
„Es ist der achtzehnte November.“
Es spricht immer für die Qualität eines Buches, wenn ich schon während des Lesens beginne einen Blogbeitrag dazu zu schreiben. Es bedeutet nämlich, dass ich sprühe vor Begeisterung, dass ich diese gern teilen möchte, dass ich mir wünsche einige Leser würden das so empfinden können wie ich. Solvej Balle hat so ein Buch geschrieben. Es ist ein bisschen ähnlich dem Gefühl, dass ich zu Navarros „Über die See“ geschrieben habe. Hier bezieht es sich auf den Versuch, die Welt zu verstehen. Denn die Gedanken, die sich die Hauptfigur, hier im Wortsinn auch Heldin, über das Dasein macht, nachdem ihr ein seltsames Zeitphänomen das Leben durcheinanderbringt, die mache ich mir fast täglich. Wie kann man eigentlich nicht darüber nachdenken, welche Zusammenhänge es sind, die unser Leben zusammenhalten, Warum überhaupt dieses Leben? Wie spielt alles ineinander? Was ist Zeit? Gibt es sie wirklich? Gibt es mich wirklich? Was ist Wirklichkeit?
Tara Selter ist Buchhändlerin und betreibt zusammen mit ihrem Mann Thomas einen Handel mit antiquarischen, oft wertvollen Büchern. Die beiden wohnen in einem Haus in einer kleinen französischen Stadt, von dem aus sie ihrer Arbeit nachgehen, von der sie inzwischen gut leben können. Als Tara unterwegs ist auf einer Antiquariatsmesse in Bordeaux und bei einem Zwischenhalt Freunde in Paris trifft, passiert es. Ihr kommt die Zeit abhanden. Viel mehr steht sie still. Sie kommt nicht mehr aus dem achtzehnten November heraus. Es beginnt ein neuer Tag und es ist wieder der 18. November. Schon, wie Balle hier beschreibt, wie Tara es erlebt, dass sie offenbar allein ist mit dieser Situation, ist beeindruckend. Das liegt auch an der bemerkenswerten Sprache, die die Autorin Tara in ihre Gedanken legt.
„Seltsam, dass man vom Unwahrscheinlichen derart in Unruhe versetzt werden kann, denke ich nun. Wo wir doch wissen, dass unsere ganze Existenz auf Merkwürdigkeiten und unwahrscheinlichen Koinzidenzen beruht. Dass wir es diesen Merkwürdigkeiten verdanken, überhaupt hier zu sein. Dass es auf diesem Etwas, das wir unseren Planeten nennen, Menschen gibt, dass wir auf einer rotierenden Kugel verkehren können, in einem unermesslichen Weltraum voll unbegreiflich großer Objekte …“
Wie sie beim Frühstück im Hotel merkt, dass dem Gast am Nachbartisch in ganz gleicher Weise seine Brotscheibe zu Boden fällt, wie am Vortag. Wie sie überall nach dem Datum Ausschau hält, auf Zeitungen, Kalendern, dem Telefon und wie der Rezeptionist es ebenfalls bestätigt. Es ist der achtzehnte November. # 2. Wer jetzt allerdings an Bill Murray in „Und täglich grüßt das Murmeltier“ denkt, sollte sich auf etwas ganz anderes einstellen (obwohl der Verlag den Erscheinungstag auf den Murmeltiertag, den 2.2. gelegt hat). Für Tara geht es mehr um die inneren Geschehnisse, nicht darum das Außen zu verändern/zu verbessern.
Tara telefoniert mit ihrem Mann und erzählt ihm, was ihr passiert ist. Sie beschließen, sie solle noch am selben Tag nach Hause kommen und sie würden gemeinsam überlegen, was zu tun ist. So vergeht der Abend. Thomas glaubt ihr, verfällt aber in eine gewisse Unruhe. Am nächsten Morgen ist wieder der 18. November und Thomas wundert sich, weshalb seine Frau zuhause ist. Tara erzählt ihm alles aufs Neue und so wird es weitergehen. Jeden Morgen muss sie ihm neu erzählen, was geschehen ist, da für ihn der Tag völlig neu ist. Man kann sich vorstellen, wie anstrengend das für Tara ist. Sie beginnt Buch zu führen, wie viele 18. November sie bereits erlebt hat.
„Oder wie die Morgen der Kindheit, die wie ganz normale Tage daherkommen, bis sich plötzlich herausstellt, es ist Weihnachten oder Geburtstag. Oder umgekehrt, man räkelt sich, ist bereit für einen gewöhnlichen Morgen, bis man entdeckt, dass man mit einem Kummer, mit einer Unruhe aufgewacht ist, die während der Nacht verschwunden waren.“
Eines Tages hat sie keine Kraft mehr Thomas alles immer wieder zu erzählen und zieht stillschweigend heimlich ins Gästezimmer. Lässt damit Thomas in dem Glauben, sie sei nach wie vor noch in Paris. Das geht eine Weile gut. Sie passt sich dem Verlauf von Thomas Tagen an. Sie lässt sich durch die Tage treiben, sie vergehen schnell, sie wartet auf die Normalität in Form des 19. November. Dann startet sie einen neuen Versuch mit Thomas. Sie studieren zusammen Zeit-Phänomene, wissenschaftliche Abhandlungen, Paralleluniversen etc. Doch auch das strengt Tara auf Dauer über die Maßen an. Sie zieht sich wieder zurück. Es kommen Launen, die die Hoffnung ablösen, es kommen Phasen, in denen sie Thomas hinterher geht und beobachtet. Es kommt eine Phase, die unendlich zäh verläuft oder eine Phase der Gewöhnung. Tara erinnert und schreibt. Wozu weiß sie selbst nicht genau, aber sie dokumentiert ihr Leben. Es gibt ja sonst nicht viel zu tun.
„Wie war der Schaden entstanden? War es eine Begebenheit, die zu erklären war, oder ein Zufall, ein unabwendbares Ereignis? Die Zeitverwerfung, wo ist sie passiert? Was habe ich an dem Tag gemacht, als die Zeit aus den Fugen geraten ist? Gab es Schuldige? Hatte jemand einen Fehler begangen und wenn ja, welchen?“
Man muss sich das Ganze nur einmal für sich selbst durchspielen und hat schnell eine Ahnung davon, dass man dabei eigentlich nur verrückt werden kann. Mangels Abwechslung entdeckt Tara nun nachts den Sternenhimmel. Sie kauft sich ein Teleskop und setzt sich Nacht für Nacht in den Garten. Bald schon zieht sie aus, sie spürt, wie sie Thomas verliert. In ein leerstehendes Haus zieht sie um. Und sie macht Pläne für den Jahrestag. Bald hat sie den 18. November 365 x erlebt und in der Hoffnung nach einem Jahr auf irgendeine Weise aussteigen zu können, endlich normal weiterleben zu können, fährt sie an den Ort des Geschehens zurück, nach Paris …
Die Geschichte gliedert sich in Einträge aus Taras Tagebuch, dass sie seither führt. Es endet mit dem Eintrag #366. Wir erleben dadurch sehr dicht ihre Lebenssituation und ihre Stimmung, die sich im Verlauf stark verändert. Letztlich bleibt sie ganz auf sich gestellt, denn wer sollte ihr glauben? Je mehr Zeit vergeht, desto weniger … Glauben wir ihr als Leser*innen? Balle zeigt sehr deutlich, wie sicher wir uns in unserem Leben fühlen, wie stark wir an Normalität glauben. Dabei kann sehr schnell alles aus den Fugen geraten. Ist das Leben, das Dasein denn überhaupt normal? Ist nicht alles viel zu komplex, um funktionieren zu können? Für mich ist das ein Buch, dass endlos viele Fragen in mir aufsteigen lässt. Es bietet uns keine Story im eigentlichen Sinn. Und doch greift es in mein Leben ein und verstärkt die Fragen, die ich ohnehin ständig mit mir herumtrage und die mit aller Wahrscheinlichkeit nie beantwortet werden. Beinahe ist es eine ruhige Meditation über die Wahrnehmung unseres Daseins. Das Buch hat einen stimmigen Schluss. Ich bin sehr in Erwartung des nächsten Bandes. Zeitloses Leuchten!
„Über die Berechnung des Rauminhalts I“ erschien im Matthes & Seitz Verlag. Übersetzt aus dem Dänischen hat es Peter Urban-Halle. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.