
Jonathan Franzen hat mit seinem neuen Roman Crossroads wieder einen 800-Seiter geschrieben. Und ich muss sagen, ich mag solch dicke Bücher immer mehr. Denn hier ist tagelanges Eintauchen und Hineinversetzen möglich, hier ist Weltflucht möglich. Und da der Roman in den 70er Jahren spielt, ist der Inhalt weitab von unserer täglichen Realität, was mir sehr zupass kam. Auch gefallen hat mir, dass sich der komplette Inhalt um Religion, Familienstrukturen, um „Gut und Böse“ und moralisches Handeln, ums Menschlichsein dreht. Aus verschiedenen Richtungen und in all seinen Facetten beleuchtet er dieses Thema und bleibt dennoch sehr unterhaltsam. Das ganze ist auf drei Teile angelegt. Ich hätte am liebsten direkt weitergelesen. Franzen ist und bleibt einfach ein sehr guter Erzähler.
Fast der gesamte Roman spielt am Tag vor Heiligabend (1971) und dann in einem Sprung weiter an Ostern. Stimmig ist diese Anlage ausgerichtet auf kirchliche Feiertage durchaus, ist einer der Hauptprotagonisten doch Pfarrer. Wir begegnen den einzelnen Familienmitgliedern nach und nach in einzelnen Kapiteln, die sich dann teils ineinander verschlingen. Fast alle Protagonisten tragen sehr viele Selbstzweifel und Schuldgefühle in sich und können, zumindest anfangs, nicht aus ihrer Haut.
Da ist zunächst Russ Hildebrandt, Pfarrer der kleinen Vorstadtgemeinde New Prospect, Familienvater von vier Kindern und Ehemann von Marion. Er ist in einer Midlife-Crisis, seit längerem mit seiner Ehe und irgendwie auch mit seinem Beruf unzufrieden, vor allem seitdem ihm der jüngere Rick Ambrose als Leiter der Jugendgruppe „Crossroads“ den Rang abgelaufen hat. Er hat sich in die verwitwete, gerade zugezogene jüngere Frances Cottrell, verliebt, die nun an diesem Tag mit ihm als Gemeindehelferin Weihnachtsgeschenke an die ärmeren in einem vorwiegend schwarzen Stadtviertel, verteilen will. An diesem Tag ist ein Schneesturm angesagt und tatsächlich läuft alles anders als geplant, auch mit Frances.
Wir begegnen Perry, dem hochbegabten aber wenig gesellschaftsfähigen 15-Jährigen, den seine Familie anödet und der in allem unterfordert ist. Er ist derjenige, der sich am meisten im Denken und im Philosophieren bis an seine Grenzen verrennt.
„Also meine Frage ist wohl“, sagte er, „ob gute Werke wirklich um ihrer selbst willen getan werden können oder ob sie bewusst oder unbewusst, immer einem persönlichen Zweck dienen.“
Pfarrer Walsh und der Rabbi tauschten Blicke, in denen Perry freudige Überraschung ausmachte. Es verschaffte ihm Genugtuung, ihre Erwartungen an einen Fünfzehnjährigen auf den Kopf zu stellen.“
Er verstrickt sich schon als Teenager in kleine Drogengeschäfte, was in der Familie aber zunächst unentdeckt bleibt, weil vor allem jeder mit sich selbst zu tun hat. Um seine Schuldgefühle und seinen Groll gegen den Vater in den Griff zu kriegen und ein besserer Mensch zu werden, landet er bei den gruppentherapeutischen Abenden von Ambrose.
„Als Becky zu Crossroads kam beherrschte er das Spiel bereits. Das Ziel war, dem Kern der Gruppe näherzukommen, einer aus dem inneren Kreis zu werden, indem man die Regeln befolgte, die Ambrose und die anderen Betreuer vorlebten. Es waren Regeln, die ein der Intuition zuwiderlaufendes Verhalten einforderten. Anstatt einen Freund mit Flunkereien zu trösten, sagte man ihm die unliebsame Wahrheit. Anstatt die Verklemmten, hoffnungslos Uncoolen zu meiden, ging man zu ihnen und ließ sich auf sie ein …“
Bei einem der Treffen wird ihm in einer Übung als Partnerin seine 17-jährige Schwester Becky zugelost, was fatal ist, da sie ihm gehörig den Kopf wäscht. Ehrlichkeit und Gefühle zeigen ist in dieser Gruppe oberstes Gebot. Becky ihrerseits ist eigentlich nur bei Crossroads dabei, weil sie sich in den begehrten Rockmusiker Tanner verliebt hat und er eine der tragenden Säulen der Gruppe ist. Sie ist beliebt und gutaussehend, aber eben ohne Ecken und Kanten. Gerade diese faszinieren sie an Tanner. Becky ist im Zwiespalt, denn sie hat Geld geerbt von ihrer verstorbenen Lieblingstante; die Eltern verlangen von ihr dies mit den Geschwistern zu teilen, wozu sich sich aber nicht wirklich entschließen kann. Sie wird später mit ihrer Familie brechen.
Clem, der Älteste, studiert bereits und hat eine Freundin. Clem möchte seinem Vater eins auswischen, in dem er sein Studium abbricht und sich freiwillig zur Army für einen Einsatz im Vietnam-Krieg meldet, auch weil er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, dass er studiert, während andere für das Land kämpfen. Den Brief schickt er nach langem Zögern ab, kurz vor der Abfahrt nach Hause. Doch der Besuch zuhause erweist sich auf mehreren Ebenen als Reinfall und Clems Wege führen letztlich ganz woanders hin …
Besonders viel Raum, und in meinem Empfinden zu recht, erhält Marion, die Frau von Russ. Hausfrau und Mutter, Pfarrersfrau, die fast alle Sonntagspredigten für ihren Mann schreibt. Sie leidet unter ihrem Übergewicht und darunter, dass Russ sich nicht mehr für sie interessiert. Deshalb geht sie zur Therapie. Auch an diesem Tag vor Heiligabend und in einer sehr langen Sitzung, die einen Durchbruch bringt, erfahren wir Marions ganze Lebensgeschichte, die ich wirklich für großartig auserzählt halte. Marion ist für mich auch die interessanteste Figur in diesem Roman. Marion hat einige Krisen hinter sich, als sie Russ begegnet und denkt, nun beginne endlich das gute Leben. Sie hat eine Abtreibung hinter sich, eine unheilvolle Beziehung mit einem verheirateten Mann und einen Psychiatrieaufenthalt. Danach wendet sie sich Gott zu. Von ihrer Vergangenheit hat sie ihrem Mann und den Kindern nie etwas erzählt. Sie macht auch im Verlauf des Romans die größte Entwicklung durch.
Ostern: Die Crossroads-Gruppe unter Ambros plant eine Reise in ein Navajo-Reservat, wo Russ bereits seit vielen Jahren den Indigenen beim Ausbau ihrer Dörfer hilft. Diesmal fährt Perry mit und Russ konnte auch Francis Cottrell, deren Sohn ebenfalls teilnimmt, überzeugen mitzufahren. Russ will Frances nun zeigen, was er kann und wie toll er in seiner Arbeit bei und mit den Indigenen aufgeht. Dass diese Arbeit seitens der Einwohner gar nicht mehr gewünscht ist, verdrängt er, bis es eben zu unschönen Auseinandersetzungen kommt. Wegen Francis verletzt er mehrfach seine Aufsichtspflicht. Und Sohn Perry ist weit von seinem Entschluss entfernt, ein besserer Mensch zu werden und er löst letztendlich auch das komplette Chaos aus und damit das Ende der Reise.
„Und so vergrößerten sich die Wellenkreise, die der Schaden zog. Fortan würde Judson ein Junge mit einem psychische kranken Bruder sein.“
Wer im Roman fast immer fehlt, ist der jüngste Sohn Judson. Er spielt eine sehr kleine Rolle, was sich hoffentlich mit der Fortsetzung ändert.
Viele Kritiken hielten Franzens Roman bzw. seine Erzählweise für altmodisch. Es fällt mir schwer, das zu beurteilen, aber wenn es so ist, hat es dem Roman, wie ich finde gut getan. Es ist für mich ein Buch, in dem Handlung wie Sprache stimmig korrespondieren und wer weiß, ob sich der Ton in den nächsten beiden Bänden nicht verändert und sich dem Verlauf der Zeit anpasst. Ich bin gespannt.
Der Roman erschien im Rowohlt Verlag. Übersetzt hat ihn Bettina Abarbanell. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Eine weitere, weitaus tiefer blickende Besprechung gibt es auf dem empfehlenswerten Blog „Kommunikatives Lesen“.
Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.
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