Irene Diwiak: Sag Alex, er soll nicht auf mich warten C. Bertelsmann Verlag


Nach ihrem Romandebüt „Liebwies“ das mich sehr begeistert hat und dem zweiten Roman „Malvita“, gibt es nun von der Österreicherin Irene Diwiak einen neuen Roman: „Sag Alex, er soll nicht auf mich warten“, der sich an einer historischen Figur orientiert und der ebenso gelungen und fesselnd ist, ist jedoch aufgrund der Thematik wesentlich ernster. Es ist schon erstaunlich, wie die Autorin solch unterschiedliche Themen gekonnt meistert. Der Roman erschien bewusst am 22.2.23 zum 80. Todestag von Hans und Sophie Scholl. An diesem Februartag 1943 wurden die Geschwister beim Verteilen ihrer Flugblätter des Widerstands gegen den Nationalsozialismus an ihrer Universität in München vom Hausmeister an die Gestapo verraten. Kurz darauf wurden sie hingerichtet. Der Titel des Buches entspricht wohl den Worten, die Hans kurz nach der Festnahme einer Freundin zugerufen haben soll. Mit diesem Ende beginnt die Autorin ihren Roman.

Da muss man doch etwas tun!, und wir haben doch etwas getan, aber nie genug, niemals ist es genug, und wenn es schließlich Sophie ist, die es ausspricht: So geht es nicht mehr weiter. Wir müssen die Flugblätter auf die Universität bringen. Ja, am hellichten Tag.“

Irene Diwiak hat sich mutig eines Stoffs angenommen, von dem man niemals genug lesen kann. Zudem hat sie diesen wirklich feinfühlig und sorgfältig behandelt, nah an historischen Daten, aber eben doch fiktional eigen. Sie nimmt in ihrem Roman eine andere Perspektive ein, als die, die man sonst über die „Weiße Rose“ liest. In den meisten Büchern und Filmen ist Sophie im Fokus. Sie beginnt mit Hans Scholl, der beim Appell des Wehrsports 1941 auf den ebenfalls Medizin studierenden, aber eigentlich in Richtung Bildende Kunst orientierten Alexander Schmorell trifft. Schnell verbindet sie eine enge Freundschaft. Beide waren bereits 1940 als Sanitätsoffiziere an der Front und sind nun zunächst fürs Studium freigestellt. Sie treffen sich abends oft mit Freunden und Studienkollegen und diskutieren über Philosophie, Kunst, Literatur, Musik. Anfangs nimmt die politische Situation nur wenig Platz ein, doch als ein Architekt, der ihnen während seiner Arbeitsabwesenheit seine Räume für die Treffen zur Verfügung stellt, von den Gräueltaten der Nationalsozialisten, von der Verfolgung und Ermordung der Juden, die er mit eigenen Augen gesehen hat, erzählt, ändert sich etwas grundlegend. Es erschüttert Hans und Alex so sehr, dass sie beginnen über Veränderungen nachzudenken.

In Rückblenden erfahren wir mehr aus dem Leben und der Familie von Hans und Alex, die Zeit, die sie geprägt hat. Alexander hat russische Wurzeln und ist als kleines Kind nach Deutschland gekommen. Er hat seine russische Mutter verloren. Er studiert Kunst und hat mit Philosophie wenig am Hut. Hans, der früher ein glühender Freund des Nationalsozialismus war, in der Hitlerjugend, obwohl der Vater, durch und durch Pazifist und religiös, dies nicht erlauben wollte, denkt nun in Richtung Widerstand. Zusammen mit Alex plant er Flugblätter mit aufrüttelnden Texten.

„Ob Hans glaube, fängt der Vater donnernd an, dass es lustig sei, Krieg zu spielen, ob er denn die Unmenschlichkeit kenne, ob Hans etwa im Krieg gewesen sei oder ob das nicht viel eher er selbst gewesen sei, der Vater? Und dass es nur der Anfang sei, Andersdenkende mit der Faust zu bekämpfen, dass bald schon Gewehre und Bomben zum Einsatz kommen werden, das sei es nämlich, was dieser Hitler wolle, und ob Hans denn wirklich zu dumm sei, um das zu verstehen?“

Bald jedoch werden sie erneut als Sanitätsoffiziere ins Lazarett an der Front, diesmal nach Russland abgerufen. Alex, der Russisch spricht, findet hier Freunde und spürt, dass dies sein Heimatland ist. Er schwört, niemals zu schießen und erlebt sich als vollkommen anderer Mensch – er scheint nach Hause gekommen. Als Sanitätsoffiziere sind sie nicht so stark gefährdet, erleben aber bei einem Zwischenstopp in Warschau den Wahnsinn des Warschauer Ghettos. Als sie nach Monaten Heimaturlaub bekommen, überlegt Alex sogar, sich den russischen Partisanen anzuschließen. Eine Erkrankung verhindert das.

„Wenn sie von zerstörten Städten und Dörfern erzählen. Wenn sie erzählen, dass Russland brennt. Wenn sie erzählen, dass es ihnen nicht leidtut, dass noch mehr brennen muss, dass die Russen keine Menschen sind, kein Recht auf Leben haben, weniger wert seien als Tiere. Dann, ja, dann würde Alex ganz weit ausholen und dem Halbgefrorenen im Krankenbett ganz unverfroren ins Gesicht schlagen müssen.“

Während Alex nun eher halbherzig bei der Herstellung und Vervielfältigung der Flugblätter mitmacht, können sie einen Universitätsprofessor überzeugen mitzuwirken und Sophie wird wichtiger Teil der Gruppe. Enge Freunde schließen sich an. Besonders auch Willi, ein Mitstudent, der sich an seine christlichen Glaubensfreunde wendet. In ganz Deutschland, ja sogar bis ins Ausland versuchen sie nun neue Gruppen aufzubauen, doch es scheint als wollen sich die Menschen nicht aufrütteln lassen, als wäre es immer zu wenig, was sie tun. Stehen wirklich alle trotz jahrelangem Krieg hinter diesem fanatischen Führer? Haben die Menschen einfach nur Angst und wollen irgendwie überleben? Als Leserin stellt man sich natürlich gleich stellvertretend die Frage: Wäre ich damals so mutig gewesen und Teil des Widerstands geworden?

Obwohl man die Geschichte kennt, obwohl man weiß, wie es ausgeht, vermag die Autorin einen doch unglaublich zu fesseln. Es entsteht ein Lesefluss, fast könnte man das Buch einen Pageturner nennen. Das liegt sicher auch daran, dass wir die Hauptfiguren genauer kennenlernen und ihnen nahe kommen. Die einzelnen Charaktere sind gut herausgearbeitet. Ich bin verblüfft, wie sehr ein Perspektivwechsel gleich ein neues Licht auf das Thema wirft. Diwiaks Erzählart ist auf sprach- und inhaltlicher Ebene absolut gelungen. Große Empfehlung!

Im ausführlichen Nachwort erzählt die Autorin über ihre Herangehensweise an das Thema und über ihr Schreiben und auch wie plötzlich der Krieg während der Arbeit am Roman wieder aktuell in die Nähe rückte. Ich selbst war und bin sehr erschrocken, wie stark sich die Entwicklungen damals und heute ähneln (siehe obige Zitate) und wie wenig Menschen doch aus der Geschichte lernen. Ich werde das nie verstehen. Frieden! Peace!

Das Buch erschien im C. Bertelsmann Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Aus dem Archiv: Astrid Schmetterling: Charlotte Salomon Bilder eines Lebens Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

Astrid Schmetterling: Charlotte Salomon: Bilder eines Lebens

„C´est toute ma vie“ – „sich das Leben nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes unternehmen“

Charlotte Salomon entschied sich für das „ganz verrückt Besondere“. Sie schuf binnen eineinhalb Jahren ein riesiges Gesamtkunstwerk. Unter dem Titel „Leben? Oder Theater?“ (1940-1942) beginnt sie ihr Mammut-Projekt: Sie malte ihr Leben in über 1000 Blättern, die zudem mit Text versehen und mit Musik angedacht waren: Ein „Singespiel“, das eine wahre Meisterarbeit ist. Trotz ihres Entschlusses, sich nicht das Leben zu nehmen, war ihr Leben kurz. Sie wurde 1943 im Alter von 26 Jahren in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Bereits 2001 erschien das vorliegende Buch von Astrid Schmetterling über die jüdische Künstlerin Charlotte Salomon erstmals. Nun hat sie es neu überarbeitet. Anlass war der 100. Geburtstag von Charlotte Salomon am 16.4. Im Buch sind außer Malereien auch einige wenige Fotos der Malerin abgebildet.

Charlotte Salomon wird 1917 als Tochter des Arztes Albert Salomon und Franziska Grunwald in Berlin geboren. Sie ist ein aufgewecktes, doch von starken Stimmungsschwankungen geprägtes Mädchen. Im Alter von acht Jahren begeht ihre schwermütige (aus heutiger Sicht depressive) Mutter Suizid. Charlotte gegenüber spricht man nicht von Selbstmord. Das wird sie erst viel später von ihrem Großvater erfahren. Charlotte wird nun von Kindermädchen und den strengen Großeltern betreut. Der Vater bemüht sich, ist aber ganz in seiner Arzttätigkeit absorbiert. Eines der Kindermädchen erweckt in Charlotte die Lust auf das Zeichnen und Malen. Fortan wird diese Neigung Charlotte ihr Leben lang begleiten.

„Weibliches Sprechen, Schreiben, Malen, als zulassen anderer Blickwinkel und Deutungen, als Sprechen vom Ort der Frau aus, jenem Ort, der zugleich innerhalb der sozialen Ordnung ist und außerhalb, zugleich eingegrenzt, in die Grenzen gewiesen, und ausgegrenzt.“

Astrid Schmetterling gelingt in ihrem Band über Charlottes Leben und Kunst vor allem auch eine  weibliche Betrachtungsweise. Zusätzlich legt sie den Focus auf das Dasein als Jüdin in Zeiten des Nationalsozialismus. So verlässt Charlotte die Schule ein Jahr vor dem Abitur, wegen der zunehmenden antisemitischen Anfeindungen. Dass Charlotte es einige Zeit darauf schafft in der Kunsthochschule in Berlin angenommen zu werden, in einer Zeit in der Juden fast keine Möglichkeiten und keine Rechte mehr haben, ist allein Charlottes Tatkraft und ihrem starken Willen zuzurechnen. Selbst als sie es beim ersten Mal nicht schafft, versucht sie es ein zweites Mal. Und es gelingt. Als ihr jedoch dort ein 1. Preis aberkannt wird, eben weil sie Jüdin ist, verlässt sie sofort die Akademie.

„Es ist diese gewaltsame Realität, von der Charlotte Salomons brüchige Sprache erzählt. Gegen die nazistische Einheits- und Ganzheitsrhetorik setzte die Künstlerin Fragmentierung und Vermischung, behauptete sie mit ihrem Werk ihre Differenz, ihr Anderssein. Als Jude, als jüdische Frau, als jüdische Frau im Exil.“

In vier Kapitel gliedert Astrid Schmetterling das Buch auf: Bildteil, Vorspiel, Hauptteil, Nachwort, vielleicht in Anlehnung an ein Theaterstück.

Im umfangreichen Bildteil eröffnet sich gleich die große Ausdruckskraft der Charlotte Salomon. In ihren Malereien zeigt sie ihre besondere Eigenart – heute würde man ihre Art vielleicht in die Sparte der Graphic Novels einordnen – sie malt auf Papier mit Gouachefarbe auf einzelnen Blättern fortlaufende Ereignisse wie in einer Bildgeschichte. Nicht immer sind sie mit Text versehen. Falls doch, hat Charlotte sie mit dem Pinsel ins Bild integriert oder Zwischenblätter eingelegt. 32 Blätter hat Astrid Schmetterling für das Buch ausgewählt, Bilder die die große Vielfalt von Charlottes Kunst widerspiegeln.

 

Im zweiten Kapitel weist Schmetterling darauf hin, dass Charlottes Werke oft nur als zeithistorische Dokumente wahrgenommen wurden, ähnlich des Tagebuchs der Anne Frank. Glücklicherweise, schreibt sie, hat sich das inzwischen verändert: Bekannt gemacht in den letzten Jahren durch mehrere Ausstellungen in den verschiedensten Ländern, auch auf der documenta 2012, wird Salomons Arbeit endlich als ernstzunehmende Kunst beachtet. Mittlerweile wird Salomons Stück sogar als Theaterstück, Oper und Ballett aufgeführt. Die Reduzierung auf ein rein biografisches Werk hält die Autorin für falsch. Charlotte hat Fakten mit Fiktion geschickt verwoben.

[…] ein komplexes Werk aus biografischen und fiktiven Elementen, das davon zeugt, wie sehr sich Charlotte Salomon der Täuschungen bewusst war, denen sich ein erinnerndes Ich beim Versuch, sich selbst zu schreiben und zu malen, unterliegt.“

Charlotte Salomons vielschichtige Bilder sind schwer einzuordnen. Der Vielfalt liegt vermutlich die Tatsache zugrunde, dass sie sie aus ihren zwei Lebenswelten zusammensetzte: Aus Heimat in Verbindung mit der Zeit im Exil in Südfrankreich. „Auflesen und Wiederverwenden“ nennt es Schmetterling im Buch.

„Eine Frau sitzt am Meer. Den Rücken uns zugewandt, malt sie. Sie malt das tiefblaue Wasser und den Sand, den endlosen Himmel und das Licht. Das Blatt auf ihrem Schoß erscheint jedoch durchsichtig. Als sei es kein Bild, sondern nur ein Rahmen, der ein Stück vom Augenblick umfängt. Ein Rahmen, in dem Abbild und Wirklichkeit ineinanderfließen. Leben oder Theater? Diese Frage ist der Frau auf den Rücken geschrieben.“

Dieses hier von der Autorin beschriebene Bild scheint ein Schlüssel zu sein, der die Tür zu allen anderen Bildern, ja zum Leben Charlottes öffnet. Es entstand in Südfrankreich, wo sie sich in ein kleines Hotel am Cap Ferrat zum Malen zurückgezogen hatte. 1939 war Charlotte aus Berlin geflohen und kam zunächst zu den Großeltern nach Villefranche. Dort nimmt sich Charlottes Großmutter 1940 das Leben. Kurz darauf bringt man sie und den Großvater ins Lager Gurs. Doch sie kommen wieder frei aufgrund des hohen Alters des Großvaters. Charlotte schafft es anschließend nur mithilfe der Malerei eine tiefe Krise zu überstehen. So beginnt sie wie eine Getriebene mit ihrem Lebensprojekt „Leben? oder Theater?“, an dem sie fast zwei Jahre lang malt, die Schlüsselszenen ihres Lebens in Farbe festhält.

Astrid Schmetterling berichtet weiter, dass Charlotte ihre Arbeiten wie ein Theaterstück inszeniert: Alle Figuren gibt es im eigenen Leben, sie werden jedoch umbenannt, erhalten teils skurrile neue Namen. So nennt sie ihre Stiefmutter, die Opernsängerin Paula Lindberg, die sie verehrt und liebt, in ihrem Stück Paulina Bimbam. Ihr Vater heißt Albert Kann. Der Gesangspädagoge ihrer Mutter und gleichzeitig angehimmelter Geliebter Charlottes, Alfred Wolfsohn, trägt den Namen Amadeus Daberlohn. Charlotte schwebt als allwissende Erzählerin über den Geschehnissen. Viel Ironie steckt hinter dieser Vorgehensweise.

Sie bindet auf vielen Seiten Anweisungen für die Begleitmusik mit ein. Diese reichen von klassischer Musik über Opern bis zum aktuellen Schlager. Bei der Textauswahl finden sich oft Sprichwörter zwischen Bibelpassagen und Zeilen aus klassischer Literatur – Goethe, Dante, Rilke etc. Charlotte ließ sich von einigen Künstlern aus verschiedensten Epochen inspirieren. Ihre Bilder enthalten beispielsweise Elemente der mittelalterlichen Buchmalerei, gleichwohl aber orientierte sie sich an der expressionistischen Malerei: Van Gogh, Gauguin, aber auch Chagall.

Nach Abschluss ihrer Arbeit für „Theater“ oder Leben?“ lebt Charlotte Salomon wieder in Villefranche. Trotz aller sie umgebender Widrigkeiten, die Nazis sind mittlerweile auch bis in den Süden Frankreichs vorgedrungen, heiratet sie. Mit ihrem Mann und dem ungeborenen Kind wird sie  1943 nach Auschwitz gebracht und ermordet. Sie hatte ihr Werk einem befreundeten französischen Arzt übergeben, der es bis nach dem Krieg aufbewahrte. Charlottes Eltern, die in Amsterdam in einem Versteck überlebten, übergaben es später einem Amsterdamer Museum.

Astrid Schmetterling ergänzt ihr Buch am Ende mit aufschlussreichen Anmerkungen und einer biografischen Zeittafel. Sie beleuchtet sehr differenziert Aspekte aus Charlotte Salomons Leben und Werk. Zusammen mit den Bildtafeln kann der/die Leser/in sich ein recht umfangreiches Bild von dessen Strahlkraft machen. Ein Wunder vielleicht, jedenfalls ein großes Glück, dass die Blätter erhalten blieben …

Diese Rezension erschien zuerst auf fixpoetry.com, einer wunderbaren Plattform für Literatur und vor allem auch Lyrik. Aufgrund fehlender finanzieller Unterstützung wurde das Portal geschlossen.

Erschien zuerst auf fixpoetry.com
14.05.2017 Hamburg Von Marina Büttner

Mariam Kühsel-Hussaini: Emil Klett-Cotta Verlag


„Eine Toteninsel ist Berlin, wenn man Angst hat.“

Ein Roman über Emil Cioran? Das interessierte mich. Cioran, ein rumänischer Philosoph (1911-1995), der mir vor allem wegen seiner Suizid-Gedanken, die er in vielen seiner Bücher auch schriftlich darlegte, faszinierte mich vor allem deswegen, weil er dann doch nie Suizid beging, sondern sogar sehr lange lebte. Vielleicht schützt es sogar vor dem tatsächlichen Begehen eines Suizid, wenn man sich hinreichend theoretisch damit befasst?

„Es tut wohl, auch nur zu denken, man könnte sich umbringen. Es beruhigt. Man atmet auf. Wenn man, so wie ich, ständig jenseits der Welt ist, bringt einen zumindest der Gedanke, man könne sich selbst abschaffen, auf ein Niveau der Lebenden zurück, ja führt einen dem Leben zu.“

Mariam Kühsel-Hussaini zeigt mir dann aber in ihrem Roman kurz eine andere Seite von Cioran, die ich noch nicht kannte. Sie erzählt über Ciorans Stipendienaufenthalt zunächst an der Humboldt-Universität Berlin im Jahr 1933, später in München und verknüpft dies mit der Geschichte des Chefs der damaligen Geheimpolizei, Rudolf Diels. Cioran fühlte sich vom Gedankengut der Nationalsozialisten angezogen. Es wäre interessant, dazu mehr Hintergründe zu erfahren. Doch das Buch handelt viel zu wenig von Cioran, sondern es überwiegen die Gräueltaten der SS und SA die mir zu oft zu detailreich und zu drastisch auserzählt werden.

Ich bekomme Cioran im Text nicht wirklich zu fassen, obwohl die Autorin ihn ja schon durch den Buchtitel in den Mittelpunkt stellt. Ich erfahre zu wenig über ihn. Nur ganz selten blitzen interessante Aspekte, meist philosophische Ideen auf, die ich dann auch sprachlich stark finde. Doch die meiste Zeit bleibt der Held in seinen Gedanken und Vorstellungen gefangen. Werden anfangs noch Begegnungen und Beziehungen zu Studenten beschrieben, verliert sich das im Laufe des Romans ganz.

„Mir wurde bewusst, in diesem Berlin der Theorien und der Ideale war ich nur ein Absteiger, ein Mensch ohne Geltung, ohne Teilhabe, ein Fremder, denn das Leben selbst war mir fremd und nur mit meiner unerschöpflichen Gabe der Geistesgestörtheit, die mir meine Mutter mitgegeben hatte, würde ich dieses ganze Dasein weiterführen können.“

Mitunter verzettelt sich Kühsel-Hussaini auch mit einem Wortschatz, der von poetisch bis pathetisch reicht. Oft steht die zierliche Sprache auch den inhaltlich grausamsten Szenen gegenüber. Da wird man hin und her geworfen. So verfährt sie auch mit dem Personal ihres Romans. Sprunghaft wechseln sich die Charaktere ab, mitunter geht es drunter und drüber. Und wenn ein kurzer Absatz über den jungen Josef Mengele mit einem über Carl Ossietzky und Hans Scholl konkurriert, frage ich mich, ob es nicht etwas zu viele Personen sind, die hier agieren. Ich hätte mir mehr Tiefe, vor allem bei Cioran gewünscht.

„Die Zeit ist meine einzige Heimat, ich bin kein Bewohner dieser Erde, ich betrachte sie, berühre ihr Glas. Ich lebe nicht, ich schaue das Leben an. Ich atme nicht, ich fange die Luft ein. Ich bewundere den Mond nicht, ich bemitleide ihn.“

Kurz werden Einzelschicksale angerissen: der Kommunist, der gefoltert wird, der jüdische Kunsthändler, der auf der Straße blind geprügelt wird. Otto, Medizinstudent, der Emil zu Beginn in Berlin als Stipendiat in Empfang nahm, wird im Laufe der Geschichte, weil drogenabhängig und (nicht offen) homosexuell, nun als SS-Mann als Aufseher und Peiniger ins KZ Dachau geschickt, um „clean“ zu werden. Heinrich Himmler kommt zu Wort und wir lesen von kruden Allmachtsfantasien. Rudolf Diels trifft mehrfach Adolf Hitler persönlich und klagt die grausamen Foltermethoden an. Er bringt wiederholt Männer hohen Dienstrangs vor Gericht, da sie sich nicht an geltende Gesetze halten, bis Hitler ihm irgendwann nicht mehr freie Entscheidungen zugesteht. Er steht hier im Roman fast noch als humanste Figur da, obwohl er sehr große Entscheidungsgewalt hat. Inwiefern das in der Realität so war, ist schwierig herauszufinden.

Ich finde es durchaus mutig aus diesen zwei realen Gestalten der Geschichte, die sich nie begegnet sind und die nichts verbindet, außer eine Zeit lang der Aufenthaltsort, einen fiktiven Roman zu machen. Für zart Besaitete und Sensible ist der Roman nicht zu empfehlen; und das liegt nicht an Ciorans Suizidgedanken, sondern vielmehr an der schlimmen Gewalt, die doch sehr viel Raum einnimmt. Mich hat das ziemlich abgeschreckt und ich habe mich gefragt, warum man als Autorin so etwas macht. Ich habe mich deshalb auch in den Zitaten auf die Cioran`schen Gedanken konzentriert, die mir sehr gefielen.

Der Roman erschien im Klett Cotta Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hier gibt es eine interessante Diskussion zum Buch, die meiner Meinung überwiegend auch entspricht:
https://www.swr.de/swr2/literatur/mariam-kuehsel-hussaini-emil-100.html

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter Büchergilde Gutenberg/Argon Hörbuch

„Nicht hier sein wollen und woanders nicht hinkönnen, auch das habe ich von ihr.“

Immer wieder habe ich von diesem Roman gehört; oft hieß es „Geheimtipp“ oder „Ganz besonders“. Ich bekam dann die schöne Ausgabe der Büchergilde als Geschenk, als ich gerade auch das Hörbuch entdeckt hatte. Und so habe ich sozusagen parallel gehört und gelesen und muss sagen, dass das zuhören wirklich eine Freude war, denn der österreichische Schauspieler Wolfram Berger interpretiert den Roman grandios. Es ist, als würde er die Geschichte aus seinem Gedächtnis heraus erzählen und nicht etwa ablesen, was die Perspektive der Ich-Form erleichtert. Durch seine Worte hindurch spürt man die Atmosphäre des Romans, man erlebt mit dem Helden mit; stimmig dazu auch die österreichische Tönung der Sprache.

Alois Hotschnig orientiert sich mit diesem Roman an der Biographie des Schauspielers Heinz Fitz. Er schreibt sich suchend und tastend um dieses Leben herum und mitunter auch sehr tief hinein. Dabei macht er stets klar, dass alles wahr oder eben auch fiktiv sein kann. Die wenigen wirklich sicheren Fakten, mit denen sich der Held Heinz zufrieden geben muss, führen dabei wie ein roter Faden voran. Schon als kleines Kind herrscht größtmögliche Unsicherheit, da Heinz der Sohn einer Norwegerin ist, die sich in der Besatzungszeit mit einem deutschen Soldaten „eingelassen“ hat. Die schwangere Gerd wird von ihm 1942 zumindest ein Stück weit in seine Heimat Hohenems in Österreich begleitet. Doch die weitere Reise ist von Unterbrechungen und Unrast geprägt. Nachdem der Sohn geboren ist, erleidet Gerd einen Zusammenbruch und kommt in eine Klinik. Dort wird sie auch gegen ihre Epilepsie behandelt, von der sie erst spät geheilt wird. Heinz wird, vermutlich, in einem Heim des Lebensborn untergebracht.

„Der Lebensborn war es, der meine Mutter mit mir im Bauch von Norwegen nach Hohenems heruntergeholt hat. Der Lebensborn war überall oder sollte überall sein, so war es gedacht und geplant, wo es diese Mütter und deren Kinder gegeben hat. Und doch wusste kaum jemand davon.“

Und so sehen sich beide erst nach vier Jahren wieder, als die Mutter ihn sucht und auf einem Bauernhof findet, wo er als Pflegekind lebte. Immer steht die Frage nach dem Vater im Raum, der nicht mit ihnen leben will und die Mutter, die oft glaubt, Heinz wäre als Baby vertauscht worden. Diese Frage nach der Identität verfolgt Heinz durch sein Leben. Die Mutter heiratet Fritz und bekommt zwei weitere Kinder, Fritz stirbt früh an einer Lungenkrankheit und Heinz muss bald für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Er arbeitet in einer Stickereifabrik in Lustenau. Als Kind erlebte er immer wieder die epileptischen Anfälle der Mutter und ihre Schwermut, die auch auf ihn überging. Als Zwölfjähriger wollte er sich bereits umbringen. Zum Glück traten immer wieder Menschen in sein Leben, die ihm Mentor und Freund wurden. So entdeckte er auch die Welt der Bücher, das Kino und schließlich das Theater, dass ihm nach dem Schauspielstudium zur Heimat wurde.

Erst sehr spät, mit 60 Jahren nimmt sein Vater durch die Stiefschwester Kontakt mit ihm auf. Ein vorheriger Versuch des Jungen scheiterte. Durch seine Stiefschwester und anderen entfernten Verwandten erfährt er dann nach und nach Fragmente seiner Geschichte, Wie es der Mutter ergangen ist, als sie in Hohenems in der Tür stand. Die „Norwegerin“, die Fremde mit dem Silberfuchs um den Hals und der falschen Religion. Immer mehr Puzzleteile setzt Heinz zusammen; es entsteht dennoch nur ein vages Bild. Ein Historiker interessiert sich dann für seine Herkunft als „Lebensborn“-Kind. Auch durch ihn finden wieder einige Teile des Puzzles ineinander. Viel später – Heinz ist Schauspieler und lebt mit vielen Tieren auf einem Hof –kommen dann noch Puzzleteile aus Norwegen, die ein Verwandter Gerds sammelte und nur durch einen glücklichen Zufall finden sie den Weg zu Heinz. Es sind Briefe der Mutter und der Eltern der Mutter und des Vaters, die wieder eine ganz andere Geschichte erzählen und die bisherige in Frage stellen.

„So vieles ist offen. Auch durch diese Briefe jetzt noch einmal neu. Wenn es stimmt, was meine Mutter in den Briefen erzählt, dann werde ich auch mit dieser zweiten Hälfte der Wahrheit leben wie mit der ersten bisher, im Wissen darum, dass eine ganze Wahrheit wohl nicht daraus werden kann.“

Dieses Zitat fast am Schluss des Romans zeigt die große Unsicherheit und auch Zwiespältigkeit auf, die in diesem Leben zu finden ist. Es ist eine Geschichte vom Versuch sich selbst besser zu verstehen und eine Mutter zu finden, die sehr wenig greifbar war. Noch weniger greifbar, der Vater. Und zum Glück gab es immer stützende Menschen, die zur rechten Zeit da waren und halfen dieses Leben leichter lebbar zu machen. Ich bin sehr angetan von diesem Buch. Hotschnig hat ein einfühlsames eindringliches Porträt eines Menschen geschrieben, der trotz aller Widrigkeiten seine Berufung fand, das Schauspiel. Und er hat an die Aktion „Lebensborn“ erinnert, deren Geschichte sicher auch noch nicht umfassend bekannt ist. Ein Leuchten für Buch und Hörbuch!

Das Buch erschien bei der Büchergilde, das Hörbuch bei Argon. Eine Hörprobe gibt es hier.

Stefan Hertmans: Der Aufgang Hörbuch Diogenes Verlag

„Alles war am Verfallen, als sich Ende der Sechzigerjahre im Zuge der Studentenrevolte die Boheme hier niederließ. Das Haus, vor dem ich nun stand, lag am nordöstlichen Rand des Viertels, in einer Straße namens Drongenhof, nicht weit von dort, wo die Leie träge und dunkel an den feuchten Häusern entlangfloss.“

Auf der SWR-Bestenliste diesen Sommers stand der Roman „Der Aufgang“ von Stefan Hertmans auf Platz 6. Der Autor wurde 1951 in Gent, Belgien geboren, wo auch seine Geschichte in großen Teilen spielt. Da mir die Hörprobe gefiel, ließ ich mir das Buch vorlesen, ungekürzt von Michael A. Grimm.

Hertmans kauft als junger Mann für wenig Geld ein heruntergekommenes Haus in Gent, ganz unüberlegt, intuitiv, lässt es herrichten und bewohnt es sehr lange. Erst als er es bereits viel später wieder verkauft hat, erfährt er, dass in seinem Haus der SS-Mann Willlem Verhulst mit seiner Familie wohnte. Obwohl der Notar bei der Besichtigung etwas andeutete, wird Hertmans erst dann klar, welche Geschichte dieses Haus mit sich trägt …

„Nun gut, dachte ich, dann werde ich eben nicht die Geschichte eines SS-Mannes erzählen; solche Geschichten gibt es ohnehin zuhauf. Ich werde die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner erzählen. Allerdings dauerte es Jahre, bis ich das Material für die nun folgende Geschichte zusammen hatte. Einige Augenzeugen leben noch, sie sind hochbetagt und haben mir ihre Erinnerungen, soweit das möglich war, in vielen Einzelheiten geschildert. Erst später, nachdem ich alles mühsam durchgearbeitet hatte, wurde mir klar, dass der sonst so gewissenhafte Historiker Adriaan Verhulst niemals Einsicht in die Gerichtsakten genommen hatte, in denen die ganze Wahrheit stand. Er hätte es problemlos tun können, doch dann wäre das Porträt seines Vaters wohl kaum so milde ausgefallen.“

Wir Zuhörer/Leser erleben nun, wie der Makler dem jungen Hertmans das Haus zeigt: sie gehen von Raum zu Raum. Währenddessen gleitet der Autor in die Vergangenheit und lässt das Haus zur Zeit von Verhulst und Familie aufleben. Durch diese Konstruktion macht er tatsächlich das Haus, Drongenhof genannt, zum Hauptprotagonisten (so passt diese Besprechung auch gut zu meinem Blogbeitrag „Das Haus im Roman“).

Willem Verhulst, der als Kind eine extrem enge prägende Beziehung zu seiner Mutter hatte, litt unter einer Augenkrankheit, die ihn zunächst blind machte, dann konnte aber immerhin ein Auge wieder geheilt werden. So trug er mitunter Augenklappe oder eine über dem blinden Auge milchverglaste Brille. Zum Studium von zuhause weg, zog er, der Feuer und Flamme ist für die nationale Bewegung Flanderns, in ein Zimmer im Haus einer Bäckerei, wo er sich in die Bäckersfrau verliebte. Mit ihr zog er schließlich weg in die Niederlande und sie heirateten, sie verstarb früh. Am gleichen Ort lernte er die Bauerstochter Harmina, Mientje, kennen, die überlegte aufgrund ihres Wissensdursts zu studieren, eventuell sogar Pastorin zu werden. Zuerst wies sie ihn ab, doch ein paar Jahre später heirateten sie und bekamen drei Kinder: Adriaan, Aletta und Suzy. Mientjes Leben wurde nun von Grund auf anders. Sie versorgte Kinder und Haushalt, hing weiter an ihrem Glauben und konnte als friedvoller Mensch Willems Uniformen und seine Tätigkeit, von der sie sicher nur einen Bruchteil wusste, nie ausstehen. Verhulst hingegen tat weiter, was er wollte, hatte später als Vertrauensmann der Deutschen nach der Besetzung Belgiens eine ständige Geliebte namens Griet.

Vom Handlungsreisenden zum Leiter einer Fabrik und weiter zum Leiter eines Radiosenders bis zum SS-Mann, der hunderte Menschen in seiner Umgebung bespitzeln und dann verhaften und verhören ließ. Vom liebenden Familienvater mit drei Kindern zum Denunzianten und Kollaborator. Hertmans schafft es allerdings immer sachlich, fast wie in einem Sachbuch zu erzählen, er kombiniert Fakten mit Tagebuchauszügen und niedergeschriebenen Gesprächen mit den Nachkommen. Hertmans muss unglaublich viel recherchiert haben, was auch im Roman immer wieder durchscheint, denn er erzählt von seinen Wegen ins Archiv, zu Verwandten Verhulsts oder zu anderen wichtigen Orten seiner Biographie. Er zitiert viel aus Mientjes Tagebuch, später aus Gefängnisbriefen von Willem und er zieht Adriaans Biografie zurate. Dieser Sohn, Adriaan Verhulst, Historiker, der in Hertmans Studentenzeit seine Examensprüfung abnahm und ihn beim ersten Mal durchfallen ließ.

Willem Verhulst floh mit der Geliebten und anderen Kollaborateuren gegen Ende des Kriegs nach Deutschland, hoffte dort sicherer leben zu können. Mientje und die Kinder ließ er mit einem Bündel Geld zurück, dass nicht lange reichte. Sie musste Zimmer vermieten an Studenten, um durchzukommen. Ihre Religiösität schützte und stabilisierte sie in diesen harten Zeiten.

Doch er wird 1947 gesucht und gefangen genommen, erhält zunächst die Todesstrafe, die dann auf lebenslängliche Haft verändert wird und 1953 wird er unerwartet entlassen. Er lebt sein Leben weiter, findet sogar wieder Arbeit. Seine Familie sieht er regelmäßig, doch ist er die meiste Zeit wieder bei seiner Geliebten, die er später sogar heimlich heiratet. Unfassbar, dass er sogar eine kleine Rente für seine SS-Tätigkeit aus Deutschland erhält. Willem ist ein gutes Beispiel dafür, wie in der Nachkriegszeit Menschen, die so viele grausame Verbrechen zu verantworten hatten, schließlich dafür so wenig büßen mussten. Sehr traurig.

Ich fand diese Geschichte, der ich immerhin über 11 Stunden und 53 Minuten lauschte, hochinteressant, denn es zeigt mir eine Seite der Zeit des Nationalsozialismus, die ich so noch nicht kannte. Ein Blick von außerhalb Deutschlands auf die wahnsinnigen Geschehnisse eines Systems, dass sogar länderübergreifend funktionierte. Und ich höre auch von einer starken Frau, die sich trotz allem nie von der ideologischen Tätigkeit ihres Mannes vereinnahmen ließ und auch die Kinder davor schützte.

Der Roman erschien im Diogenes Verlag. Übersetzt wurde er von Ira Wilhelm. Eine Lese/Hörprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für den Hörbuch-Download.

Ergänzend eine Website mit sehr viel Bildmaterial (Bilder enthält auch das Buch):

Sabine Scholl: Die im Schatten, die im Licht Weissbooks

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Es ist der erste Roman, den ich von Sabine Scholl lese. Und er hat mich gefesselt und ich bewundere, wie gekonnt die Autorin ihre weiblichen Hauptfiguren lebendig macht und wie intensiv ich sie dadurch erleben darf. Sabine Scholl hat neun Frauen gewählt, die sie von kurz vor bis kurz nach dem zweiten Weltkrieg begleitet. Sie lehnt ihre Heldinnen an wahre Biographien an und gibt ihnen durch ihre literarische Ausarbeitung eine Stimme. Dabei gliedert sie in drei Teile chronologisch von 1938/39 über 1944 bis 1946. Eingangs finden wir eine Liste der Protagonist*innen, die im Buch in Erscheinung treten zusammen mit einer Ortsangabe, an der sich die jeweiligen Personen überwiegend aufhalten. Es sind Orte in Österreich. Linz spielt eine tragende Rolle, auch wegen der Nähe zum Konzentrationslager Mauthausen. Ausgangspunkt der Geschichten ist unter anderem Grieskirchen, der Geburtsort der Autorin in Oberösterreich. Zu dieser Namensliste musste ich auch immer wieder zurückblättern, um die Person wieder einzuordnen, denn es sind viele Namen.

Die Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein. Jede bekommt abwechselnd in eigenen Kapiteln ihre Stimme und das kann Erzähltext sein, Tagebucheinträge und auch das Notat einer Tonbandaufnahme eines Interviews. Die Frauen kommen aus unterschiedlichen Kreisen, leben teilweise in der Nähe und sind einander doch größtenteils unbekannt: Rosi, Zugehfrau, Traudi, ledige Mutter und Dienstmädchen, Lotte, Tochter wohlhabender jüdischer Eltern mit Bekleidungsgeschäft, Elsa, jüdische Ehefrau eines Pastors, Vera, Gräfin auf einem Schloss, Huberta, Prinzessin und Lebefrau, Gretel, Schneiderin, Francine, Schauspielerin. Auf manchen liegt der Fokus mehr, alle Schicksale sind hoch interessant. Durch den Wechsel der Perspektiven entsteht zudem Spannung.

Einige Geschichten haben mich besonders berührt. Manche Frauen sind sympathisch und manche weniger. Doch jede geht ihren Weg. Manche sind Täterinnen, manche im Widerstand und manche machen einfach mit im Nationalsozialismus.

Elsa zum Beispiel, Jüdin und Ehefrau eines Pastors inszeniert ihren eigenen Selbstmord und flieht, um ihre Kinder nicht weiter den Anfeindungen der Dorfbewohner auszusetzen, die voll hinter dem System stehen. Die Kinder wurden drangsaliert und durften als Halbjuden keiner Gruppe beitreten, keinen Musikunterricht mehr nehmen etc.

„Mit einem Mal zeigen die Plakate im Dorf das Hakenkreuz über dem Dachstein aufgehen wie eine Sonne. Dieses hässliche, grauenvolle, spinnenartige Ding überzieht Papier, Fenster, Landschaft und Gehirne. Viele Leute glauben daran wie an einen Gott, einen Erlöser gar.“

Rosi, ihre Freundin wurde nicht eingeweiht und hält sie für tot. Sie betreut die Sommerhäuser der reichen Nazis und beherbergt zeitweise Flüchtlinge und arbeitet im Widerstand, in dem sie die Partisanen in den Bergen mit Nahrung und Informationen versorgt.
Vera ist Adelige und bewohnt das familieneigene Schloss und Anwesen. Weil ihr Mann immer wieder verhaftet wird, (weil er im Widerstand tätig ist) kümmert sie sich als Frau um die gesamten Geschäfte und schafft es immer wieder ihren Mann zeitweise aus der Haft zu holen. Von Haft zu Haft geht es ihm schlechter.
Da ist Gretel, die Schneiderin, die ab Kriegsbeginn fast keine Arbeit mehr hat, aber ihre alte Mutter versorgt. Als sie eine Stellenanzeige liest, in der Aufseherinnen für Lager gesucht werden, bewirbt sie sich. Hier beschreibt Scholl sehr eindringlich, wie sich Gretel von einer normalen jungen Frau zu einer grausamen Wärterin im KZ entwickelt. Weil sie ehrgeizig ist, schüttelt sie die anfänglich starken Skrupel ab, und steigt in der Hierarchie sehr schnell auf.

„Auch im Schneiderinnenberuf gab es Reste und Ränder, die dem Anspruch nicht genügten, Teil eines größeren Vorhabens zu sein. Das heute angelieferte Material ist in miserablem Zustand. Die Körper ausgemergelt und geschwächt, in Fetzen gehüllt. Manche tragen nicht einmal Schuhe. Das geht so nicht.“

Und da ist auch Kitty, Jüdin, auf der Flucht mit zwei Kindern, die sie versucht bei Verwandten in Sicherheit zu bringen, die selbst aber ins Lager gebracht wird. Ihre Schilderungen, der Zustände als Gefangene, erfahren wir aus einem Interview, das nach Kriegsende mit ihr, der Überlebenden, geführt wird. Der Interviewer fragt oft nach, da er das schreckliche Leiden kaum nachvollziehen kann.
Lotte, Jüdin aus Linz, (Kitty ist ihre Tante), das junge Mädchen, das eigentlich Tänzerin und Schauspielerin werden will, flieht mit den Eltern gerade noch rechtzeitig auf ein Schiff nach Shanghai. Doch auch dort wird die Familie zunächst in einem (Aufnahme-)Lager leben. Das Klima und die Zustände in der Enge des Lagers macht vor allem dem Vater zu schaffen, der erkrankt und bald stirbt. Lotte verdient zunächst Geld, in dem sie in einem Varieté als Sängerin auftritt. Bald findet sie und auch ihre Mutter Arbeit im Krankenhaus. Doch als Japan in den Krieg eintritt, wird es schwierig, werden sie plötzlich auch hier zum Feind, weil sie „Deutsche“ sind.
Francine lebt in Paris als Varietékünstlerin, wird aber bald auch als Schauspielerin gebucht. In Babelsberg zum Beispiel. Sie orientiert sich an Rollen, wie sie Marlene Dietrich spielte. Sie wird bekannt, ja berühmt. Sie verkehrt in Künstlerkreisen unter anderem mit Cocteau und Celine. Und sie liebt einen Offizier aus Deutschland, der in Paris als Besatzer stationiert ist. Durch ihn fehlt es ihr auch im Krieg an nichts. Scholl orientiert sich bei der Figur der Francine an der tatsächlichen Geschichte der Schauspielerin „Arletty“, wie ich aus dem Quellenverzeichnis erfahre.

„Francine weiß, dass sie sich hüten werden, ihr den Kopf zu scheren. Die berühmte dunkle Aufsteckfrisur zerstören. Diese Strafe blüht nur einfachen Frauen. Nicht der bestbezahlten Filmschauspielerin Frankreichs. Die Frauen müssen büßen für das, was die Franzosen während des Kriegs erlitten. Scheren sie ihnen die Köpfe, wachsen den Männern anscheinend die Eier nach, die sie verloren haben als Besiegte.“

Ich empfehle dieses Buch sehr. Es bildet ab, was Frauen schaffen, aber auch was sie erdulden müssen in Ausnahmesituationen, im Krieg – im Guten wie im Bösen. Im Anhang finden sich die Quellen, die aufschlussreich zeigen, welche wahren Personen hinter den Romanfiguren stehen. Ich wünsche Sabine Scholl viel mehr Leser für diesen so starken und gekonnt konstruierten Roman, der meiner Ansicht nach viel zu wenig präsent ist in den Kritiken. Ein Leuchten!

Das Buch erschien bei weissbooks. Eine Leseprobe gibt es hier: https://weissbooks.com/

Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters C.H. Beck Verlag

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Ich mag Barbara Yelins Illustrationen sehr, deshalb fiel mein Blick auch sofort auf diese Neuerscheinung. Der 19-jährige Holländer Jan Bazuin hat Tagebuch geführt über die Ereignisse, die er vor und im Arbeitslager der Deutschen in München-Neuaubing von 9.1.1944 bis zu seiner Flucht am 21.4.1945 erlebte. Barbara Yelin hat dazu ihre typischen Illustrationen beigetragen. Es ist ein hochinteressantes Zeitdokument und hat mich wirklich überrascht, da ich bisher wenig zum Thema gelesen habe.

Am 23.2. wurde das Buch im NS-Dokumentationszentrum in München vorgestellt. Ich war beim Live-Stream dabei und habe unglaublich viel erfahren. Wie das Buch entstand, wie Yelin sich die Illustrationen erarbeitet hat. Der Sohn von Jan Bazuin berichtete, wie das Tagebuch, das eigentlich aus drei kleinen Heften besteht, die er nach dem Tod seines Vaters fand, zum Buchprojekt wurde, Barbara Beuys bereicherte die Runde mit umfassendem historischen Wissen zum Thema.

November 1944, Rotterdam: Die Deutschen besetzen seit 1940 die Niederlande. Jan Bazuin, 19 Jahre alt, lebt bei seinen Eltern. Er beginnt Tagebuch zu schreiben. Die Arbeitslosigkeit ist zu dieser Zeit groß. Der Vater will Jan loswerden, weil es zu wenig zu essen für die Familie gibt. Manchmal hat Jan Arbeit, manchmal organisiert er Essen, das er tagelang im Umland sucht. Die Menschen fällen die Bäume in den Straßen, um Brennholz zu haben. Es herrscht überall großer Mangel. So oft wie möglich trifft er sich mit seiner Freundin. Bei ihr verbringt er auch Weihnachten, hier bekommt er genug zu essen.  Als die Deutschen im Januar wieder alle 16 – 40-Jährigen unter Strafandrohung zum Abtransport ins Arbeitslager nach Deutschland aufrufen, muss auch Jan Rotterdam verlassen. Beim ersten Aufruf hatte Jan Glück, er war als Saisonarbeiter auf dem Land, doch wurde sein Bruder bereits da nach Kassel geschafft. Die Reise führt mit dem Zug quer durch Deutschland bis nach München. Mit langen Unterbrechungen, die die Männer im Viehwaggon verbringen müssen und mit Zwischenaufenthalt in Dachau, landen sie in Neu-Aubing.

Dort hat Jan das Glück die meiste Zeit eine Arbeit in der Küche zu finden, so dass er alles andere als Hunger leiden muss. Die Portionen, die er dort bekommt und die er in seinem Tagebuch genauestens erfasst, lassen fast nicht glauben, dass er sich in einem Zwangsarbeiter-Lager befindet. Dafür arbeitet er von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends. Doch dann gibt es auch Zeiten in denen er mit Rübensuppe, Brot und Kartoffeln auskommen muss. Er selbst empfindet die Arbeit als gut für ihn, damit er nicht so viel grübelt und an seine Familie und die Freundin denken muss.

„Montag, 19. März. Halb zwölf Fliegeralarm. Erst halb vier Entwarnung. Bei uns keine Bomben, wohl aber 30 km weiter. Das Essen war wie gehabt. Gut, aber wenig. Vielleicht gibt es in Holland gar nichts, ich will also nicht klagen.“

Das Ungewöhnliche an den recht schlichten Tagebucheinträgen ist eine ungebrochene Zuversicht, mit der Jan an alles herangeht. Nie glaubt er, dass er nicht mehr nach Hause kommt. Jeder Tag wird, auch wenn er noch so anstrengend war, mit einem positiven Gedanken bedacht. Tatsächlich darf man sich die Verhältnisse hier nicht wie in einem Konzentrationslager vorstellen. Jan verdient Geld mit seiner Arbeit, er hat oft den halben Samstag und/oder den Sonntag frei. Mehrfach geht er ins Kino, macht sogar Ausflüge ins Umland.

Im Lager begegnet er auch polnischen und italienischen Zwangsarbeitern. Manche lädt er ein, ihm etwas in sein Tagebuch zu schreiben, es bilden sich kleine Zusammenhalte. Doch es wird auch gestohlen, vor allem Nahrung. Nicht alle haben so ein Glück wie Jan. Immer wieder kommen Informationen im Lager an, in denen von der Lage der Front, von der Hilfe der Alliierten und vom möglichen Ende des Kriegs die Rede ist. Die vielen Luftangriffe sprechen ihre eigene Sprache.

Am 21.4.45 entscheidet sich Jan für die Flucht. Mit einem Kameraden legt er Hunderte von Kilometern zurück und schafft es tatsächlich über die Frontlinie zu den Amerikanern. Kurz darauf bricht das Tagebuch ab.

Im informativen Nachwort berichtet Mitherausgeber Paul Raabe vom NS-Dokumentationszentrum, was über Jan Bazuins Leben sonst noch bekannt ist und bindet die Tagebucheinträge in größere Zusammenhänge.

Barbara Yelins Illustrationen sind dunkel gehalten. Grau dominiert. Wenige Bilder sind mit Sprachblasen gezeichnet, die meisten Bilder sprechen für sich. Das Buch ist keine Graphic Novel. Man wollte den Tagebuchcharakter nicht verfälschen, was ich als eine gute Entscheidung betrachte.

Ich finde dieses Buch hochinteressant, zeigt es doch einen weiteren Aspekt zum Thema Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Bisher kenne ich den Roman Sie kam aus Mariupol von Natascha Wodin, in dem sie über ihre Eltern erzählt, die als Zwangsarbeiter aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt wurden und wesentlich schlechter behandelt wurden.

Tagebuch eines Zwangsarbeiters“ erschien im C. H. Beck Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Svenja Leiber: Kazimira Suhrkamp Verlag

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In Svenja Leibers neuem Roman stellt sie eine unangepasste Frau in den Vordergrund, eben die titelgebende Kazimira. Die Geschichte führt ins Baltikum in eine Zeit, in der mit Bernstein gut zu verdienen war, eine Zeit, in der Bernstein in Gruben gefördert wurde wie Kohle, in eine Zeit des wachsenden Fortschritts, der Mechanisierung. Anhand dreier Familien von unterschiedlicher Herkunft erleben wir die privaten aber auch die politischen Auseinandersetzungen, die für diese Zeit stellvertretend sind. Es geht um weibliche Emanzipation ebenso wie um den wachsenden Antisemitismus in Ostpreußen. Der Roman spielt in zwei unterschiedlichen Strängen einmal ab 1871 (mit kurzer Pause von 1918 bis 1930) bis 1945 und einmal im Jahr 2012. Beide werden am Schluss zusammengeführt. Mir hat die Geschichte so gut gefallen, dass ich mir gewünscht habe, die Autorin hätte auch die „Zwischenzeiten“ auserzählt.

Es beginnt an der kurischen Nehrung und in Königsberg. Kazimira, eine Frau, die sich noch auf die Natur mit ihren Geistern und eigenen Gesetzen versteht, lebt mit Antas Damerau zusammen in einer Hütte in den Dünen und sammelt Bernsteine, die ihr Mann schnitzt und drechselt. Sie verkaufen die Sachen an die wohlhabende jüdische Familie Hirschberg (angelehnt an die tatsächlich existierende Familie Becker) und Kazimira macht Näharbeiten ihm Haus. So verdienen sie ihren Lebensunterhalt. Als Hirschberg eine Grube zur Förderung von Bernstein bauen lässt, wird Antas sein bester Arbeiter.

„“Sie ist eine undurchsichtige Person. Angeblich ungetauft.“ Hier möchte sich Kowak auf die Zunge beißen. Stattdessen redet er etwas lauter weiter: „Hängt wohl einem Animismus an. Glaubt an Naturgötter. Eine gewisse Verehrung hege ich ja selbst dem Boden gegenüber, schon als Wissenschaftler.“ Er räuspert sich. „Und als Deutscher. Aber diese Anbetung von Kröten ist widerlich.““

Kazimira lernt unterdessen durch Henriette Hirschberg, einer gebildeten und emanzipierten Frau, Jadwiga Kowak kennen. Zwischen beiden entsteht eine zarte vorsichtige Anziehung, die sie später auch für sehr kurze Zeit vertiefen können. Doch in dieser Zeit (Ende 19. Jhdt.) lässt sich eine Liebe zwischen zwei Frauen nicht offen leben. Man trennt die beiden. Später finden jedoch Kazimiras Sohn Ake und Jadwigas Tochter Ilse zueinander. Kazimira möchte in der Grube arbeiten, würde gerne Hosen tragen, doch als Frau darf sie das nicht, Mann darf sie schon gar nicht sein. Als sie sich aus Protest die Haare abschneidet, meidet man sie offen bzw. greift sie sogar an.

„Ein Jahr später steht die Kaz an Jadwigas Grab. Das Grab liegt auf dem katholischen Friedhof.
Kazimira betrachtet die Erde und denkt an die Ahne und dass die noch wusste, was all das zu bedeuten hat, der Tod und das Leben und die Erde und der Himmel.
„Jetzt bist du schon auf unserem Stern“, flüstert sie. „Und bald komm ich auch.“

Nach und nach baut Hirschberg seinen Betrieb aus und auch ein soziales System für seine Arbeiter auf, das ihnen eine gewisse Absicherung bietet. So zeigt sich der Fortschritt auf vielen Ebenen. Doch nicht alle sind Hirschbergs wohlgesonnen. Sie haben mit Antisemitismus und mit Neid und später auch mit Ausgrenzung zu kämpfen. Letztlich verkaufen sie das Unternehmen und ziehen nach Wien.

Im zweiten Teil des Romans um 1930 begegnen wir Helene Damerau, Ilse und Akes Tochter, die sich in Pavel Petrov verliebt. Helenes Eltern sind in die USA ausgewandert. Helene wollte bleiben und gründet mit Pavel eine große Familie mit 7 Kindern. Um den Lebensunterhalt zu sichern, ziehen sie von Hof zu Hof, leben kurz in Königsberg und landen schließlich auf Gut Eilung, wo sie ein Auskommen finden. Die so lebendige Tochter Jela, die mit Trisomie geboren wird und zeitweise bei Kazimira lebt, wird noch als Kind in ein „Sanatorium“ gebracht und wird dort im Zuge der Eugenik als „unwertes Leben“ ermordet. Wir begleiten das weitere Schicksal der Familie bis in und durch den zweiten Weltkrieg bis zum Einmarsch der russischen Armee. Hier wird die Familie auseinander gerissen …

Im Erzählstrang, der im Jahr 2012 spielt, ist die Grube in Kaliningrad selbst in der nachkommunistischen Zeit marode und bringt kaum etwas ein. In Jantarnyj arbeitet die junge Nadja im Verkaufspavillon für Bernsteinschmuck und Souvenirs, doch der Umsatz ist mau. Das Geschäft mit Bernstein ist fast zum Erliegen gekommen. Zwar kommen noch deutsche Touristen, aber die tun überheblich, als wären sie immer noch auf deutschem Boden, sagt Nadjas Kollegin. Nadja hat eine kleine Tochter zu versorgen. Sie kommt schließlich mit Anatolij zusammen, der gerade seine Arbeit im Werk verloren hat. Durch einen nicht ganz sauberen Deal mit einem russischen Händler, der in China einen neuen Markt für Bernstein aufgetan hat, kommen die beiden zu etwas Geld, um ihren Heimatort hinter sich zu lassen. Durch den Tod von Nadjas Vater führen schließlich die beiden Erzählstränge zusammen …

Svenja Leiber hat echtes Talent, was Sprache angeht. Beim Lesen freue ich mich immer wieder über diese schöne Sprache, die von großer Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit zeugt. Auch die Handlung wird von dieser Sprache getragen und wirkt durch sie stark und dicht. Nicht zuletzt durch sie habe ich Kazimira in mein Herz geschlossen. Ein Leuchten wie Bernstein!

Der Roman erschien beim Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe und ein aufschlussreiches Interview mit der 1975 geborenen in Hamburg aufgewachsenen Autorin, auch über ihre umfangreichen Recherchen vor Ort, gibt es hier hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Zeichen & Zeiten.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Irmgard Keun: Nach Mitternacht Claassen Verlag

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„Ein Deutschland mit unfrohen rohen Gesängen und drohenden Rundfunkreden, mit der künstlichen Dauer-Ekstase von Aufmärschen, Partei-Tagen, Heil-Jubeln und Feiern. Ein Deutschland voll berauschter Spießbürger. Berauscht, weil sie es ein sollten – berauscht, weil man ihnen Vernunftlosigkeit als Tugend pries – berauscht, weil sie gehorchen und Angst haben durften und berauscht, weil sie Macht bekommen hatten.“

So schreibt Heinrich Detering im Nachwort des Romans über das, was Irmgard Keun 1947 zu ihrem Buch sagte, was sie darin hatte zeigen wollen. Nun wurde „Nach Mitternacht“ neu aufgelegt mit einem wunderbaren Cover, welches der Roman auch bei der ersten Auflage im Jahr 1937 beim Exilverlag Querido in Amsterdam trug. Die 1905 in Berlin geborene Autorin hatte mit ihren Romanen großen Erfolg, besonders mit „Das kunstseidene Mädchen“, musste aber aufgrund der Verbote durch die Nationalsozialisten 1936 ins Exil gehen. Unter anderem ging sie nach Oostende, wo sie auf Josef Roth traf und mit ihm eine Beziehung einging. Sie kehrte 1940 wieder nach Deutschland zurück und lebte mit falschen Papieren aber unerkannt bis 1945 in ihrem Elternhaus in Köln. Nach dem Krieg dauerte es, bis ihre Literatur wieder bekannter wurde. Erst in den Siebziger Jahren wurde sie erneut entdeckt.

Was ich an Irmgard Keuns Romanen so liebe, ist dieser frische, oft naiv aber doch frech anmutende Ton in ihren Texten. Sie erfindet schöne Wortkombinationen, die für mich auch als eine Art Erkennungszeichen fungieren:

„Noch nicht mal mein Haar leuchtet. Es hat eine blonde Farbe, die schläft.“
oder
„Am liebevollsten konnte der Franz es sagen: „Sanna“. Weil er ja überhaupt so langsam und samtig denkt.“
oder
Leise plätscherten ihre Gespräche, es hörte sich an, als regne es im Lokal.“

Die Geschichte um die 19-jährige Susanne, Sanna genannt, spielt innerhalb 48 Stunden in Frankfurt am Main des Jahres 1936. Sanna wohnt dort bei Algin, ihrem Stiefbruder, der bis zur Machtübernahme der Nazis ein bekannter und oft gelesener Schriftsteller ist und seiner Frau Liska in recht wohlhabenden Verhältnissen. Vorher lebte sie bei Ihrer Tante Adelheid in Köln, einer verbitterten Frau, deren Sohn Franz nun allerdings ihr Liebster ist. Sanna musste dort weg, weil die eigene Tante sie bei der Gestapo denunziert hatte und sie nur mit viel Glück nach dem Verhör frei gelassen wurde. Sie hatte ganz unbedarft etwas über die Reden des Führers gesagt, was nicht gut ankam.

„Durch die Diktatur ist Deutschland ein vollkommenes Land geworden. Ein vollkommenes Land braucht keine Schriftsteller. Im Paradies gibt es keine Literatur. Ohne Unvollkommenheiten gibt es keine Schriftsteller und keine Dichter. Der reinste Lyriker bedarf der Sehnsucht nach Vollkommenheit. Wo Vollkommenheit ist, hört die Dichtung auf. Wo keine Kritik mehr möglich ist, hast du zu schweigen.“

In Frankfurt nun ist ihre kleine Welt, die Wohnung von Algin und seiner Frau Liska und deren Freunde und Bekannte. Der Brief von Franz, der eines Tages nach langer Schreibpause eintrifft, lässt sie hoffen, dass er nun nach Frankfurt kommt und ihr gemeinsames Leben doch endlich beginnen könnte. Am gleichen Tag wird der Führer in Frankfurt erwartet, der Opernplatz fühlt sich mit Menschenmassen, während Sanna mit ihrer Freundin Gerti durch die Straßen, Cafes und Kneipen streift. Für die Wartenden wird es eine Enttäuschung, denn Adolf Hitler fährt mit großem Troß durch die gesperrten Straßen, hält jedoch nicht an, die erwartete Rede fällt aus.

„Jetzt heult die Gerti plötzlich los, weil sie den jungen Aaron heute nicht getroffen hat, ich muss sie trösten. So ein Mädchen verliebt sich nun ausgerechnet in einen verbotenen Mischling, wo es doch immer noch Männer gibt, die von der Behörde erlaubt sind.“

Aus Sannas Erzählungen erfahren wir, wie sie, die eigentlich unpolitisch ist, sich mit der „Weltanschauung“ der Nationalsozialisten auseinandersetzen muss. Durch ihre Offenheit und Direktheit ohne Hintergedanken eckt sie mitunter an. Aus verschiedenen Blickwinkeln wird die Situation beleuchtet. Während die Deutschen immer hitlerhöriger werden, verstummen kritische Stimmen, freiwillig oder gezwungenermaßen, während jeder jeden aus den geringsten Gründen denunzieren kann, glauben viele Juden nicht, dass es für sie wirklich gefährlich werden wird.

Keun erzählt davon beeindruckend, oft mit herrlichem Witz, Esprit und Ironie, die trotz des schweren Themas vollkommen angemessen und passend erscheinen. Sie hatte eine echte Gabe fürs Erzählen. Die Protagonistin Sanna, die sich selbst immer als sehr unwissend und einfach sieht, und auch nicht schön genug im Verhältnis zur Freundin Gerti etwa, darf durch das sichere Wissen und Begreifen der Autorin hindurchstrahlen. Sie schafft es auch geschickt, Männer zu entlarven, Männer, die oft groß tun und behaupten sehr viel Wissen und Erfahrung zu haben und dann doch nur in der Kneipe alkoholisiert groß daherreden. Das durchschaut auch Sanna und da passt der ruhige Franz ja eigentlich dann doch am besten zu ihr.

Franz kommt wirklich nach Frankfurt, nach Mitternacht, als ein großes Fest im Haus von Algin und Liska stattfindet. Doch er kommt nicht zum Feiern, er hat Schlimmes mitzuteilen. Ihre gemeinsame Zukunft, sofern sich Sanna wirklich dafür entscheidet, scheint unter keinem guten Stern zu beginnen …

„Wir leben nun mal in der Zeit der großen Denunziantenbewegung. Jeder hat jeden zu bewachen, jeder hat Macht über jeden. Jeder kann jeden einsperren lassen. Der Versuchung, diese Macht auszuüben, können nur wenige widerstehen. Die edelsten Instinkte des deutschen Volkes sind geweckt und werden sorgsam gepflegt.“

Ich habe den Roman als sehr zeitgemäß empfunden und finde ihn gerade auch als Einstieg in Keuns Literatur geeignet, obgleich er wesentlich düsterer ist und schwerer wiegt, als beispielsweise „Das kunstseidene Mädchen“ oder „Kind aller Länder“. Mir scheint, jedes ihrer Bücher hat einen ganz eigenen Reiz und ich lege die Lektüre jedem ans Herz.

Der Roman erschien im Claassen Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.