
Diesen kurzen Roman muss ich unbedingt noch nachreichen. Er sollte bei den liebsten Romanen 2022 dabei sein. Ich habe ihn spontan gekauft und an einem Nachmittag beglückt ganz durchgelesen. Es sind nur etwa 150 Seiten und ich habe sehr langsam gelesen, um die Sprache einwirken zu lassen. Es ist eine ganz besondere, oszillierend leuchtende Geschichte. Ich habe folgendes beim lesen dazu notiert:
„… das Gefühl bei den allerersten Zeilen eines Buches, zu wissen, dass es das richtige ist. Wenn die Sprache sofort leuchtet und ganz tief und zugleich weitend im Körper zu spüren ist und in Verbindung mit der eigenen tritt. Ein Ankommen, das Gefühl einer großen Freude, dass es so etwas gibt. Etwas, dass ich nicht (mehr?) in menschlichen Begegnungen finde. Aber in der geschriebenen Sprache anderer Menschen bisweilen schon.“
Vom Inhalt des Textes möchte ich nur wenig erzählen, denn es wäre schade zu viel zu verraten und es würde den Lesegenuss mindern. Nur soviel: Es geht um eine Kapitänin eines Frachtschiffes, die eine zwanzigköpfige ausschließlich männliche Crew zu führen hat und sich den Respekt hart erarbeitet hat. Als Tochter eines Kapitäns war es für sie nie eine Frage, dem Vater im Beruf nachzufolgen. Auf einer Überfahrt von Europa in die Karibik öffnet sich die Kapitänin dem außergewöhnlichen Wunsch der Mannschaft, einmal im Ozean schwimmen zu dürfen. Sie sagt: „Einverstanden“. Und dieses Einverstanden kommt ihr plötzlich selbst seltsam vor, durchbricht es doch schließlich die strengen Hierarchien, die für die Führung eines Schiffes notwendig sind. Auch weiterhin passiert Unerwartetes auf dieser Reise …
„In die vertraute Geste, die Geste der Arbeit, die Tag für Tag wiederholte Geste hat sich eine Verzögerung eingeschlichen. Eine winzige Verzögerung, die es vorher nicht gab, eine Sekunde in der Schwebe. Und in dieser schwebenden, dieser verschwommenen Sekunde hat sich sofort das restliche Leben ausgebreitet, hat es sich bequem gemacht und seine Folgen nach sich gezogen.“
Der wunderbare Anfang des Romans, S.7
Die Französin Mariette Navarro hat eine Sprache, die mich sofort trifft. Ich lese den ersten Absatz und jubiliere innerlich. Das kommt so selten vor. Bei Gedichten kenne ich das auch. Ich weiß dann sofort, dieses Buch ist für mich geschrieben. Kennt Ihr das? Es ist das Schönste, was mir als Leserin passieren kann. Ich fühle mich be-seelt. Die Autorin kann Geschehnisse und Dinge um-schreiben und ausschmücken oder reduzieren auf die Essenz. Sie schickt mir Metaphern und Wortgefüge, ich die ich mir sofort zu eigen machen möchte. Es ist eine sinnliche, bildhafte Sprache, die sowohl innermenschliche Befindlichkeiten, als auch Außenwelten unglaublich treffend einfängt.
„Es gibt Seefahrer, von denen manche nie das Meer gesehen haben und die sich selbst nie so nennen würden., weil sie diese Bezeichnung nicht kennen. Sie haben etwas von Vermissten an sich, während man mit ihnen spricht, während man sie ins Leben drängt, um die Angst zu bannen, sie berührt und ihnen Versprechen abringt.“
S. 35
Hinzu kommt der Schauplatz, der durchweg auf dem Wasser, dem Ozean spielt. Auf einem Schiff „Über die See„. Tagelang nur umgeben von Meer, kein festes Land unter den Füßen. Das Schiff wird zur Insel. Für Wassermenschen, wie ich einer bin, ist dieses Buch ein Geschenk. Es ist außerdem eine Vater-Tochter-Geschichte, aber nur wenn man es als solche lesen will. Ich will. Mir hat es gerade in diesem Kontext viel gegeben. Und es hat für mich auch eine spirituelle Dimension, ein Geheimnis, wie etwa gute Gedichte es haben. Es spricht auch von Begebenheiten, die sich dem allzu strengen Verstand entziehen, aber nur, wenn man es so lesen will. Ich will. Meeresleuchten am letzten Tag des Jahres!
Die Übersetzung kommt von Sophie Beese. Eine Leseprobe gibt es hier: https://www.book2look.com/vBook.aspx?id=978-3-95614-510-0