. Doch der hat dafür zunächst kein Auge.

Mit dem nahenden Ende der Geschichte, kommt wieder ein Sprung zurück in Gesines Schulzeit in der DDR bis zum Abitur. Vom Blauhemd über Pioniertuch bis zur Freundschaft mit Anita, die auch später mit Gesine in Kontakt bleibt und zur vorgetäuschten Liebschaft mit Pius, der später in der neugegründeten Volksarmee Lorbeeren sammeln wird. Es dauert lange, bis Johnson von der Beziehung zwischen Gesine und Jakob erzählt. Und bis schließlich Marie geboren wird.

Gleichzeitig geschieht im aktuellen Leben ein bedeutender Schicksalsschlag, D. E. betreffend, der nicht so leicht zu verkraften sein wird, der aber seltsamerweise von Johnson sehr knapp abgehandelt wird (ebenso wie Jakobs Ableben).

„Marie hat sich verkuckt in die Chinesen von San Francisco, an die einverstandene Art, mit der das Auge des Durchreisenden die gelben, schwarzen und rosanen Leute mit einander umgehen sieht auf den Bürgersteigen, in den Seilstraßenbahnen, wo sie dem Fremden Platz einräumen nach der Gebrechlichkeit, dem Alter, in einer Kameradschaft.“

Johnsons Sprache durchziehen immer wieder Sequenzen, die im Mecklenburgischen Dialekt verfasst sind. Dann wird es schwieriger für den Leser. Den Zusammenhang versteht man aber dennoch. Auch mit Zeitsprüngen zwischen damals und heute muss man permanent rechnen. Doch auch daran gewöhnt man sich.  Für Johnsons Sprache braucht man generell ein wenig Ausdauer. Aber man hat ja 1700 Seiten Zeit. Mich hat die Lektüre sehr bereichert.

Zum Abschluß hin beginnt Johnson so etwas wie einen sehr kurzen Rückblick, indem er einzelne Ereignisse aus den Jahren der Verweildauer in New York herausgreift (So etwas, wie ein Abspann im Film oder der Film, der sich angeblich im Augenblick vor dem Tod abspult). Er beendet den Roman mit der Abreise der Cresspahls nach Prag, wo sie auf Wunsch von Gesines Chef im Namen der Bank dort eine neue Arbeit beginnen werden.

Alle Werke Johnsons, so auch die „Jahrestage“ sind im Suhrkamp Verlag erschienen. Einen schönen Einblick ins Werk erlangt man hier. Sehr ausführlich kann man sich auf der Seite der Uwe-Johnson-Gesellschaft über den Autor informieren: https://www.uwe-johnson-gesellschaft.de/

 

Ursula Krechel: Geisterbahn Jung und Jung Verlag

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In ihrem neuen Roman spielt der Geburtsort der Autorin eine zentrale Rolle. Ursula Krechel wurde 1947 in Trier an der Mosel geboren. Von hier aus schreibt sie sich in verschiedene Lebensgeschichten ein. Ihre Protagonisten sind teils frei erfunden, teils lebten sie tatsächlich. Zu Beginn des Buches führt die Autorin ihre Hauptfiguren ein, um später immer wieder im Wechsel auf sie zurückzukommen. Da ist die Schaustellerfamilie, die Sinti, die von ihrem Standort Trier aus mit dem Karussell flussab- und aufwärts zieht. Da sind die jungen Kommunisten Willi und Aurelia, Da ist der Arzt und die Hotelierstochter und der Psychologe mit seiner unscheinbaren Ehefrau und da ist immer wieder der Polizist, im Roman fortan vom Sohn und Erzähler mit MEINVATER betitelt, immer in Großschrift. Da ist gleich zu spüren, welche Vater-Kind-Geschichte darunter schwelt.

Wir erfahren jeweils von der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier bleibt Krechel auch wieder ihrem Lebens-Thema treu. Ein Großteil des Romans wird von der Zeit kurz nach dem Krieg bestimmt, wie schon im Roman „Landgericht“. Es ist schwierig diesen Roman in seiner ungeheuren Fülle für eine Rezension zusammenzufassen. Zwar ist er in fünf Kapitel unterteilt, doch hält sich innerhalb eines jeden kaum eine Struktur, eine mäandernde Sprache lässt sich auf jeden Wink hin auf Experimente ein, bezieht sich auf Welt- und Literaturgeschichte. Wir lesen von Marx, dessen Geburtshaus in Trier steht oder von Nikolaus Lenau, dem österreichisch-ungarischen Dichter, dessen ziemlich abfälliges Lied „Drei Zigeuner fand ich einmal“ im Grundschulunterricht gesungen wird und das Sinti-Mädchen Anna zum Weinen bringt:

„Der Lehrer sagte nichts, der Text stand auf der Tafel. Ännchen hatte, wie Iris, kein Taschentuch. Dann hatte Ännchen genug geweint, nun schniefte sie nur noch und gab sich einen Ruck: Mir sinn net solche Zigeuner wie die.

Inhaltlich gibt es durchaus eine chronische Abfolge, zeitweise mit Rückblenden. Jede Figur lebt, jede Person wird ernst genommen, jeder Protagonist durchlebt in Zeiten des Krieges entstandenes körperliches und seelisches Leid, das das ganze spätere Leben durchdringt. Nachkriegswachstum durch Verdrängung.

Anfangs begegnen wir der Schaustellerfamilie Dorn und lernen die Mitglieder kennen, eine große Familie, in dem jeder gebraucht wird. Als der Nationalsozialismus mit seinen Repressalien bis nach Trier gelangt, erfahren die Dorns unglaubliches Leid. Tochter Kathi wird zwangssterilisiert, Mutter Lucie wird im Lager Lublin ein Kind gebären (Ignaz), welches überlebt, während 4 andere sterben. Vater Alfons überlebt mit schweren körperlichen Behinderungen. Lucie wird später am Erlebten und am Verlust der Kinder wahnsinnig.

Die Geschwister Aurelia und Willi Torgau, die es tatsächlich gab, versuchen im Widerstand für den Kommunismus zu arbeiten. Doch beide werden in Haft und ins Lager gebracht. Aurelia verbringt 8 Jahre in Ausschwitz, überlebt das Lager. An Tuberkulose erkrankt, medikamentenabhängig stirbt sie später auch aufgrund ihrer Traumata.

„Nach Monaten kam eine Postkarte mit einer Adresse aus der sowjetischen Zone. Sie lebte, Aurelia war mit heiler Haut aus Auschwitz zurückgekommen. Was bedeutet die Haut, pergamentdünn, wenn das, was sie umspannte, Trostlosigkeit war?“

Grit, die Hotelierstochter, verliert ihren Mann im Krieg, weiß sich in der Besatzungszeit als starke Frau durchzusetzen, und bekommt später eine uneheliche Tochter, Iris.

Die Neumeisters, er arbeitet nach dem Krieg als Kinderpsychologe, sie bleibt unausgefüllt Hausfrau. bekommen ein Wunschkind, Cecilia.

In der Nachkriegszeit begegnen sich schließlich die Kinder der Hauptfiguren in der Schule, Ännchen, Ignaz, Cecilia, Iris, Kurt, Gerwin und der Sohn des Polizisten, der gut durch die NS-Zeit kam und auch im neuen System wieder bestens Fuß fassen kann. Sohn Bernhard wird später alles aufschreiben, er ist derjenige, der recherchiert und der Erzähler der vorliegenden Geschichte. Sie wachsen zusammen auf und scheinen später sehr viel bessere Möglichkeiten zu haben. Doch die Kriegstraumata sind so leicht nicht abzulegen. Sie müssen aufgearbeitet werden.

„Und wenn ich über Iris, Cecilia, Gerwin, Kurt und mich nachdachte: Man hatte etwas anderes von uns erwartet. Wir erfüllten nicht die Erwartungen, die man in uns gesetzt hatte.“

Krechel schafft wieder vorzüglich, die Stimmung der Nachkriegszeit einzufangen, den Aufbruch, die Verdrängung, den Kleinstadtmief, das Gerede, die Gerüchteküche, die Entrüstung, wenn eine Frau allein ein uneheliches Kind aufzieht, der weiterhin schwelende Hass auf die Sintifamilie, die trotz aller Widrigkeiten später eine Gastwirtschaft eröffnet, also sesshaft wird, das Familienleben unter der Knute des Katholizismus, der Verhütungsmittel oder Schwangerschaftsabbruch verbietet und die Frau brav ins Haus verbannt. Ihre schwungvolle Sprache, das mitunter Lyrikhafte, Kunstvolle unterstützt durch Varianten und Wiederholungen bestärkt die jeweiligen Stimmungen.

Gegen Schluss, je mehr die Gegenwart eintritt, wird es zeitweise etwas langatmig, abwegig, teils kitschig. Es ist der schwächste Teil des Romans und zählt zum Glück nur an die 40 Seiten von 640. Das ist verzeihlich und ändert nichts am Ergebnis: Krechel ist erneut ein mächtiger, absolut dichter, sprachlich wie inhaltlich beeindruckender, wichtiger Roman gelungen. Große Empfehlung!

Das Buch erschien im Verlag Jung und Jung, wie bisher alle Romane und auch die feine Lyrik. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Weiteres hier auf dem Blog zum Thema Sinti und Roma:
Zoni Weisz erzählt seine Biografie
Der Sonnenwächter von Charles Haldeman

Annie Ernaux: Die Jahre Suhrkamp Verlag

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„Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“

Es ist eine Biografie, obgleich kein einziges Mal das Wort ich benutzt wird. Es ist eine indirekte Biografie, die aus den äußerlichen Gegebenheiten einer Vergangenheit das Bild einer Person zusammenfügt. Gleichzeitig ist es die Biografie einer ganzen Generation und ein Gesellschaftsporträt Frankreichs. Annie Ernaux wählte diese Form ganz bewußt. Sie nennt es kollektive Biografie.

Die 1940 geborene Annie Ernaux, in Frankreich weitaus bekannter als hierzulande, hat, wie man an der Banderole des Suhrkamp Verlages sehen kann, mit „Die Jahre“ einen Bestseller geschrieben. Es erschien dort bereits im Jahr 2008. Im Zuge der Frankfurter Buchmesse 2017 mit Gastland Frankreich ist das Buch auch hierzulande endlich entdeckt worden. Gehört man Ernauxs Generation ganz oder teilweise an, spricht das Buch Bände. Man erkennt sich selbst oder die eigene vergangene Welt wieder und Erinnerungen werden geweckt.

Annie Ernaux erschafft eine Kindheit, eine Jugend, eine Nachkriegswelt, in der es vor allem um Materielles geht. Um neue technische Errungenschaften, die man auf Raten oder Kredit kauft, um ein beschauliches Familienleben, weitab von den Träumen und Plänen, die eigentlich gelebt werden wollten. In diesem Fall etwa das Schreiben, das Lernen und Wissen, das anders sein wollen, das Aufstreben, das Ausscheren aus der Arbeiterfamilie.

Als die 68er Revolution beginnt, als die Studenten auf die Straßen gehen, scheint sich alles zu ändern scheint ein neues Denken zu beginnen. Es geht um die Pille, Abtreibung, die Rechte der Frau, die Emanzipation. Es geht um die sexuelle Befreiung, Selbstfindung, den kreativen Ausdruck, Landleben, Yoga etc.

„Wir, die wir in Küchen abgetrieben hatten, die wir uns hatten scheiden lassen, die wir geglaubt hatten, dass unsere Emanzipationsbemühungen es anderen leichter machen würden, waren mit einem Mal sehr müde. Wir wussten nicht, ob die Revolution der Frauen überhaupt stattgefunden hatte.“

Dann älter werdend: scharfe Blicke auf die Politik, die Veränderungen und Entwicklungen im Weltgeschehen.

„Man machte kurzen Prozess, die Sowjetunion wurde aufgelöst und in „Russische Förderation“ umbenannt. Boris Jelzin wurde Präsident, und Leningrad hieß wieder Sankt Petersburg, was auch praktischer war, so fand man sich besser in Dostojewskis Romanen zurecht.“

Ernauxs Fliesstext hat eine hohe Informationsdichte und ist spannend zu lesen. Da merkt man, welch gute Erzählerin sie ist, welch glasklaren klugen Blick sie für die wichtigen Ereignisse der jeweiligen Zeit hat. Ob Fernsehgerät, Mobiltelefon, Computer, Internet („Die Suche nach der verlorenen Zeit fand im Internet statt“): Alles wird beleuchtet. Dazu gehören auch die jeweils aktuellen Lieder, Bücher, Werbetexte, Krankheiten, Kriege etc.

Zwischendurch lässt Ernaux den Blick immer wieder konkret auf eine Einzelperson fallen, eine Frau, sie selbst, die sie anhand von Fotografien („Trouville, März 1999“) beschreibt: deren Gedanken, deren Standpunkt zu bestimmten Zeiten in der Welt. Welche Bruchstellen gab es? Wie fühlt sie sich? Diese Frau fragt sich auch immer wieder, wie sie ihr Leben schreiben könnte, verankert in eine Geschichte dieser Zeit.

„Sie will aus dem Abdruck, den die Welt in ihr und ihren Zeitgenossen hinterlassen hat, eine gesellschaftliche Zeit rekonstruieren, eine Zeit, die vor Langem begann und bis heute andauert – sie will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen.“

Gelungen ist ihr das unglaublich gut: In solch kurzer Form eine ausdrucksstarke französische Gesellschaftsgeschichte niederzuschreiben, die auch sprachlich überzeugt, das muß man Ernaux erst mal nachmachen. Ein Leuchten!

„Die Jahre“ erschien in der Bibliothek Suhrkamp, fadengeheftet, gedruckt auf feinem Papier. Das zarte Coverbild zeigt die Autorin im Alter von 20 Jahren. Übersetzt wurde das Buch von Sonja Finck. Eine Leseprobe und ein schönes Interview mit der Autorin gibt es hier.