Gøhril Gabrielsen: Zwischen Nord und Nacht Insel Verlag

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Tod, deine Umarmung ist nicht kalt
die Erde zu Asche verwandelt
ich bin selber das Feuer.

Edith Södergran, Gedichtauszug aus dem Band „Feindliche Sterne“

Die norwegische Autorin Gøhril Gabrielsen erzählt die Geschichte einer komplexen Mutter-Tochter-Beziehung und verknüpft sie mit der Geschichte der finnlandschwedischen Lyrikerin Edith Södergran und deren Mutter. Obiges Zitat findet sich auch im Titel eines Hörbuchs mit Gedichten und Briefen Södergrans. Ich habe mir die CD, die im Kleinheinrich Verlag erschien (leider ist sie vergriffen) parallel zur Buchlektüre angehört. Die Lyrikerin starb jung, mit nur 30 Jahren an Tuberkulose, wie zuvor schon der Vater. Ihre Gedichte finden leider viel zu wenig Beachtung.

„… denn aus den Worten „der Mond erzählt mir in silbernen Runen / vom Land, das nicht ist“ begriff ich plötzlich, dass der Boden, auf dem ich saß, und das Zimmer, das mich umgab, eine unsichtbare und ganz andere Wirklichkeit verbargen, einen Ort, an dem die Vernunft nicht gilt und an dem sie all demjenigen, was unaufhörlich im Werden begriffen ist, nachgibt. Eine Welt, in der sich die Seele manifestiert und Gedichte entstehen können.“

Gabrielsen beginnt die Geschichte mit der Geburt der Tochter der Hauptfigur, die auch Erzählerin ist. Gleich Eingangs berichtet sie, dass ihr an der Lektüre der Gedichte Södergrans sehr viel gelegen ist. So wird parallel zu den eigenen Erfahrungen der Mutterschaft, die von Helene Södergran erzählt. Immer wieder fließen hier auch Gedichtauzüge Edith Södergrans in den Roman mit ein.


Ich freue mich sehr über diese Lektüre, denn wie hier über Mutterschaft erzählt wird, empfinde ich als stimmig. Hier wird nichts beschönigt, hier steigt man gleich ein in die Schwierigkeiten. Hier erzählt eine Mutter, die sich ihrer selbst nicht sicher ist und daher besonders viel Wert auf Erziehung und die Beziehung zu ihrer Tochter legt. Eine Mutter, die schwankt zwischen Überbehütung und Vernachlässigung. Es geht um unsichere Bindung in der Kindheit, es geht um Traumata.

„Das altbekannte Gefühl der Unzulänglichkeit kehrte mit Macht zurück. Es flammte auf wie eine akute Entzündung, wieder hatte es mich erwischt, diesmal aber schwerer als jemals zuvor. […] Es war ein heftiges und dunkles Gefühl, von einer dünnen, dünnen Kruste bedeckt, einem Firnis so zart, dass der kleinste Fehltritt meinen Fehler noch deutlicher hervortreten lassen würde und alles Schlimme noch schlimmer machte.“

Norwegen, Gegenwart: Wir folgen der Gedankenflut der Erzählerin, die zurückblickt und überlegt, wo sie etwas falsch gemacht haben könnte. Denn es hat sich Schlimmes ereignet, die Tochter betreffend. Immerfort geht es um Schuld, um die Frage der Verantwortung. Es geht um das richtige Maß an Freiheit und das richtige Maß an Strenge. Es geht um Liebe, die freiwillig ist und nicht abhängig von dem, wie sich das eigene Kind verhält. Es geht um das Fingerspitzengefühl an zu viel und zu wenig Unterstützung. Als Leserin spüre ich immer wieder, wie sich hier Übergriffigkeit zeigt, wie hier Grenzen überschritten werden. Ein Spagat zwischen Festhalten und Loslassen.

„Ich frage mich, ob mein Leben wie all die Kreuzungen, die ich passiere, auch andere Richtungen hätte einschlagen können. Ob es Anlagen zu unterschiedlichen Versionen meiner selbst gegeben hat, oder ob ich von Beginn an als Einbahnstraße zu betrachten bin, also keine Wahl habe und von Anfang bis Ende nur dieser einen Strecke folgen kann.“

St. Peterburg/ Raivola, Anfang des 20. Jahrhunderts: Ganz ähnliches erlebt Helena, Edith Södergrans Mutter, die sich um die Pubertierende sorgt, weil sie einmal vorlaut ist und eigen und dann wieder zurückgezogen und einsam erscheint. Aus diesem Grund holt Helena eine Pflegetochter ins Haus, ein Mädchen vom Land, das seine Eltern verloren hat. Sie hofft darauf, damit Edith eine gleichaltrige Freundin zu schenken. Doch die beiden verstehen sich nicht. Was sicher auch mit daran liegt, dass Helena Singa eher wie ein Hausmädchen behandelt und nicht wie eine gleichwertige Tochter. Eines Tages nach unschönen Vorfällen verschwindet Singa und wird kurz darauf tot aufgefunden. War es Suizid oder ein Unfall? Helena fragt nach der Schuld, versucht sich davon frei zu machen, verfällt jedoch einer Schwere, die sich auch auf Edith ausweitet.

Bei der Erzählerin ist die Tochter bereits aus dem Haus, ist in die Großstadt gezogen und hat ein Studium begonnen. Sie beginnt eine Beziehung, stellt der Mutter ihren Freund Tor vor, den diese nett findet, aber auch ein wenig seltsam. Auch hier geht es wieder darum: Inwiefern darf ich mich einmischen? Kann ich kritische Fragen stellen oder wirkt das, als würde ich der Tochter das Glück nicht gönnen? Die Erzählerin entscheidet sich dafür, sich zurückzuhalten, der erwachsenen Tochter zu vertrauen. Bis ihr eines Tages seltsame Geschichten über die Beziehung der beiden erzählt werden. Und bis die Tochter eines Abends vollkommen aufgelöst vor der Haustür ihrer Mutter steht …

Ich mag die Art, wie Gøhril Gabrielsen ihre Geschichte erzählt. Ich mag ihre feine, genaue Sprache, die ich oft sehr poetisch finde und die immer auch zum Inhalt passt. Auch die Form gelingt ihr: sie erzählt abwechselnd aus der Gegenwart und der Vergangenheit, abwechselnd von beiden Müttern. Dabei schiebt sie mitunter Ideen ein, was die beiden jeweils hätten sagen oder denken können, was sie in dieser oder jener Konstellation getan hätten. So fühle ich mich stark mit einbezogen und überlege mit. So werde ich auch auf mich selbst zurück geworfen, was Mutter-Tochter-Beziehungen angeht. Und sie hinterfragt klug den Wunsch als Mutter perfekt sein zu wollen und geht dabei in die Tiefe. Für mein Empfinden ist dieses Buch rundum gelungen. Dazu gehört natürlich die wunderbare Übersetzung aus dem Norwegischen von Hanna Granz. Und ich möchte dem Roman sogar ein zum Schauplatz passendes Aurora-Borealis-Leuchten mitgeben.

Zwischen Nord und Nacht“ erschien im Insel Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.