Kirstin Breitenfellner: Maria malt Picus Verlag


„Jede Zeichnung ist ein Triumph über die Unruhe der Welt.“

Die Autorin Kirstin Breitenfellner hat der wunderbaren österreichischen Künstlerin Maria Lassnig einen Roman gewidmet. Gleich mit dem Cover taucht die Leserin ein in Lassnigs Malerei: „Selbstporträt als Tier“, 1963 entstanden. Ich hatte das Glück, dass es gerade hier in Berlin eine kleine Ausstellung von Maria Lassnig gab, was die Lektüre bestens ergänzt hat und meinen Eindruck der Besonderheit dieser Künstlerin bestätigt hat.

So erlebt Maria gleich als Kind, dass zwischen weiblich und männlich ein großer Unterschied besteht. Und sie wird es noch lange spüren, denn auch die Kunstwelt, in die sie sich mutig hinein begibt, bevorzugt männliche Künstler.

„Wenn man einen Sohn bekommt, dann trinkt man Wein, und wenn man ein Mädel bekommt, Wasser, sagt die Mutter. Und dann rennt man noch mehr davon, als wenn man einen Buben bekommt, sagt die Mutter, sie hat es schon so oft gesagt, aber jedes Mal, wenn sie es sagt, wird es noch wahrer.“

Nach einem kurzen Kapitel über Maria Lassnigs Kindheit, sie wird 1919 als uneheliches Kind in Kappel, Österreich, geboren und lebt lange bei der Großmutter, bis die Mutter sie nach Klagenfurt holt, finden wir Maria in Wien wieder, wo sie Kunst studiert. Der Künstler Arnulf Rainer ist ihr Freund. Sie fahren zusammen nach Paris, wo sie auf der Suche nach dem eigenen Stil Paul Celan, Jean Paul Sartre und André Breton kennenlernen. Doch eine Art Initiation erfährt Maria erst in einer kleinen Galerie, wo sie die Art Gemälde findet, die sie auch malen will. Sie will nach innen gehen.

Im Anschluss geht es in vielen Zeitsprüngen durch Maria Lassnigs Leben. Nicht trocken sachlich, sondern sprachlich sehr fein ausgearbeitet. Der kurze Satz „Maria malt“ kommt wie ein Mantra immer wieder daher und zeigt so auch die Wichtigkeit dieser Tätigkeit. Wenn sonnst alles im Argen liegt oder menschliches Chaos herrscht, wird gemalt. Jede Liebesbeziehung wird auserzählt und damit auch die besonderen Schwierigkeiten, die Maria mit den Männern hat. Bindungs- und Freiheitswunsch lassen sich oft schwer unter einen Hut bringen. Meist sind die Männer jünger. Auch im Älterwerden bleiben die Liebhaber immer jünger. Doch eine ernsthafte Beziehung geht Maria später nicht mehr ein.

„Wenn ein Mann heiratet, dann um seine Kunst zu finanzieren. Wenn eine Frau heiratet, dann um ihre Kunst aufzugeben.“

Da ist Arnulf Rainer, der eigentlich als ihr Schüler auftaucht, sich aber sehr gut vermarkten kann, was Maria nicht kann und auch nicht will. Sie bleibt ihrem Weg treu. Die Trennung folgt. Ähnliches passiert mit dem Lebenskünstler Buddy, später dem noch jüngeren Ossi. Viele der Männer sind von Kriegserlebnissen traumatisiert. Noch mit 35 Jahren wird sie von der Mutter mit Lebensmitteln und Geld versorgt, obwohl sie zwar Ausstellungen hat, aber doch die wenigsten etwas von ihr kaufen wollen. Das kleine Atelier in Wien muss ja bezahlt werden.

„Maria lernt etwas: Es ist nicht notwendig, seine eigene Kunst zu erklären, denn es will sowieso niemand wissen, worauf sie hinauswill. Was in ihr drinnen ist und aus ihr herauswill. Hauptsache, Maria weiß es selbst, in ihrem Herzen.“

Erst im Alter von 40 Jahren hat Maria Lassnig ihre erste Einzelausstellung. Beteiligungen gab es zwar schon lange, doch Maria bekommt immer wieder zu spüren, dass sie es als Frau eben schwerer hat. Das kann Maria kaum ertragen. Die Kritiken, die auf die Ausstellung folgen scheinen zwar gut, doch Maria spürt, dass sie es in Wien nicht wirklich schaffen kann. Zumindest nicht so, wie sie ihre Kunst erarbeitet und versteht. Sie geht nach Paris für einige Jahre, dann für sehr lange nach New York.

„Wenn Marias Kunst „durchaus maskulin“ anmutet, heißt das natürlich, dass sie nie an das Lob, das für Männer bereitgehalten wird, herankommen wird. Dazu braucht es keine prophetischen Gaben. Die Volkszeitung schlägt in dieselbe Kerbe und meint, dass bei Maria eine „für eine Frau auffällige Beteiligung des Intellekts“ zu erkennen sei.“

Mitten im Roman kommt unerwartet, aber sehr aufschlussreich, noch ein längeres Kapitel über Marias Kindheit. Als sie noch Riedi genannt wurde und die Mutter sie mit nach Klagenfurt zum „neuen“ Vater nimmt. Was Riedi zu erdulden hat mit einer derart kalten Mutter (von der Maria auch später kaum los kommt, eine Art Hassliebe?), lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Aus dem Text heraus lese ich, dass Maria als Kind schon hochsensibel war und es damit ohnehin schwer hatte. Eine gesunde sichere Bindung durfte sie wohl nie erleben und das setzt sich oft in ihren späteren Beziehungen fort. Zudem steht für Maria immer die Kunst im Vordergrund.

„Was Maria nicht versteht: Wie man zugleich ein guter Künstler sein kann, also schwer, und guter Gesellschaftsmensch, also leicht.“

Paris scheint nicht der richtige Ort zu sein um weiterzukommen. New York ist es. Hier kann sie weiter an ihren unzähligen Trauerbildern malen, nachdem die Mutter starb („Maria weint mit dem Pinsel.“). Hier findet sie auch den Zusammenhalt von Frauen, den sie bisher in Europa vermisst hat. Maria Lassnig wird bekannter, hat Ausstellungen, malt Bilder. Hier erkundet sie auch andere Techniken, wie das Zeichnen und bearbeiten von Trickfilmen. Doch das Malen bleibt immer die Herzenskunst. Ein Jahr verbringt sie in Berlin mit einem Stipendium. Im Jahr 1980 kommt die Berufung als Professorin an die Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Maria kehrt nach Österreich zurück.

In der Hochschule kommt es auch zu Auseinandersetzungen mit den jüngeren Schülerinnen und auch die Konkurrenz zu Arnulf Rainer lebt wieder auf, da er an der Akademie der Künste ausgerechnet Malerei lehrt. Er, der vor allem „übermalt“. Letztlich erkennt Maria als sie längst in Pension ist und in ihrem mitten in der Natur gelegenen Ruhesitz in Kärnten, dass die Schüler ihr doch auch am Herzen lagen. Im letzten Kapitel, das in der Ich-Form geschrieben ist, durchlebt Maria eine Art Rückschau und obwohl sie mit 80 alt ist, fühlt sie es nicht so. Sie will immer weiter malen.

Kirstin Breitenfellner hat sicher viel recherchiert und sich eingefühlt. Ihr Blick liegt immer wieder auf der besonderen Sensibilität der Künstlerin. Die Betonung, aus einer erspürten Körperlichkeit heraus, aus dem innen heraus zu malen, die Bilder in Ruhe aufsteigen zu lassen und nicht nach der Mode zu malen, nicht für alles Geld der Welt. Die Betonung, dass es Frauen sehr viel schwerer im Kunstbetrieb haben, die auch Maria immer wieder einholt, ist auch heute/jetzt noch genauso stimmig. Mal klebt sich Maria einen Bart an, mal will sie keine Künstlerin sein, sondern Künstler. Sie verabscheut diese Festlegung auf „Frauenmalerei“, die natürlich immer von Männern kommt. Die Autorin hat zudem eine ganz wunderbare Sprache gefunden, die diesen Roman für mich zusätzlich zum Inhalt sofort leuchten lässt. Große Empfehlung für Kunstfreund/innen!

Der Roman erschien im Picus Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter Büchergilde Gutenberg/Argon Hörbuch

„Nicht hier sein wollen und woanders nicht hinkönnen, auch das habe ich von ihr.“

Immer wieder habe ich von diesem Roman gehört; oft hieß es „Geheimtipp“ oder „Ganz besonders“. Ich bekam dann die schöne Ausgabe der Büchergilde als Geschenk, als ich gerade auch das Hörbuch entdeckt hatte. Und so habe ich sozusagen parallel gehört und gelesen und muss sagen, dass das zuhören wirklich eine Freude war, denn der österreichische Schauspieler Wolfram Berger interpretiert den Roman grandios. Es ist, als würde er die Geschichte aus seinem Gedächtnis heraus erzählen und nicht etwa ablesen, was die Perspektive der Ich-Form erleichtert. Durch seine Worte hindurch spürt man die Atmosphäre des Romans, man erlebt mit dem Helden mit; stimmig dazu auch die österreichische Tönung der Sprache.

Alois Hotschnig orientiert sich mit diesem Roman an der Biographie des Schauspielers Heinz Fitz. Er schreibt sich suchend und tastend um dieses Leben herum und mitunter auch sehr tief hinein. Dabei macht er stets klar, dass alles wahr oder eben auch fiktiv sein kann. Die wenigen wirklich sicheren Fakten, mit denen sich der Held Heinz zufrieden geben muss, führen dabei wie ein roter Faden voran. Schon als kleines Kind herrscht größtmögliche Unsicherheit, da Heinz der Sohn einer Norwegerin ist, die sich in der Besatzungszeit mit einem deutschen Soldaten „eingelassen“ hat. Die schwangere Gerd wird von ihm 1942 zumindest ein Stück weit in seine Heimat Hohenems in Österreich begleitet. Doch die weitere Reise ist von Unterbrechungen und Unrast geprägt. Nachdem der Sohn geboren ist, erleidet Gerd einen Zusammenbruch und kommt in eine Klinik. Dort wird sie auch gegen ihre Epilepsie behandelt, von der sie erst spät geheilt wird. Heinz wird, vermutlich, in einem Heim des Lebensborn untergebracht.

„Der Lebensborn war es, der meine Mutter mit mir im Bauch von Norwegen nach Hohenems heruntergeholt hat. Der Lebensborn war überall oder sollte überall sein, so war es gedacht und geplant, wo es diese Mütter und deren Kinder gegeben hat. Und doch wusste kaum jemand davon.“

Und so sehen sich beide erst nach vier Jahren wieder, als die Mutter ihn sucht und auf einem Bauernhof findet, wo er als Pflegekind lebte. Immer steht die Frage nach dem Vater im Raum, der nicht mit ihnen leben will und die Mutter, die oft glaubt, Heinz wäre als Baby vertauscht worden. Diese Frage nach der Identität verfolgt Heinz durch sein Leben. Die Mutter heiratet Fritz und bekommt zwei weitere Kinder, Fritz stirbt früh an einer Lungenkrankheit und Heinz muss bald für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Er arbeitet in einer Stickereifabrik in Lustenau. Als Kind erlebte er immer wieder die epileptischen Anfälle der Mutter und ihre Schwermut, die auch auf ihn überging. Als Zwölfjähriger wollte er sich bereits umbringen. Zum Glück traten immer wieder Menschen in sein Leben, die ihm Mentor und Freund wurden. So entdeckte er auch die Welt der Bücher, das Kino und schließlich das Theater, dass ihm nach dem Schauspielstudium zur Heimat wurde.

Erst sehr spät, mit 60 Jahren nimmt sein Vater durch die Stiefschwester Kontakt mit ihm auf. Ein vorheriger Versuch des Jungen scheiterte. Durch seine Stiefschwester und anderen entfernten Verwandten erfährt er dann nach und nach Fragmente seiner Geschichte, Wie es der Mutter ergangen ist, als sie in Hohenems in der Tür stand. Die „Norwegerin“, die Fremde mit dem Silberfuchs um den Hals und der falschen Religion. Immer mehr Puzzleteile setzt Heinz zusammen; es entsteht dennoch nur ein vages Bild. Ein Historiker interessiert sich dann für seine Herkunft als „Lebensborn“-Kind. Auch durch ihn finden wieder einige Teile des Puzzles ineinander. Viel später – Heinz ist Schauspieler und lebt mit vielen Tieren auf einem Hof –kommen dann noch Puzzleteile aus Norwegen, die ein Verwandter Gerds sammelte und nur durch einen glücklichen Zufall finden sie den Weg zu Heinz. Es sind Briefe der Mutter und der Eltern der Mutter und des Vaters, die wieder eine ganz andere Geschichte erzählen und die bisherige in Frage stellen.

„So vieles ist offen. Auch durch diese Briefe jetzt noch einmal neu. Wenn es stimmt, was meine Mutter in den Briefen erzählt, dann werde ich auch mit dieser zweiten Hälfte der Wahrheit leben wie mit der ersten bisher, im Wissen darum, dass eine ganze Wahrheit wohl nicht daraus werden kann.“

Dieses Zitat fast am Schluss des Romans zeigt die große Unsicherheit und auch Zwiespältigkeit auf, die in diesem Leben zu finden ist. Es ist eine Geschichte vom Versuch sich selbst besser zu verstehen und eine Mutter zu finden, die sehr wenig greifbar war. Noch weniger greifbar, der Vater. Und zum Glück gab es immer stützende Menschen, die zur rechten Zeit da waren und halfen dieses Leben leichter lebbar zu machen. Ich bin sehr angetan von diesem Buch. Hotschnig hat ein einfühlsames eindringliches Porträt eines Menschen geschrieben, der trotz aller Widrigkeiten seine Berufung fand, das Schauspiel. Und er hat an die Aktion „Lebensborn“ erinnert, deren Geschichte sicher auch noch nicht umfassend bekannt ist. Ein Leuchten für Buch und Hörbuch!

Das Buch erschien bei der Büchergilde, das Hörbuch bei Argon. Eine Hörprobe gibt es hier.

Sabine Scholl: Die im Schatten, die im Licht Weissbooks

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Es ist der erste Roman, den ich von Sabine Scholl lese. Und er hat mich gefesselt und ich bewundere, wie gekonnt die Autorin ihre weiblichen Hauptfiguren lebendig macht und wie intensiv ich sie dadurch erleben darf. Sabine Scholl hat neun Frauen gewählt, die sie von kurz vor bis kurz nach dem zweiten Weltkrieg begleitet. Sie lehnt ihre Heldinnen an wahre Biographien an und gibt ihnen durch ihre literarische Ausarbeitung eine Stimme. Dabei gliedert sie in drei Teile chronologisch von 1938/39 über 1944 bis 1946. Eingangs finden wir eine Liste der Protagonist*innen, die im Buch in Erscheinung treten zusammen mit einer Ortsangabe, an der sich die jeweiligen Personen überwiegend aufhalten. Es sind Orte in Österreich. Linz spielt eine tragende Rolle, auch wegen der Nähe zum Konzentrationslager Mauthausen. Ausgangspunkt der Geschichten ist unter anderem Grieskirchen, der Geburtsort der Autorin in Oberösterreich. Zu dieser Namensliste musste ich auch immer wieder zurückblättern, um die Person wieder einzuordnen, denn es sind viele Namen.

Die Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein. Jede bekommt abwechselnd in eigenen Kapiteln ihre Stimme und das kann Erzähltext sein, Tagebucheinträge und auch das Notat einer Tonbandaufnahme eines Interviews. Die Frauen kommen aus unterschiedlichen Kreisen, leben teilweise in der Nähe und sind einander doch größtenteils unbekannt: Rosi, Zugehfrau, Traudi, ledige Mutter und Dienstmädchen, Lotte, Tochter wohlhabender jüdischer Eltern mit Bekleidungsgeschäft, Elsa, jüdische Ehefrau eines Pastors, Vera, Gräfin auf einem Schloss, Huberta, Prinzessin und Lebefrau, Gretel, Schneiderin, Francine, Schauspielerin. Auf manchen liegt der Fokus mehr, alle Schicksale sind hoch interessant. Durch den Wechsel der Perspektiven entsteht zudem Spannung.

Einige Geschichten haben mich besonders berührt. Manche Frauen sind sympathisch und manche weniger. Doch jede geht ihren Weg. Manche sind Täterinnen, manche im Widerstand und manche machen einfach mit im Nationalsozialismus.

Elsa zum Beispiel, Jüdin und Ehefrau eines Pastors inszeniert ihren eigenen Selbstmord und flieht, um ihre Kinder nicht weiter den Anfeindungen der Dorfbewohner auszusetzen, die voll hinter dem System stehen. Die Kinder wurden drangsaliert und durften als Halbjuden keiner Gruppe beitreten, keinen Musikunterricht mehr nehmen etc.

„Mit einem Mal zeigen die Plakate im Dorf das Hakenkreuz über dem Dachstein aufgehen wie eine Sonne. Dieses hässliche, grauenvolle, spinnenartige Ding überzieht Papier, Fenster, Landschaft und Gehirne. Viele Leute glauben daran wie an einen Gott, einen Erlöser gar.“

Rosi, ihre Freundin wurde nicht eingeweiht und hält sie für tot. Sie betreut die Sommerhäuser der reichen Nazis und beherbergt zeitweise Flüchtlinge und arbeitet im Widerstand, in dem sie die Partisanen in den Bergen mit Nahrung und Informationen versorgt.
Vera ist Adelige und bewohnt das familieneigene Schloss und Anwesen. Weil ihr Mann immer wieder verhaftet wird, (weil er im Widerstand tätig ist) kümmert sie sich als Frau um die gesamten Geschäfte und schafft es immer wieder ihren Mann zeitweise aus der Haft zu holen. Von Haft zu Haft geht es ihm schlechter.
Da ist Gretel, die Schneiderin, die ab Kriegsbeginn fast keine Arbeit mehr hat, aber ihre alte Mutter versorgt. Als sie eine Stellenanzeige liest, in der Aufseherinnen für Lager gesucht werden, bewirbt sie sich. Hier beschreibt Scholl sehr eindringlich, wie sich Gretel von einer normalen jungen Frau zu einer grausamen Wärterin im KZ entwickelt. Weil sie ehrgeizig ist, schüttelt sie die anfänglich starken Skrupel ab, und steigt in der Hierarchie sehr schnell auf.

„Auch im Schneiderinnenberuf gab es Reste und Ränder, die dem Anspruch nicht genügten, Teil eines größeren Vorhabens zu sein. Das heute angelieferte Material ist in miserablem Zustand. Die Körper ausgemergelt und geschwächt, in Fetzen gehüllt. Manche tragen nicht einmal Schuhe. Das geht so nicht.“

Und da ist auch Kitty, Jüdin, auf der Flucht mit zwei Kindern, die sie versucht bei Verwandten in Sicherheit zu bringen, die selbst aber ins Lager gebracht wird. Ihre Schilderungen, der Zustände als Gefangene, erfahren wir aus einem Interview, das nach Kriegsende mit ihr, der Überlebenden, geführt wird. Der Interviewer fragt oft nach, da er das schreckliche Leiden kaum nachvollziehen kann.
Lotte, Jüdin aus Linz, (Kitty ist ihre Tante), das junge Mädchen, das eigentlich Tänzerin und Schauspielerin werden will, flieht mit den Eltern gerade noch rechtzeitig auf ein Schiff nach Shanghai. Doch auch dort wird die Familie zunächst in einem (Aufnahme-)Lager leben. Das Klima und die Zustände in der Enge des Lagers macht vor allem dem Vater zu schaffen, der erkrankt und bald stirbt. Lotte verdient zunächst Geld, in dem sie in einem Varieté als Sängerin auftritt. Bald findet sie und auch ihre Mutter Arbeit im Krankenhaus. Doch als Japan in den Krieg eintritt, wird es schwierig, werden sie plötzlich auch hier zum Feind, weil sie „Deutsche“ sind.
Francine lebt in Paris als Varietékünstlerin, wird aber bald auch als Schauspielerin gebucht. In Babelsberg zum Beispiel. Sie orientiert sich an Rollen, wie sie Marlene Dietrich spielte. Sie wird bekannt, ja berühmt. Sie verkehrt in Künstlerkreisen unter anderem mit Cocteau und Celine. Und sie liebt einen Offizier aus Deutschland, der in Paris als Besatzer stationiert ist. Durch ihn fehlt es ihr auch im Krieg an nichts. Scholl orientiert sich bei der Figur der Francine an der tatsächlichen Geschichte der Schauspielerin „Arletty“, wie ich aus dem Quellenverzeichnis erfahre.

„Francine weiß, dass sie sich hüten werden, ihr den Kopf zu scheren. Die berühmte dunkle Aufsteckfrisur zerstören. Diese Strafe blüht nur einfachen Frauen. Nicht der bestbezahlten Filmschauspielerin Frankreichs. Die Frauen müssen büßen für das, was die Franzosen während des Kriegs erlitten. Scheren sie ihnen die Köpfe, wachsen den Männern anscheinend die Eier nach, die sie verloren haben als Besiegte.“

Ich empfehle dieses Buch sehr. Es bildet ab, was Frauen schaffen, aber auch was sie erdulden müssen in Ausnahmesituationen, im Krieg – im Guten wie im Bösen. Im Anhang finden sich die Quellen, die aufschlussreich zeigen, welche wahren Personen hinter den Romanfiguren stehen. Ich wünsche Sabine Scholl viel mehr Leser für diesen so starken und gekonnt konstruierten Roman, der meiner Ansicht nach viel zu wenig präsent ist in den Kritiken. Ein Leuchten!

Das Buch erschien bei weissbooks. Eine Leseprobe gibt es hier: https://weissbooks.com/

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer S. Fischer Verlag

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Ich bin großer Fan von  Reinhard Kaiser-Mühleckers Büchern. (Und nach dem letzten etwas schwächeren auch wieder sehr beeindruckt) Sie sind so wunderbar un-zeitgeistig und nicht-mainstream, die Sprache eher altmodisch, dabei aber keineswegs altbacken. Gerade für Stadtmenschen, Home-Office-Arbeitende und Intellektuelle bieten sie einen ungeschönten Einblick in bäuerliche, dörfliche Strukturen und die harte Arbeit in der Landwirtschaft. Einen wichtigen Blick über den Tellerrand hinaus.

Mich hat Kaiser-Mühlecker wieder in eine Zeit versetzt, in der ich selbst auf dem Land lebte und einige der traditionellen dörflichen Strukturen, die beispielsweise auch auf dem Bauernhof von Jakob, der Hauptfigur, herrschen, miterlebt habe. Tatsächlich scheint der Roman fast direkt an seinen Roman „Dunkle Seele, tiefer Wald“ (Link dazu unten) anzuschließen. Wir begegnen dem gleichen Personal. Jakob führt den Bauernhof der Eltern schon seit er 15 ist, der Vater ein Träumer und Tunichtgut, der Bruder inzwischen verheiratet in Wien lebend und die Schwester Luisa, die ihr Leben auch nicht so recht auf die Reihe bekommt, zumindest aus Jakobs Sicht. Der Roman „Wilderer“ beginnt gleich auf der ersten Seite mit einer Russisch Roulette-Szene …

Inzwischen in den Zwanzigern ist Jakob immer noch ein Einzelgänger, der wenig Kontakt im Dorf hat und wenn dann nur aus beruflichen Gründen. Bisher mit einigen Projekten gescheitert, scheint sich die Freilandhühnerhaltung nun endlich auszuzahlen. Gleich eingangs kommt es zu einer Unbehagen verursachenden Szene, in der Jakob seinen eigenen Hund vergiftet, weil dieser wildert und nicht mehr auf seine Befehle hört (was auch den Buchtitel erklärt).

„Tat er jemals nichts? […] Doch da im Radio redeten sie ja nicht davon, sondern von irgendwas mit Kreativität und so Zeug, das er – Leute wie er, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienten, für die die Gesellschaft seit jeher nur Spott und seit einer Weile auch noch Kritik übrig hatte, weil sie angeblich die Natur zerstörten oder das Klima oder was – sich nicht leisten konnte.“

Als er durch eine Nebentätigkeit in der Dorfschule die Künstlerin Katja kennenlernt, die ein Aufenthaltsstipendium im Ort hat, ist sie ehrlich interessiert an ihm und seiner Arbeit in der Landwirtschaft. Als er ihr schließlich den Hof zeigt, beschließen beide, dass sie ein Praktikum von vierzehn Tagen bei ihm machen kann. Die Arbeit scheint ihr wider Jakobs Erwarten gut zu gefallen und auch gut zu gelingen. Sie verlängern die Zeit und Katja bringt sofort eigene Vorschläge und Ideen zur Verbesserung mit ein. Sie gibt ihre künstlerische Tätigkeit ganz auf und zieht auf den Hof. Aus beiden wird schließlich ein Paar. Die treibende Kraft geht in fast allem von Katja aus. So auch die Idee, die Landwirtschaft vollkommen auf biologischen Anbau und Tierhaltung umzustellen. Jakob bleibt in allem, zumindest in meinem Gefühl als Leserin, sehr distanziert, mitunter kühl. Gefühle, Emotionen scheinen im äußerst fremd zu sein, Gespräche führen außerhalb des Kontexts der Arbeit kaum möglich. Selbst wenn gute Dinge passieren – ein gutes Ernteergebnis, ein schöner Abend mit Katja oder sogar die Geburt des Sohnes – scheint er es einfach als gegeben hinzunehmen.

Der Hof entwickelt sich sehr gut, Katja bleibt nach der Geburt des Kindes weiter gut eingebunden, kann sich später sogar über ein Kunst-Aufenthalts-Stipendium freuen. Der Leser vermutet richtig, wenn er darin erkennt, dass Katja durchaus weiter als Künstlerin arbeiten will, sozusagen einen Plan B im Hinterkopf hat.  So, als würde sie sich Jakobs nie sicher sein. Was letztlich auch stimmt …

Katja bereitet ein großes Fest vor, weil der Hof aufgrund seiner Innovationen geehrt werden soll, viele Gäste sind da, das regionale Fernsehen berichtet. Alles könnte gut sein. Doch als der neue Hund, der lange in der Familie von Jakobs Bruder gelebt hat, wie der Vorgänger zu wildern beginnt, scheint in Jakob etwas ausgelöst zu werden, etwas Böses, Ungehaltenes, vielleicht lange Angestautes, durch Kleinigkeiten (die wir Leser durchaus wahrnehmen) Geschürtes, das sich nun Bahn bricht … Klingt in meinen Worten pathetischer als es ist, dazu schreibt und konstruiert Kaiser-Mühlecker viel zu gut.

„Vor langer Zeit, am Ende der Kindheit, mit zwölf oder dreizehn, war etwas über ihn gekommen, das ihn nie mehr verlassen hatte seither, das Gefühl, aus dem Dasein verbannt worden zu sein, aber nicht ins Jenseits oder ins Nichts, sondern wie in ein Abseits, in dem er aber nicht wirklich weiterleben durfte. Am Fenster des Daseins: Dort saß er und wartete. So hatte er sich da auf einmal gefühlt, ausgestoßen … Ein Schatten hatte sich damals über ihn gelegt, von dem er nach bald zehn Jahren längst nicht mehr annahm, er werde je wieder weichen.“

Generell liegt über dem Roman eine verschwimmende Düsternis, so als wäre die Hauptfigur nicht fähig, das Licht zu sehen. Melancholisch bis todessehnsüchtig (bedenkt man die erste Szene), aber auch auf eine Weise gleichgültig ob aller möglichen bewegenden Geschehnisse. Ein irgendwie geheimnisvoller, aber eben auch un(be)greifbarer Held. Für diesen neuen Roman: Ein Leuchten!

Der Roman erschien im S. Fischer Verlag und stand im Monat Mai auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. 

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Letteratura.

Weitere Besprechungen zu Büchern von Reinhard Kaiser-Mühlecker hier auf dem Blog:

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Fremde Seele, dunkler Wald S.Fischer Verlag

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Zeichnungen S. Fischer Verlag

Eva Menasse: Dunkelblum Kiepenheuer & Witsch Verlag

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Es geht sich aus! Es geht sich ganz wunderbar aus!
Viele Tassen Kaffee und einige Mehlspeisen lang hatte ich riesige Freude an dieser opulenten Lektüre. Eva Menasses neuester Roman „Dunkelblum“ scheint mir auch ihr bester bisher zu sein. Ich erinnere mich noch gut an ihren ersten Roman Vienna, den sie damals 2005, ich war noch als Buchhändlerin tätig, im Café Einstein in Berlin bei einem köstlichen österreichischen Menü vorstellte. Seitdem sind einige weitere Romane erschienen, nicht alle davon habe ich gelesen, aber hier hat mich die Leseprobe schon absolut überzeugt. Auf über 500 Seiten breitet sie hier ein irres Panorama einer österreichischen Marktgemeinde aus, Dunkelblum genannt, aber angelehnt an die Geschichte des real existierenden Rechnitz im Burgenland. Über das „Massaker von Rechnitz“ kann man auf Wikipedia lesen, ich empfehle aber erst den Roman, denn von Menasse nachkonstruiert und auserzählt, ist es schon noch einmal etwas anderes.

1989: Es beginnt mit der Anreise des Dunkelblumer Lowetz, der sehr bald als junger Kerl dem Heimatort an der Grenze zu Ungarn den Rücken gekehrt hat und in der Hauptstadt lebt. Er kommt, um sich um den Nachlass seiner gerade gestorbenen Mutter zu kümmern, eine Verbindung zu ihr hatte er nicht mehr. Doch der Einzug ins Elternhaus und die Gespräche mit den alteingesessenen Dunkelblumern lassen ihn rasch wieder in den Ort eintauchen. Er lernt Flocke kennen, die Tochter des einzigen Bioweinbauern vor Ort, die auch nur zu Besuch ist und den Ehrgeiz hat eine Art Heimatmuseum aufzubauen; allerdings anders, als sich das die Einheimischen vorstellen. Der Reisebürobesitzer Rehberg, der an einer Dunkelblumer Chronik arbeitet und eben Lowetz` Mutter recherchierten mit ihr zusammen für dieses Projekt.

Etwa zur gleichen Zeit taucht auch ein vermeintlich Fremder namens Gellért auf, der sich augenscheinlich ebenfalls für die Dunkelblumer Geschichte interessiert, vor allem für die Zeit kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs. Er verwickelt die Bewohner freundlich in Gespräche und stellt Fragen. Viele können, oder vielleicht eher wollen, sich nicht mehr erinnern.

„Man tat, wie man geheißen wurde, und schwieg, so war das damals. Und später war es auch so.“

Gleichzeitig widmet sich eine Gruppe Wiener Geschichtsstudenten der Verschönerung des Jüdischen Friedhofs, der sehr lange sich selbst überlassen blieb. Die Studentin Martha begleitet die Aktion mit ihrer Kamera. Sie spielt später noch eine große Rolle gegen Ende des Romans.

Wir lernen nach und nach verschiedene Mitglieder der Ortschaft kennen. Menasse schafft es hier wunderbar die einzelnen Charaktere herauszuarbeiten und auch in Bezug zu der persönlichen Familiengeschichte zu setzen. So wimmelt es bald von Namen und Persönlichkeiten, die man später nicht unbedingt immer zuordnen kann, aber das spielt so gar keine Rolle, weil die Lektüre einen einfach weitertreibt und vollkommen fasziniert über die Geschehnisse staunen lässt. Da gibt es beispielsweise die resolute Resi Reschen, die das Hotel Tüffer führt, in welchem sie ihre Lehre begann und welches sie nach der Flucht der jüdischen Eigentümersfamilie Tüffer eigenständig weiterführte.  Da gibt es die schöne Leonore, die aus einem Nachbarsort eingeheiratet hat und ehrgeizig mit ihrem Mann, dem Toni Malnitz, aus dem eigenen Weingut einen Biobetrieb mit anspruchsvoller Hotellerie gemacht hat. Sie ist auch die Mutter von Flocke, aber Malnitz ist nicht der Vater. Da gibt es den bald pensionierten Hausarzt Sterkowitz, der damals frisch aus dem Studium plötzlich die Arztstelle übernehmen musste, weil der ansässige jüdische Arzt Bernstein den Ort verlassen musste. Da ist Antal Grün, ein KZ-Überlebender, der wieder nach Dunkelblum zurückkehrt und einen Laden eröffnet. Da gibt es den phlegmatischen Bürgermeister Koreny, der sich mit dem Wasserwirtschaftsamt herumschlägt, den öko-angehauchten Faludi-Bauer und den Obstbauer, den geflickten Schurl und viele andere mehr. Es ist ein großes Vergnügen zu lesen, wie die Autorin hier mit der Sprache und den speziellen österreichischen Begrifflichkeiten spielt.

„Da, lange zurück, gibt es eine reiche und stolze Geschichte von Dunkelblum. Aber dann, hoppala, ist die Geschichte irgendwie gestolpert und hat sich nur mit einem beherzten Sprung aufrechthalten können.
Und daher geht es quasi direkt nach den alten Römern mit den Russen weiter, mit der erbärmlichen, demütigenden Nachkriegszeit, in der man sich anstrengen musste, um den Unterschied zwischen Deutschen und Österreichern endlich wieder herauszuarbeiten – das war historisch noch nie dasselbe, bitteschön!“

Dunkelblum gelangt mehr und mehr aus dem Ruder, als zuerst bei Grabungen ein altes Skelett gefunden wird, dann ein Flüchtling aus der DDR auftaucht, der über die ungarische grüne Grenze kam, Flocke verschwindet und der inzwischen wieder ansehnliche jüdische Friedhof mit Schmierereien geschändet wird. Plötzlich nach so langer Ruhe kommt Bewegung in den Ort, kommen Journalisten, gelangen Menschen durch den Eisernen Vorhang. Wie es geschieht, dass dann doch nach über 50 Jahren Schweigen über die grauenhaften Taten der Nazis kurz vorm Ende des zweiten Weltkriegs einer den Mund aufmacht, der wirklich große Schuld trägt und das auch noch vor der Kamera der jungen Martha, ist auch der Mithilfe von Gellért zu verdanken, der, man ahnte es schon, ebenfalls aus Dunkelblum stammt und fliehen musste:

Im Schloss der Gräfin feierten Nazigrößen noch kurz bevor die Russen eintrafen ein riesiges Gelage. Und in dieser Nacht wurden unzählige jüdische Zwangsarbeiter, die den Südostwall zum Schutz des Landes graben mussten, mithilfe Dunkelblumer SS-Schergen und der Hitlerjugend gewaltsam hingerichtet und dort verscharrt. Im realen Reckwitz hat man die Toten trotz vieler Grabungen niemals gefunden. In den umgebenden Gemeinden, in denen ähnliches geschah, aber schon. Eva Menasse hat unglaublich viel recherchiert für diesen Roman und ihn sehr breit angelegt. Ihr ist es unglaublich gut gelungen zum Schluss hin alle vielleicht zeitweise verwirrenden Fäden zu einem stimmigen Ende zusammenzubringen und richtig gute Literatur zu machen. Unbedingte Empfehlung!

Das Buch erschien im Kiepenheuer & Witsch Verlag.

Film–Kunst–Film: Schachnovelle Film von Philipp Stölzl 2021 nach Stefan Zweigs gleichnamiger Novelle

Unter der Rubrik „Film-Kunst-Film“ stelle ich ab und an auch Filme vor, die mich beeindruckt haben und die in irgendeiner Form mit Literatur/ Kunst zu tun haben.

Die Schachnovelle von Stefan Zweig las ich schon vor sehr langer Zeit. Es muss in der Ausbildung zur Buchhändlerin (also vor über 30 Jahren) gewesen sein. Sie hat mich sehr nachhaltig beeindruckt. Nun hatte ich Kinokarten bei einer Verlosung vom Diogenes Verlag gewonnen für die gerade angelaufene Neuverfilmung von Philipp Stölzl und habe deshalb die nur knapp 100 Seiten zählende Novelle vorher noch einmal gelesen. Meine Taschenbuchausgabe ist aus dem Fischer Verlag von 1988. Auch beim erneuten Lesen stellte sich wieder die Freude über dieses Buch, über Stefan Zweigs Können ein.

Umso gespannter war ich auf den Film. Mit Verfilmungen ist es ja oft so eine Sache, aber diese hat mir ausgesprochen gut gefallen, obgleich durchaus Veränderungen zur Buchvorlage vorgenommen wurden. Im Buch beginnt es mit einem Erzähler, der sich auf einer Schiffspassage von New York nach Buenos Aires befindet. Das könnte durchaus eine autobiografische Szene sein, denn Stefan Zweig musste Österreich in der NS-Zeit verlassen und nach Südamerika ins Exil gehen.

Im Film ist die Anfangsszene ganz anders gestaltet. Der Notar Dr. Josef Bartok lebt mit Frau Anna gut betucht in Wien und verdrängt den geplanten Einzug der Deutschen nach Österreich. Doch noch bevor er die Stadt verlassen kann, wird er von der Gestapo verhaftet. Er soll die Nummernkonten seiner Klienten verraten, weil die Nazis das Vermögen an sich bringen wollen. Er wird im Hotel Metropol, nun Sitz des Gestapo-Hauptquartiers, in einem kleinen Zimmer wie in Isolierhaft gehalten und zwischendurch zu Verhören geholt. Als er heimlich an ein Buch gelangt, was Ablenkung zu versprechen scheint, ist es ausgerechnet ein Schachbuch. Er lernt alle Partien auswendig, wird zum fanatischen Spieler im eigenen Kopf, sein Bewusstsein spaltet sich, um gegen sich selbst spielen zu können und er verliert sich letztlich vollkommen bis zum Zusammenbruch. Als er schließlich nach einem Jahr als psychisches Wrack auf freien Fuß gesetzt wird mit Anordnung das Land zu verlassen, begibt er sich mit neuen Papieren auf ein Schiff Richtung New York. 

Während im Buch die Zeit in der Haft recht kurz gehalten ist, wird sie im Film stark ausgebaut. Es gibt einige brutale Szenen, die man im Buch nicht findet. Doch die Art und Weise dieser Gefangenschaft, kommt durch die Kameraführung und die immerfort düsteren Lichtverhältnisse gut zur Geltung. Auch die Szenen auf dem Schiff, auf dem immer schlechtes Wetter und trübe Dunkelheit herrscht, unterscheiden sich leicht vom Buch. Hier wird Bartok, der sich nun van Leuwen nennt, zufällig Zeuge einer simultanen Schachpartie zwischen dem ebenfalls anwesenden Schachweltmeister Czentovic (über dessen Werdegang man im Buch sehr viel mehr erfährt) und einigen Passagieren, die natürlich fortwährend verlieren. Er mischt sich ein und erreicht so immerhin ein Remi. Alle sind begeistert und laden ihn auf eine Partie allein gegen den Weltmeister ein. Eine Partie, die ihn in die Gefahr bringt, wieder dem Wahnsinn anheim zu fallen, sich wieder eine „Schachvergiftung“ zu holen. Auch das Ende ist im Film anders als im Buch. Gut wird jedoch bei beiden das Motiv herausgearbeitet, das aufzeigt, dass beim Schachspiel wohl immer versucht wird, den Willen des Gegners zu brechen, was letztlich für einen Gewinn Bartoks über die Gestapo spricht.

„Selbstverständlich bin ich mir heute ganz im klaren, daß dieser mein Zustand schon eine durchaus pathologische Form geistiger Überreizung war, für die ich eben keinen anderen Namen finde als den bisher medizinisch unbekannten: eine Schachvergiftung. Schließlich begann diese monomanische Besessenheit nicht nur mein Gehirn, sondern auch meinen Körper zu attackieren.“

Für mich ist das Buch ein kleines Meisterwerk, was natürlich an der Form und der Sprache liegt, die Zweig hier großartig gelingt. Und doch hat auch der Film mich beeindruckt, was sicher überwiegend an der großartigen Leistung des Schauspielers Oliver Masucci liegt. Wie er die Wandlung vom gut situierten Wiener Notar über den psychisch gefolterten, aus Not immer bessessener werdenden Schachspieler bis zum erschöpften, ins Exil Flüchtenden darstellt ist sehr gekonnt. 

Die Schachnovelle ist das einzige Buch Zweigs, das die politische Gegenwart behandelt. Zweig schrieb sie zwischen 1938 und 1941 im brasilianischen Exil. Und auf diesen 100 Seiten spiegelt sich beispielhaft das ganze Ausmaß der Geschehnisse beim und nach dem Anschluss von Österreich ans Deutsche Reich unter Hitler. Etwas, das Zweig selbst miterlebte und was ihn schließlich bewog Wien zu verlassen. Ein Schicksal, welches stellvertretend für so viele steht.

Hier gehts zum Trailer auf der offiziellen Website: https://www.arthaus.de/kino/schachnovelle

Ebenfalls empfehlenswert der Film „Vor der Morgenröte“ von Maria Schrader über Stefan Zweigs Exil in Südamerika. Hier meine Besprechung dazu: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/05/14/film-kunst-vor-der-morgenroete-dvd-film-von-maria-schrader/

Angela Lehner: 2001 Hanser Berlin Verlag

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Nach ihrem Debüt „Vater unser“ erschien nun Angela Lehners neuer Roman „2001“. Es ist ein sehr junger Roman, zumindest strotzt er nur so von Jugendsprache und die am häufigsten verwendeten Worte sind „Fick dich“, „Fuck“ und „Alter“. Nichts desto trotz passt eben genau diese Sprache zum Inhalt, zu den „vergessenen“ Jugendlichen in einem Ort namens Tal in Österreich. Tal heißt auch der fiktive Ort, in dem die Geschichte spielt, in den sommers wie winters die Touristenhorden einfallen, die damit jedoch auch den ein oder anderen Arbeitsplatz sichern, wenn schon der größte Arbeitgeber, die Milchfabrik, weil sie nicht mehr rentabel war, schließen musste.

„Unsere Stadt heißt Tal und das ist alles, was man wissen muss.“

Die Geschichte erstreckt sich etwa über die Dauer eines Schuljahrs, beginnend mit Jänner. Die Hauptfigur Julia geht in die letzte Klasse der Hauptschule im Ort. Ihre Klasse wird auch unter der Hand „der Restmüll“ genannt. Doch ihre Interessen gelten nicht den Schulfächern, sondern vor allem der Rap-Musik. Mit ihrer Clique, „die Crew“ genannt, zieht sie an Wochenenden durch die Kneipen, soweit dort erwünscht, oder eben an die diversen anderen Treffpunkte am Wasserfall oder im Keller eines der Crewmitglieder. Julia schwänzt oft die Schule, sitzt zuhause vor der Glotze und trinkt Fertigcappuccino und ist Käsebrot. Ihr Bruder ist ehrgeiziger, er will studieren und auch andere aus der Crew, wie etwa Bene haben Ideen, wie die Zukunft aussehen könnte. Sie versuchen Julia wiederholt beim Lernen zu helfen, doch Julia drückt sich immer wieder.

Auch als der Geschichtslehrer im Unterricht ein Experiment ausprobieren möchte, ist Julia mehr oder weniger die Einzige, deren Interesse nicht geweckt wird. Das „Experiment“ war auch das, was mich an diesem Roman anfangs am meisten gelockt hat. Ich dachte an so etwas wie in „Die Welle“. Tatsächlich aber geht es um wichtige Personen aus der Zeitgeschichte und deren Darstellung durch die Schüler. Nicht ganz so spektakulär und doch schafft es der Lehrer das Interesse vieler Schüler zu wecken und einige beweisen großen Einfallsreichtum, ja ausgezeichnete Schauspielkunst. Dass das Experiment letztendlich dem Lehrer als Profilierung dienen soll, stößt bitter auf.

Die Beziehungen der Klasse untereinander verändern sich in diesem Schuljahr, so wie das in diesem Alter wahrscheinlich immer ist. Erste Verliebtheit kommt ins Spiel, oder zumindest das Schwärmen für den oder die. Julia ist heimlich verliebt in Tarek (der mitunter auch Rassismus zu spüren bekommt). Doch ihre beste Freundin Melli ist die Auserwählte, nachdem sie Julias Bruder einen Korb gegeben hat. Einer aus der Clique driftet weit nach rechts ab, einer outet sich als schwul. Ein Konzert der Lieblings-HipHop-Gruppe steht im Ort an und Julia sieht und bekommt ihre Chance, sich als Rapperin in der Öffentlichkeit zu zeigen. Als Höhepunkt der Geschichte zeigt sich schließlich die gewalttätige Eskalation zwischen einer rechten Gruppe und Teilen der „Crew“, bei dem Melli und Julia sich nicht unterkriegen lassen und dennoch auf der Polizeiwache landen. Die Vorkommnisse schweißen sie allerdings wieder eng zusammen.

Und immer schwebt die Atmosphäre der Verlorenheit über der Geschichte. Denn es ist trotz kleiner Bewegungen im Freundeskreis kaum Veränderung in Sicht und es bleibt eben nur wenig Spielraum für neue Wege. Wer hier aufwächst, hat es schwer. Wer hier im Ort, in diesem Viertel bleibt, verfällt in Stagnation und gibt auf. So wie Julias Mutter, die im ganzen Roman unsichtbar bleibt und erst in der Schlussszene auftaucht, aber auch da nur als Schatten vor dem Fernseher, vor dem Schatten des Attentats am 11.9.2001 in New York auf die Zwillingstürme.

„Die Schule ist vorbei. Jedes Unglück ist passiert und meine Welt ist zum Stillstand gekommen. Hier ist sie also: meine Zukunft.“

Angela Lehner trifft mit ihrem Erzählton immer wieder ins Schwarze. Trotz der rauen ruppigen Sprache gibt es immer wieder Stellen, die zum Totlachen sind, auch wenn sie teils zugleich sehr traurig sind. Und auch die Hauptfigur ist trotz ihrer jugendlichen Rotzigkeit oder vielleicht gerade deshalb eben irgendwie auch sympathisch.

Das Buch erschien im Hanser Berlin Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Monika Helfer: Vati Der Hörverlag

Gerade ein Jahr nach dem Roman Die Bagage, den ich auch als Hörbuch hier besprochen habe, gibt es nun „Vati„, wieder von Monika Helfer selbst eingelesen. Nachdem sie in „Die Bagage“ die Familie ihrer Mutter vorstellte, spricht sie nun über ihren Vater. Immer mehr erinnern mich ihre kurzen Romane an die autobiographischen Bände von Annie Ernaux. Zwar hat jede ihren eigenen Stil zu erzählen, doch geben beide auch Einblick in eine Familienwelt, die auch immer die Gesellschaft dieser Zeit spiegelt. Bei Helfer ist es sogar der Wortschatz, der teilweise gar nicht mehr verwendet wird. Sie liest das Buch ungekürzt auf 4 CD`s ganz wunderbar mit ihrer ausdrucksvollen, rauhen, teils hinterfragenden Stimme. Denn sie hat natürlich recherchiert, aber die eigenen Erinnerungen und die der noch lebenden Familienmitglieder unterscheiden sich oft voneinander.

„Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste. An dem eine andere Vergangenheit abzulesen wäre. Untertags und auch nachts denk ich an ihn, wie er da in seinem Lehnstuhl sitzt unter der Stehlampe, rundum die eigenen Kinder und fremde, zum Beispiel die vom Erdgeschoss. Ihr Ball rollt um seine Füße, unter den Stuhl, ihn schreckt es nicht. Er liest.“

So beginnt Monika Helfers Roman. Ihr Vater lernt schon vor dem ersten Schultag lesen und war schon als Kind den Büchern verfallen. In der Bibliothek des Vaters eines Schulkameraden liest er nicht nur, sondern beginnt die Bücher abzuschreiben. Er wird deshalb auch auch gefördert und darf aufs Gymnasium. Doch kurz vor der Matura wird er in den Krieg eingezogen. In einem Lazarett muss ihm der erfrorene Unterschenkel abgenommen werden, doch er lernt hier auch seine zukünftige Frau kennen, die als Krankenschwester da arbeitet. Wir kennen sie bereits aus „Die Bagage“. Bereits im Lazarett macht sie Josef einen Heiratsantrag.

Für den Vater, der auf der „Tschengla“, einem Ort in den österreichischen Bergen auf 1200 m Höhe, nur über eine Seilbahn zu erreichen, nach dem Krieg ein Kriegsopfererholungsheim leitet, ist es ein guter Schritt. Hier blüht er wieder auf. Einer der Stiftungsmitglieder spendet dem Heim eine große Bibliothek, die für den Vater ein Schatz ist. In der Abendschule macht er seine Matura nach. Der Familie geht es gut, die Kinder wachsen dort glücklich auf, bis das Heim zum Hotel ausgebaut werden soll. Aufgrund einer Buchprüfung glaubt der Vater Schuld auf sich geladen zu haben und begeht einen Selbstmordversuch mit Gift. Den Kindern wird das natürlich als „Versehen“ verkauft. Der Vater bleibt lang in der Klinik, die Mutter folgt bald darauf. Sie hat Krebs.

Die drei Schwestern Monika, Gretl und Renate leben nach dem frühen Tod der Mutter bei ihrer Tante Kathi in Bregenz, die selbst drei Kinder hat. Mit der Freiheit ist es nun aus. In beengten Verhältnissen wachsen die Mädchen heran. Der Vater lässt sich nicht mehr blicken, lebt eine Zeitlang nah am Absturz in Klausur in einem Kloster. Über ihn oder die Mutter wird nicht geredet. Viel später nach einer psychischen Krise, als der Vater wieder heiratet, nimmt er die Töchter wieder zu sich. Es geht wieder aufwärts. Er wird Finanzbeamter und übernimmt schließlich die Leitung der Gemeindebibliothek. Im Alter von 67 Jahren stirbt der Vater in der Bibliothek, beim Auspacken von Bücherkisten.

Nach „Die Bagage“ ist auch dieser Roman wieder sehr berührend. Ich selbst erinnere mich noch an Kinderzeiten, wo das Familienleben in der Küche stattfand, Hausaufgaben am Küchentisch gemacht wurden und das Wohnzimmer erst gegen Abend geheizt und betreten wurde. Das Hörbuch erschien beim Hörverlag, das Buch bei Hanser. Eine Hörprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

 

Maria Lazar: Leben verboten! Verlag Das vergessene Buch

„Ein Leben, das sich nicht verbieten läßt, weil es dafür, so wie für jedes Leben, denn doch noch einen anderen Wertmesser gibt als Geld, Valuta, Kaufpreis der Arbeitskraft und Brauchbarkeit im Produktionsprozeß.“

Bereits 1932 geschrieben ist der Roman „Leben verboten“ von Maria Lazar eine der schönen Wiederentdeckungen in der deutschsprachigen Literatur. Mich erinnerte das Buch sofort an „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz, an Mela Hartwigs „Inferno“ und sogar in der Art der Sprache an Irmgard Keun. Die österreichisch-jüdische Autorin Maria Lazar lebte, in Wien geboren, von 1895 bis 1948, wo sie in Schweden starb. „Leben verboten“ ist 1934 in einer englischen Ausgabe in ihrem Londoner Exil erschienen. Lazar war Dramaturgin und schrieb Stücke und Romane. Sie begegnete Literaten wie Canetti und Broch. Kokoschka hat sie porträtiert als „Dame mit Papagei“. Doch wie es so oft ist, wird sie als Frau so gut wie nie wahrgenommen oder erwähnt. Einfach vergessen.

Der Held in „Leben verboten“ ist ein Bankier, dessen Bankhaus jedoch in Konkurs zu gehen droht. Um das zu verhindern begibt sich einer der beiden Teilhaber, Ernst von Ufermann per Flugzeug von Berlin nach Frankfurt, um einen neuen Kredit zu erwirken. Kurz vor Abflug wird im die Brieftasche mit dem Flugschein gestohlen. Ufermann, der ohnehin ein wenig ängstlich wegen des schwierigen Treffens war, begibt sich erleichtert auf den Weg und lässt sich, was er sonst nie tut, durch die Stadt treiben. Nach Hause zu Frau und Villa mag er noch nicht und so geschieht es, dass er es zufällig aus der Zeitung erfährt: Er ist tot. Sein Flugzeug stürzte kurz nach dem Start ab, keine Überlebenden. Was nun? Ufermann ist klar, dass seiner Frau nun die riesige Lebensversicherung ausbezahlt wird und die Bank dadurch auch gerettet ist. Was tun? Ufermann, verwirrt und unentschieden wie er ist, taumelt durch die Stadt und gelangt schließlich in düstere Kreise: eine Prostituierte und ein Boxer schicken ihn, ausgestattet mit neuen Papieren und mit einem geheimnisvollen Päckchen, dass er ihm Zug über die Grenzen schmuggeln soll, auf die Reise nach Wien. Damit verdient er erstmal so viel Geld, dass er in dieser Stadt untertauchen kann.

Auf dieser Reise und dem anschließenden Aufenthalt tauchen wir Leser in Ufermanns reiche Gedankenwelt. So sehr er seinen künftigen Mitmenschen Rätsel bleibt, so viel erfahren wir über ihn und über die Zeit der Wirtschaftskrise, in der es massenweise Arbeitslose gibt, das Bürgertum teils verarmt und die Nationalsozialisten immer sichtbarer werden. Junge Menschen, die wenig Aussicht auf Arbeit haben oder als Studenten leben, werden geködert, sich für die große Sache einzusetzen. Ufermann gerät unwissentlich in diese Szene, weil er seinen Auftrag erfüllen und das Päckchen übergeben muss. Unterschlupf findet er dann im „Kabinett“ der Familie Rameseder durch einen der Burschenschafter, wo sich bald darauf die 15jährige Tochter in ihn verliebt. Ufermann spaziert fortan ziellos durch die Stadt und je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann er sich ja seiner Frau und dem Teilhaber offenbaren. Dass es sich diese beiden nun öffentlich gemeinsam mit dem Geld aus der Versicherung gut gehen lassen, weiß unser Held nicht.

Er ist ja nun Versicherungsbetrüger, denkt er mehr als einmal. Es gibt ihn ja gar nicht mehr. Von Ufermann heißt er ja auch nicht mehr. Er ist überflüssig. Lazar drückt das im Text oft drastisch aus: Leben verboten!

„Wie sind sie in eine solche Zwangslage gekommen? Gestehen Sie! Mein ganzes Leben lang habe ich mich immer nur benützen lassen, von meiner Frau, der Firma, der Versicherungsgesellschaft, bis sie mir alle miteinander das Leben verboten haben. Verboten? Sie haben sich das Leben verbieten lassen? Wie hunderttausend, wie Millionen andere das Leben sich verbieten lassen? Mein Leben war verwirkt. Verwirkt? Es hatte keinen Wert mehr, nicht einmal einen Preis. Begreifen Sie doch, Herr Professor, mein Leben bedeutete ein Minus auf dem Konto der Existenz, eine ganz ungeheure Schuld in Dollar, in Valuta – „

Aber dieses Leben verboten gilt auch für die schuftenden Dienstboten, für die, die keine Arbeit finden, die nur noch vor sich hinvegetieren ohne Aussicht auf ein gutes Leben. Ufermann, der ja eigentlich aus der wohlhabenden Schicht kommt, lebt und fühlt nun immer mehr auch mit den Armen. Je mehr Verstrickungen sich dann ergeben, desto unwohler wird Ufermann. Seine jungen Helfershelfer beschuldigen ihn des Verrats und überwachen ihn, da er mehr als einmal mit dem jüdischen Philosophie-Professor Dr. Frey im intensiven Gespräch gesehen wird.  Auch die Polizei wirft ein Auge auf ihn. Deshalb beschließt er mithilfe eines arbeitslosen Handwerkers die Flucht zurück. Wie es ihm dann in Berlin ergeht, als er seine Identität offenbart und die Wahrheit erzählen will, ist nicht minder komisch und absurd, als die Zeit in Wien und das Ende eine gelungene Überraschung.

Maria Lazar verließ Wien rechtzeitig und ging zunächst nach Dänemark, (mit Brecht und Weigel), dann nach Schweden ins Exil. Dabei kam ihr ihre frühere Heirat mit  einem Sohn August Strindbergs, durch die sie die schwedische Staatsbürgerschaft erlangte, zugute. Dort arbeitete sie auch als Übersetzerin. Aufgrund einer schweren Krankheit nahm sie sich dort 1948 das Leben.

Ihre Bücher erscheinen nun im Verlag Das vergessene Buch, dessen Name für sich spricht. Ein aufschlussreiches Nachwort von Johann Sonnleitner folgt am Ende des Romans. Es ist gut, dass es solche Verlage und solche Entdecker gibt. Es ist gut, dass immer mehr der vergessenen Geschichten, gerade von Frauen wieder sichtbar gemacht werden.

Sandra Gugić: Zorn und Stille Hoffmann und Campe Verlag

„Ein Bild hat die Kraft, die eigenen Vorstellungen zu überschreiben.
Ein Bild hat die Kraft, die eigenen Erinnerungen zu überscheiben.“

Die beiden Sätze könnten ein Leitmotiv des neuen Romans „Zorn und Stille“ von Sandra Gugić sein. Er weist auch auf die Lyrikerin Gugić hin. Erst 2019 erschien ihr Lyrikdebüt „Protokolle der Gegenwart“ im Verlagshaus Berlin. Für mich ist Sprache immer ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Aspekt für mein Lesen. Und hier treffe ich auf einen Roman, der es vor allem mit der Sprache schafft, sich abzuheben von den vielen Geschichten, die es bereits zum Thema gibt. Und hebt eben auch durch die Sprache das Besondere dieser Familiengeschichte hervor.

Billy Bana ist Fotografin, angesagt und erfolgreich, mit Ausstellungen in ganz Europa. Eigentlich heißt Billy Biljana Banadinović und hat die erste Zeit ihres Lebens bei den Großeltern im ländlichen Jugoslawien gelebt. Ihre Mutter Azra und ihr Vater Sima haben das Land lang vor den großen Kriegen verlassen und sind nach Wien emigriert. Die Tochter holten sie nach und in Wien kam dann auch Sohn Jonas Neven zur Welt. Die beiden Geschwister hielten fest zusammen. Erst als sich die 16-jährige Billy vom einengenden Elternhaus löst und in eine Kommune zieht, kommt es auch zum Abschied vom Bruder. Erst Jahre später werden sich die beiden wieder sehen, als Billy längst Karriere gemacht hat und mit der Galeristin Ira in Berlin zusammenlebt. Dass der labile Jonas sich rückbesinnt auf sein Herkunftsland, dass es so nicht mehr gibt und sich auf eine Reise durch das zerbrochene Land begibt, von der er nicht mehr zurückkehrt, macht das Familienzerwürfnis total.

„An diesem Punkt der Geschichte klafft die Lehrstelle. Von hier aus schien Jonas Nevens Abwesenheit stetig zu wachsen und zu wuchern. Von hier aus dachten wir uns wund, spielten alle möglichen Szenarien durch, versuchten zu rekonstruieren, was geschehen sein könnte und warum, ohne echte Anhaltspunkte zu haben.“

Die Autorin erzählt in Rückblenden, ausgehend vom Anruf der Mutter, die Billy mitteilt, dass der Vater gestorben ist. Beide begeben sich getrennt auf die Reise nach Beograd, wo der Vater beigesetzt werden wollte. Im ersten Teil erinnert sich Billy, während sie am Flughafen auf ihren Flug wartet, endlich an die bis zuletzt gemiedene Familienvergangenheit. Im zweiten Teil lesen wir aus dem Blickwinkel der Mutter und im dritten aus der Sicht des Vaters. Sowohl Azra als auch Sima kommen aus ländlichem traditionellem Elternhaus. Beide wollten raus, hatten ganz eigene Pläne von einem freien Leben. Beide gehen nach Beograd und begegnen sich zufällig. Azra wird schwanger, Sima verschwindet. Als sie dann doch wieder zusammen kommen, reisen sie nach Österreich mit dem Wunsch ein vollkommen anderes Leben als die Eltern zu leben. Doch was anfangs noch gelingt, dehnt sich in eine lange Zeit mit sich im neuen Land zurechtzufinden, Geld verdienen, Kinder versorgen und als Ausländer möglichst nicht aufzufallen. Alle Träume sind ausgeträumt, Wünsche unerfüllt geblieben. Der Ausbruch der Kinder aus dem ehernen „Familiengesetz“ verschlimmert die Entfremdung der beiden Eltern noch (die das ja eigentlich verstehen könnten, da sie ja einmal dasselbe wollten).

„Alles was wir machen, absolut alles, tun wir nur, um glücklicher zu werden. Selbst derjenige, der sich umbringt, tut das, weil er glaubt, im Tod glücklicher zu sein.“

Gugić` Blick ist ein genauer. Sie versucht einerseits die Innenwelt ihrer Protagonisten auszuleuchten, andererseits die Verbindung zu den äußeren Geschehnissen nicht zu verlieren. Alle Mitglieder der Familie sind eigentlich verschlossen, unstet und irgendwie verloren, jeder auf seine Weise. Dass Sohn Jonas Neven wirklich verloren geht und das auch noch im Land seiner Wurzeln, wirkt wie eine Verdeutlichung der Tragik. Für ihn ist diese Reise wichtig zum Verständnis seiner selbst, wie sich im Epilog zeigt. Und auch wenn der Jugoslawien-Krieg erst gegen Ende des Romans stärker in den Fokus rückt, wirkt er tief auf die Figuren ein. Am Beispiel Billys am Flughafen, als sie bei der Ankunft auf Serbisch angesprochen wird und die Sprache kaum mehr versteht, weil sie eben vor dem Krieg Serbokroatisch war und sie ohnehin nur noch deutsch spricht, zeigt sich wieder der Zwiespalt. Auch die zwei Ausweise, die sie besitzt machen sie zur Außenseiterin. Oder bei Vater Sima, der von seinen Arbeitskollegen ausgefragt wird, wie er denn zum Krieg seiner „Landsleute“ stehe und auf welcher Seite.

Die 1976 in Wien geborene, in Berlin lebende Autorin hat die Geschichte eines starken und dennoch fragilen Familiengeflechts geschrieben, die mir sehr gefällt und mit ihrer ausgefeilten Sprache durch ihre Bilder lebt; womöglich so wie aus dem genauen Blickwinkel einer Fotografin …

Der Roman erschien im Hoffmann und Campe Verlag. Mehr über Buch und Autorin gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.