Aras Ören: Berliner Trilogie Verbrecher Verlag

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Aras Örens drei Poeme aus den 70er und 80er Jahren sind nun in einem Band zusammengefasst neu erschienen. Der 1939 in Istanbul geborene Autor, Journalist und Schauspieler lebt seit 1969 in Berlin und hat für diese Ausgabe ein kurzes Vorwort geschrieben. Seine Texte schrieb er auf Türkisch, sie wurden übersetzt von H. Achmed Schmiede, Johannes Schenk, Jürgen Theobaldy und Gisela Kraft.

Die „Berliner Trilogie“ unterteilt sich in die drei Kapitel „Was will Niyazi in der Naunynstraße?“, „Der kurze Traum aus Kagithane“ und „Die Fremde ist auch ein Haus“. Figuren aus dem ersten Kapitel tauchen auch in den folgenden wieder auf. Ören beginnt ausgehend von einem Mietshaus in der Naunynstraße in Berlin Kreuzberg die Geschichte seiner Bewohner zu erzählen. Überwiegend sind es türkische Gastarbeiter, die hier wohnen. Die Miete ist bezahlbar und der Arbeitstag lang. So lernen wir gleich eingangs Niyazi Gümüşkiliç kennen. Anhand seiner Lebensgeschichte erkunden wir die Geschichten der im Haus und in der Straße lebenden Menschen. Ören erzählt nicht chronologisch und auch nicht sachlich. Seine Texte sind Poesie und durch diese Form sehr dicht und von eigentümlicher Schönheit. Diese teils düsteren, teils aufleuchtenden Geschichten in Lyrikform zu lesen ist ein außergewöhnliches Leseerlebnis.

„Es schneit in Berlin.
Die Temperatur ist 3 Grad unter Null.
Die Naunynstraße ist zugefroren.
Ihre Häuser sind fertig zum Aufwachen.

Niyazi Gümüşkiliç aus der Naunynstraße
geht mit schnellen Schritten,
wie Mitte September,
zum Blaufischfang in der Bucht von Bebek
geht er spät, mit schnellen Schritten,
den Kopf tief zwischen den Schultern
zur Nachtschicht.“

Ich erfahre viel über die „Gastarbeiter“, ein Begriff, den ich aus Kinderzeiten noch im Ohr habe. Ich lerne hier viel über die Geschichte der Türkei. Ich erfahre von denen, die zunächst von Anatolien nach Istanbul gingen, auf der Suche nach einem besseren Leben und um die Familie zu ernähren. Über die Wege, die sie weiter nach Deutschland führten, die großen Hoffnungen und die oft auch enttäuschende Ankunft. Ören stellt mir Menschen persönlich vor, schafft Nähe zu ihnen und lässt mich dicht dran miterleben, wie jeder einzelne vom Schicksal gezeichnet ist. Ich lese aber auch über Freundschaften, die entstehen und über Arbeiter, die sich zusammenschließen, über eine Zeit, in der Gewerkschaften noch mehr bewirken konnten und ja, auch über Zusammenhalt.

„Fangen wir erst einmal zu sprechen an,
fangen wir erst einmal an zu erzählen
von unserem Leben, unserem Kampf,
schwer und roh spricht die Geschichte aus jedem Mund,
denn, nicht wahr, was haben wir alles erlebt,
während wir die Werkzeuge in den Händen hielten.
Und was wir erlebt haben, zeigt sich
darin, wie wir leben.“

Der erste Teil wirkt auf mich am stärksten, obgleich er am leichtesten zu lesen ist. Hier schwingt Sprache im Rhythmus der Straße. Hier ist das Kreuzberg der 70er Jahre, das bald Klein-Istanbul genannt wird. Kreuzberg 36, dass direkt an die Mauer zu Ostberlin grenzt. Ören lässt sie alle zu Wort kommen. Die Müllfahrer, die Fabrikarbeiter/innen, die Gewerkschaftler, die Arbeitslosen, die kommunistischen Aktivisten. Die Witwe Frau Kutzer kommt ebenso zu Wort, wie Kazim oder Süleyman oder die 15-jährige Emine.

„Das Haus, das sind drei Zimmer
aus vier Wänden.
Im Kissen, dass ich sticken mußte,
steckt meine Geduld, mein Traum, meine Hoffnung.
Wenn ich groß bin, kann ich nicht Ärztin werden,
nicht Beamtin, nur ein Kissen,
und auf dem Kissen eine Stickerei,
während ich in den Gebäuden der Fremde
Fußböden wische wie meine Mutter.“

Aras Örens drei Poeme sind ein wichtiges Stück Zeitgeschichte. Dass es sich um Gedichtzyklen handelt ist an der ausdrucksstarken Sprache zu spüren, sollte aber niemanden abschrecken, sie nicht zu lesen. Denn sie sind spannend und fließend zu lesen und ganz und gar unverrätselt. Große Empfehlung!

Das Buch steht auf der Liste der Lyrikempfehlungen 2020, die ich Lyrikfans unbedingt ans Herz legen kann.

Die Berliner Trilogie erschien im Verbrecher Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert Verbrecher Verlag

Cover

„Auch wenn man als Frau anscheinend immer damit rechnen muss
und es das Schlimmste zu sein scheint, was passieren kann, ist es doch
nichts, was wirklich geschieht. So wie es keinen Krieg in Deutschland
gibt oder man ständig Angst haben muss zu sterben. Vergewaltigung
passiert anderen Leuten.“

Ungewöhnlich angelegt hat Bettina Wilpert ihren Debütroman über eine Vergewaltigung. Er speist sich aus verschiedensten Stimmen, die alle über das Geschehnis berichten und doch sagt jede etwas anderes. Selbst die beiden Stimmen der tatsächlich Beteiligten werden hinterfragt. Dieses Buch zu lesen, bedeutet, auch die eigene Stimme am Ende einzubringen, sich ein Bild zu machen, nicht unbeteiligt zu bleiben.

Ausgangspunkt ist Leipzig im Sommer der Fußball-WM 2014. Die Studentin Anna und der Doktorand Jonas lernen sich durch Freunde kennen und merken, dass sie ähnliche Interessen haben, nämlich Literatur und Osteuropa. Anna selbst stammt aus der Ukraine, Jonas hat ein Praktikumsjahr dort verbracht und so kommt es zwischen beiden zu regen Diskussionen.

„Anna mochte es nie, wenn jemand fragte: Wie geht’s? Niemand erwartete eine ehrliche Antwort, die Lüge war gesellschaftlich akzeptiert. Die Leute wurden aus dem Konzept gebracht, wenn man die Wahrheit sagte: Schlecht. Oder: Scheiße. Anna hasste es, ein Gespräch auf Lügen aufbauen zu müssen, am liebsten hätte sie immer die Wahrheit gesagt, ihre echte Gefühlslage geschildert, aber das hätte gegen die Konventionen verstoßen.“

Als beide bei einer Gartenparty zuviel getrunken haben und kaum mehr zurechnungsfähig sind, kommt es laut Anna zur Vergewaltigung, laut Jonas zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr. Anna erzählt zunächst nur ihrer Schwester davon. Als Anna die Tat später anzeigt, fällt Jonas aus allen Wolken. Die „Sache“ breitet sich in Studentenkreisen recht schnell aus und je nachdem, wird Jonas oder Anna gemieden, ja ausgeschlossen. Je nachdem auf welcher Seite man steht. Denn dass man sich entscheiden muss, wem man glaubt und wem nicht, scheint ein Muss zu sein. Ein Dazwischen gibt es nicht …

„Alle sprachen darüber. Vor der Albertina diskutierten Studenten, die Hannes nie zuvor gesehen hatte, über den Fall: Über den jungen Doktoranden, der von einer Studentin angezeigt wurde, weil er sie vergewaltigt haben soll. Abends, wenn er sich beim Späti ein Radler holte und sich mit Freunden am Herderpark traf, gab es kein anderes Thema als den gewalttätigen Vergewaltigter und das schutzlose Opfer. Die junge Frau, die betrunken mit einem Mann Sex gehabt und nicht aufgepasst hat.“

Wie schwierig und unangenehm alles ist, zeigt unter anderem dann die Szene auf dem Polizeipräsidium, als sich Anna nach langem Zögern doch entscheidet Anzeige zu erstatten. Es ist eine unüberlegte impulsive Aktion, die sie später bereut. Wilpert führt hier über eine ganze Seite einen Katalog an Fragen auf, die Anna gestellt wurden, durch die man immer die Frage nach der eigenen Schuld erkennen kann, obgleich sie nie direkt gestellt wird.

„Anna wollte das alles nicht. Sie wünschte, sie hätte nie Anzeige erstattet, dann hätte niemand davon erfahren. Es ging ihr nicht darum, Jonas zu bestrafen. Nein. Sie wollte eine Entschuldigung. Sie wollte, dass er ihr in die Augen blickte und sagte: Ich habe dich vergewaltigt, es tut mir leid.
Dass sie niemals mit all dem gerechnet hätte.“

Aufgrund der vielen Stimmen, die im Roman zu Wort kommen, breitet sich eine große Spannweite aus, was denn eine Vergewaltigung genau sei, wo sie beginne und was als einvernehmlich gelte. Sehr spannend dabei ist, was die unterschiedlichen Meinungen in einem selbst als Leser auslösen. Wer lügt? Wem „glaube“ ich als Leser*in und warum? Zu welchem Schluss komme ich? Wen spreche ich schuldig? Wen frei? Wer ist Opfer, wer Täter?

Dass das alles nicht so einfach ist, verdeutlicht Bettina Wilpert in ihrem Roman. Dass, was aus einem Blickwinkel als klar und logisch erscheint, sieht von der anderen Seite womöglich anders aus. Dass die Rechtsprechung sich mit einem einfachen „Nein“ auf Annas Seite nicht zufrieden gibt und das Verfahren gegen Jonas eingestellt wird, gibt zu denken. Eine Klärung scheint schlicht unmöglich …

Der 1989 geborenen Autorin, die selbst in Leipzig studierte, macht sprachlich keine Experimente. Das Thema ist hier Experiment genug. Ihr ist ein spannendes und nachdenklich machendes Buch gelungen, dass ein Thema anpackt und damit sichtbar macht, welches in Romanen so sonst kaum zu finden ist.

Der Roman erschien im Verbrecher Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das digitale Rezensionsexemplar.

Naira Gelaschwili: Ich fahre nach Madrid Verbrecher Verlag

Cover

„Vielleicht existiert in einem geheimen Raum des Weltalls eine Galerie oder Bibliothek, in der alle im Traum gemalten Bilder gesammelt werden könnten, und alle im Traum geschriebenen Gedichte und Erzählungen.“

Ich fahre nach Madrid, sagt der 47-jährige Sandro Litscheli aus Tbilissi. Seiner Geliebten erzählt er, er reise nach Kutaissi, wieder andere hören, dass er aufs Land fahre, da seine Mutter im Sterben liegt, andere meinen, er sei auf Dienstreise in Sochumi …

Dabei ist Sandro Litscheli nur überarbeitet, müde und resigniert und will seine Ruhe. So stiehlt er sich davon, 14 Tage weg aus Tbilissi, und besucht seinen alten Freund, der mittlerweile Chefarzt eines Krankenhauses ist. Tatsächlich freut sich dieser riesig und stellt ihm ein eigenes Zimmer direkt neben seinem Chefarztbüro zur Verfügung, wo er mit allem versorgt wird, doch nie belästigt in seinem Wunsch nach Einsamkeit. Des abends wird es zur Routine, dass der Chefarzt-Freund Sandro besucht, mit allerhand Leckereien. Dabei ist immer ein gutes Tröpfchen. Sie reden über alte Zeiten und genießen das Beisammensein.

„Die Klärung dieser Geschichte und die Erinnerung an diese Einzelheiten rührten ihr Herz, und der Pegel von Sarajischwili N2 näherte sich allmählich dem Flaschenboden.“

Nachts steht der Gast am Fenster mit Blick auf Mond und Sterne. Tagsüber geht er im großen Garten spazieren, malt und singt. Lieder in Spanisch, die er sich angeeignet hat, da er Spanien und die Stadt Madrid von fern aus so liebt.

„Stellen Sie sich mal vor, Sandro Litscheli wäre wirklich mit seinen herzergreifenden Liedern in einem fremden Land erschienen und hätte erklärt, wie sehr er dieses Land und diese Leute liebe, Grund- und selbstlos! Und er hätte dabei auch im Namen seines Landes gesprochen! Was für ein aufregendes Beispiel wäre das für alle Nationen und Länder!“

Pech hat Sandro allerdings, als sein Freund für zwei Tage dienstlich verreisen muss. Der Chefarzt beauftragt eine Krankenschwester, sich um ihn zu kümmern. Doch der kurz darauf eintreffende stellvertretende Arzt hat anderes im Sinn. Ab hier läuft alles aus dem Ruder. Was, wird aber nicht verraten …

Aus Georgien kommt diese einerseits witzige und doch auch traurige Geschichte und sie ist eine große Hommage an die Phantasie und die Freiheit des Denkens, auch und gerade in einem totalitären System. Denn in uns ist alles möglich, Reisen und Dichten und Singen und Malen. Selbst wenn es nicht nach außen dringen darf. Die Idee, dass es eine Wohltäterin, eine Verwalterin, der bloß in der Phantasie geschriebenen Werke und in Gedanken gemalten Bilder gibt, gefällt mir sehr. Dort geht nichts verloren. auch die nie gebaute Architektur, die nur im Traum komponierte Musik.

“ … , dass der Traum eine praktische Bedeutung hat und – wie heute sogar die
Kinder wissen – der ewige Herd aller möglichen Erfindungen und Innovationen ist, selbst im Bereich der exakten Wissenschaften, die eben durch das Träumen und
Phantasieren angeregt werden und nicht etwa durch pedantisch geregelte Köpfe!“

In Georgien ist Naira Gelschwili recht bekannt. Diese Geschichte schrieb sie 1982, sie wurde aber aufgrund der politischen Brisanz nicht gleich veröffentlicht. Über Freiheit und die Möglichkeiten anderer Länder zu schreiben, war nicht erwünscht. Im aufschlussreichen Nachwort von Verleger Jörg Sundermeier erfährt der Leser mehr über die Umstände und die Autorin selbst. Kleines Buch – großes Leuchten!

Die Novelle erschien im Verbrecher Verlag. Aus dem Georgischen übersetzt ist es von Lia Wittek und Mariam Baramidse. Eine Leseprobe gibt es hier.

Ich danke dem Verlag für das elektronische Rezensionsexemplar.

J. J. Voskuil: Abgang/Der Tod des Maarten Koning Das Büro 6/7 Verbrecher Verlag

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„Du kriegst vierundzwanzig Stunden, um ihn auszutrinken. Dann hast du dich von uns gelöst. Und dann fängst du ein neues Leben an, mit der ersten Seite eines Romans, der „Das Büro“ heißen wird.“

Wie recht doch Maartens Kollege hat mit dieser Annahme. In der Tat begann Voskuil im Vorruhestand mit seinem Mammutwerk. Obiger Satz steht am Ende des 6. Bandes mit dem Titel „Abgang“. Jetzt geht es dem Ende entgegen. Schade, sehr schade! Wer glaubt, 5ooo Seiten Büroalltag sollten doch reichen, der liegt bei Voskuil ganz falsch. Der Niederländer hat über sein Büro-Leben in Amsterdam so großartig geschrieben, dass man auch nach Band 7 noch denkt, es könnte endlos so weitergehen.

Es sind schon recht traurige Bände, die beiden letzten. Krankenhaus-, Pflege- und Altenheimbesuche in der Freizeit und große Veränderungen im Büro. Der Tod von Beerta, von Nicoliens Mutter und dann trifft es sogar den Freund Frans Veen, der seiner Krebskrankheit erliegt. Im Büro übernimmt Maarten für einige Monate übergangsweise den Direktorposten, da Jaap Balk in den Ruhestand geht. In einer wirren Aktion wird schließlich ein junger eloquenter Mann Balks Nachfolge antreten und Computer werden im Büro eingeführt. Maarten muß wieder hart um seine Standpunkte bezüglich des Verständnisses seines Fachs und seiner Abteilung kämpfen und sich mit intriganten Aktionen der anderen Abteilungen auseinandersetzen.

Und dann kommt auch Maartens Abschied, schneller als sich der Leser das wünscht. Zwar möchte er keine Verabschiedung und keine Geschenke, doch die Abteilung lässt ihn so ganz ohne nicht gehen:

 

Im Abschlußband „Der Tod des Maarten Koning“ wird es sehr still und der Leser kommt Maarten noch einmal richtig nah. Weitab vom Büroalltag widmet er sich dem Rentnerleben. Er repariert, kauft ein, geht spazieren, macht Ausflüge mit dem Rad, mal alleine, mal mit Nicolien, die sich erst an Maartens Zuhause-Sein gewöhnen muss.

„Ich möchte davon nicht melancholisch werden.“
„Ach, das Älterwerden, ich kann das nicht ertragen.“
Er ergriff ihre Hand.
„Wenn man bedenkt, wie viele Erwartungen wir damals noch an das Leben hatten“, sagte sie. „Und was ist davon übrig geblieben? Ich könnte heulen.“

In diesem Band blickt man erst richtig in Maartens Seele. Die kleinen Glücksmomente sind es, die für ihn das Leben ausmachen. Und für die hat er nun endlich Zeit.

„Wenn dies nun einmal der Sinn des Lebens wäre: die Beobachtung  kleiner Variationen in immer demselben kleinen Teil der Welt, in dem man zufällig lebte. […]
Das ist genug, dachte er. Mehr brauchte er nicht.

Ab und an geht er noch mal ins Büro und tippt an Beertas altem Schreibtisch einen Brief oder einen letzten Vortrag. Schnell ändert sich dort alles und man fühlt mit Maarten mit. Dieses Gefühl an einem Arbeitsplatz, an dem man so viel Lebenszeit verbracht hat, plötzlich ein Fremder, gar unerwünscht zu sein. Besonders von Ad, mit dem er jahrelang im selben Büro saß, wird Maarten extrem enttäuscht …

„Er wurde nicht nur nicht vermisst, seine Besuche und die Erinnerung an früher irritierten. Es war deprimierend, auch wenn er es tief in seinem Inneren schon länger und nicht erst seit heute gewusst hatte.“

So ist der Buchtitel denn auch in erster Linie symbolisch zu verstehen, denn sein eigenes Begräbnis erlebt Maarten am Ende des Buches zumindest erst mal nur im Traum.

Gut, dass Maarten alias Voskuil Tagebuch schrieb, denn aus nichts anderem entstand dieser außerordentliche fabelhafte Romanzyklus, den Gerd Busse trefflich übersetzt hat und den der Verbrecher Verlag sehr engagiert in Deutschland verlegt hat. Herzlichen Dank an Gerd Busse für die Fotos.

Es fällt mir unheimlich schwer vom „Büro“ Abschied zu nehmen. Als Leserin verwurzelte ich mich zwischen den vielen Seiten und ich werde Maarten vermissen.
Ein 7-bändiges Leuchten!

 

Hier gehts zu meinen Besprechungen der anderen Bände in chronologischer Reihenfolge:
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2016/12/05/j-j-voskuil-direktor-beerta-das-buero-1-verbrecher-verlag/
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/01/10/j-j-voskuil-schmutzige-haendeplankton-das-buero-23-verbrecher-verlag/
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/02/02/j-j-voskuil-das-a-p-beerta-institut-das-buero-4-verbrecher-verlag/
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/07/18/j-j-voskuil-und-auch-wehmuetigkeit-das-buero-5-verbrecher-verlag/

J. J. Voskuil: Und auch Wehmütigkeit – Das Büro 5 Verbrecher Verlag

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„Maarten grinste. „Der Mensch ist doch eigentlich ein Wunderwerk“, sagte er mit verhaltener Genugtuung.“

Es ist soweit! Nicht nur Aufsätze erscheinen von Maarten Koning, sondern endlich endlich auch eine eigene wissenschaftliche Publikation: Ein Buch über die Wände des Bauernhauses!
Ansonsten betreibt Maarten Studien über das Brot: Roggen oder Weizen und wenn ja wo und ab wann … Karten und Kulturgrenzen werden immer weniger wichtig, die Forschung verändert sich. Natürlich bleibt wie üblich wenig Zeit dafür, denn organisatorische und administrative Aufgaben nehmen ihn als Abteilungsleiter weiter stark in Anspruch.

„Ihr aller Misstrauen gegenüber seiner Gerechtigkeit machte ihn zutiefst niedergeschlagen. Sie hatten keinen Grund dafür. Es war so, weil er der Chef war. Obwohl er nicht der Chef sein wollte.“

Im 5. Band, der die Jahre 1979 bis 1982 umfasst, findet sich viel Privatsphäre: (Streit-)Gespräche mit Ehefrau Nicolien, politische Demonstrationen, Besuche bei der dementen Schwiegermutter im Heim, nostalgische Ausflüge nach Den Haag, seiner Heimatstadt, Urlaub in Südfrankreich, Treffen mit Frans. Die Besuche bei Beerta im Heim werden weniger, vermutlich auch, weil Beerta Maarten eines Tages Avancen macht …
Zum ersten Mal in seinem Büroleben bleibt Maarten länger krank zu Hause. Einige Wochen – sogar Arztbesuche stehen an. Was er genau hat, ist nicht klar …

„Der Mann sah ihm mithilfe einer Zange in die Nase und anschließend in seine Luftröhre, wobei Maarten hohe, singende Schreie nachmachen musste, die ihm vorgesungen wurden. Es gab der Beziehung trotz seiner anfänglichen Antipathie etwas Anrührendes.“

Alles in allem ist dieser Band, wie schon der Titel sagt, tatsächlich etwas wehmütig erzählt, zeigt sich doch sehr viel Vergänglichkeit, nicht zuletzt durch das Älterwerden Maartens. Er hat das 50. Lebensjahr überschritten und blickt oft bedauernd zurück. Es scheint ihm, als wäre seine Pensionierung nicht mehr weit, so berühren ihn mögliche drohende Sparmaßnahmen persönlich wenig. Dennoch muss er als Abteilungsleiter und Vertreter in allen möglichen Kommissionen für das Büro und vor allem für seine Abteilung Rede und Antwort stehen. Seine Schlaflosigkeit wird dadurch nicht besser …

„Aber das wäre doch sicher phantastisch, wenn ihr aufgelöst werdet? Darüber musst du doch wohl froh sein?“
„Ja, natürlich wäre ich froh darüber“, er stieg aus dem Bett, „aber ich fühle mich auch verantwortlich.“
„Wenn du vor Freude nicht hättest schlafen können, hätte ich es verstanden!“, sagte sie empört. „Aber ein Forschungsprogramm zu erstellen, weil man aufgelöst wird! Wie kannst du nur?“

In der Tat steht im Raum, dass das A. P. Beerta Institut aufgelöst werden könnte, was innerhalb des Personals immer wieder zu Aufregung führt. Die Stimmung im Büro wird dadurch nicht besser, die Abteilungen und einzelne Personen versuchen sich ins rechte Licht zu rücken, Konkurrenzdenken entsteht. Sogar eigentlich kleine Entscheidungen, ob beispielsweise „fairtrade“-Kaffee, statt des üblichen ausgeschenkt werden sollte, arten in immense Diskussionen aus und zeigen die Nervösität der Büro-Kollegen auf.

Was jedoch gleich bleibt zu meiner großen Freude, sind die die Gesten, die Kleinigkeiten, die Boshaftigkeiten und Liebenswürdigkeiten, wenn z.B. Maarten gemein lacht oder Direktor Balk aus Ungeduld mit dem Fuß wippt, wenn de Vries zum gefühlten 1000. Mal „Danke, Mijnheer“ sagt oder Katje Kater zum letzten Mal „ich meine ja nur“ sagt, wenn Lien scheu eine Frage stellt oder Hans sanft mit dem Kopf wackelt und wenn Maarten seinen Schreibtischstuhl zum xten Mal genau eine Vierteldrehung herumrückt … „und so weiter und so fort“ (O-Ton Katje Kater)

„Die ungewöhnliche Zeit, zu der er hier entlangging, holte ihn aus seiner Geistesabwesenheit und machte ihn aufmerksam. Sie gab ihm das Gefühl, heimlich eine andere Welt betreten zu haben, eine glücklichere Welt, nahe der seinen, von ihr jedoch durch eine unsichtbare Wand getrennt, sodass er bei einem entgegenkommenden Fußgänger unwillkürlich den Kopf abwandte, um bloß so wenig wie möglich aufzufallen.“

Endlich ist nun auch Band 6 erschienen … ich lese ganz langsam, im Bewusstsein, dass es der vorletzte Band ist … Besprechung folgt …

Eine Leseprobe zu diesem Band gibt es hier auf der Seite des Verbrecher Verlags. Übersetzt hat wie immer Gerd Busse.
Meine Besprechungen zu Band 1, Band 2/3 und Band 4 kann man hier nachlesen.

J. J. Voskuil: Das A. P. Beerta-Institut Das Büro 4 Verbrecher Verlag

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In Band 4 von „Das Büro“,  der die Jahre 1975 bis 1979 umfasst, hat Maarten Koning, Voskuils Alter Ego, es schwerer und schwerer mit seinen Untergebenen: Der Eine, Ad, ist fortlaufend krank, sobald die Arbeit überhand nimmt.

„Und jetzt möchtest du sicher, dass wir uns auch überarbeiten.“
„Das würde ich natürlich schon schön finden, wenn es von zu harter Arbeit käme“, sagte Maarten boshaft. „Aber die Wirklichkeit lehrt, dass man sich schon mit einer sehr bescheidenen Auffassung der eigenen Arbeit überarbeiten kann. Dann habe ich also nicht so viel davon.“

Der Andere ist ein akribisch arbeitender Perfektionist, der Verantwortung scheut, sehr lange für jede Kleinigkeit braucht und jede kleinste Entscheidung Maartens hinterfragt (siehe unten: ein typischer Bart-Asjes-Satz).

„Wenn du dann nur weißt, dass ich entschieden dagegen bin, sagte Bart.“

Die Eine tut sich schwer, weil sie die Arbeit nicht interessiert, die Andere will endlich forschen und nicht nur archivieren und dokumentieren. Und die, die am besten und eifrigsten ist, verlässt das Institut.
Zwei neue Mitarbeiter werden dafür eingestellt, Gerd Wiggelaar und Lien Kiepe, die Voskuil wieder mit einmaligen Charakterzügen ausstattet: Während Lien leicht rot wird, biegt sich Gerd vor Lachen:

„Gerd schüttelte sich vor Lachen. Lien lachte verlegen, als schäme sie sich für diesen kleinen Scherz.“

Eine eigene Zeitschrift, das „Bulletin“ wird gegründet, da man sich unversöhnlich mit den Redakteuren von „Ons Tijdschrift“ überworfen hat. Maarten hält immer wieder Teamsitzungen ab, um möglichst allen seiner Untergebenen ein Mitspracherecht einzuräumen und als Bart, oft der einzige Quertreiber, für längere Zeit aus Krankheitsgründen ausfällt, klappt es auch mit den Abstimmungen.
Maarten fährt zum Kongress für den europäischen Atlas der Volkskultur, der diesmal in Nordirland stattfindet und trifft auf alte Bekannte.

Auch Maartens Frau Nicolien, deren Muttter wegen zunehmender Demenz ins Pflegeheim muss,  wird immer unzufriedener, denn Maarten arbeitet fortan viel zu viel, auch zu Hause, auch abends und am Wochenende. Er übernimmt immer mehr Vorsitze, leitet Ausschüsse und wird zum Vertreter von Direktor Balk. Nicolien kann es nicht nachvollziehen, warum Maarten nicht einfach Aufgaben ablehnt. Sie ist strikt dagegen, dass Maarten „Karriere“ macht:

„Aber nicht so“, sagte sie weinend. „Denn damals gab es Beerta noch. Und jetzt bist du ein hohes Tier geworden.“

Es sterben beide Katzen, Jonas zuerst, später auch Marietje. Es kommen drei neue. Die Tierliebe der Konings kennt keine Grenzen, doch Vegetarier werden sie nicht. Nachdem nun trotz langer Verweigerung doch ein Fernsehgerät angeschafft wurde, bleiben sie jedenfalls Radfahrer, bleibt immer noch der Hass auf Autos/Autofahrer: „lauter tote Tiere am Straßenrand“.

Maarten besucht Direktor Beerta regelmäßig im Pflegeheim. Mittlerweile kann er nach seinem Schlaganfall wieder etwas sprechen, sogar mit einer Hand tippen, aber so wie zuvor wird es nie mehr. Immerhin willigt er ein, dass das Institut rechtzeitig zu seinem 80. Geburtstag seinen Namen tragen wird.

Maarten leidet weiterhin unter seinen Migräneattacken und an Schlaflosigkeit. Und in steter Regelmäßigkeit an der Sinnlosigkeit des Daseins.

„Als er zur Seite blickte, himmelwärts, und hoch hinter dem Turm der Westerkerk vor dem blassen Dunkel des Himmels große, flauschige, schwarze Wolken bewegungslos über dem Tosen und den Lichtern der Stadt hängen sah, stiegen ihm unvermittelt Tränen der Sehnsucht in die Augen, ohne dass er hätte sagen können, wonach er sich sehnte.“

Als glühende „Büro“-Enthusiastin muss ich nun warten auf Band 6, der im Mai erst in der deutschen Übersetzung, wie immer von Gerd Busse, herauskommt.
Band 4 aus J. J. Voskuils „Büro“-Zyklus erschien, wie alle anderen, im Verbrecher Verlag.
Eine Leseprobe gibt es hier.
Eine ausführliche Dokumentation mit Interview findet man hier.
Band 1 und Band 2/3 habe ich bereits hier besprochen. Die Besprechung von Band 5 folgt in Kürze.

Ein gutes Leben: Zoni Weisz erzählt seine Biografie Hörbuch Verbrecher Verlag

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„Man muss darüber reden“

Der 1937 in Den Haag geborene Zoni Weisz entstammt einer Sinti-Familie aus den Niederlanden. Der größte Teil seiner Familie wurde während des Holocaust ermordet. Er überlebte aufgrund glücklicher Umstände.

Zoni Weisz erzählt für dieses Hörbuch von seinem „guten Leben“, von seiner Familie und von der großen Sinti-Gemeinschaft in den Niederlanden. In Sinti-Familien wird nichts schriftlich dargelegt, aber weitererzählt von Generation zu Generation – Geschichten erzählen abends am Lagerfeuer als Kunst und zur Bewahrung der eigenen Kultur – und so tut er das hier auch für uns.

„Und es fängt immer klein an. Mit Mitlaufen 1933 und diese Mitläufer werden dann Mittäter.“

Die Familie ist lange Zeit mit einem von Pferden gezogenen Wohnwagen unterwegs – eine wunderbare Kindheit, sagt Weisz. Doch dann beginnt 1942 auch die Verfolgung durch die Nazis in den Niederlanden. Sein Vater, ein Musiker und Instrumentenbauer, mietete schließlich einen Laden an, um nicht aufzufallen. Doch kurze Zeit später wurden alle Sinti und Roma in ein Lager gebracht und später deportiert. Der 7-jährige Zoni überlebte nur deshalb, weil er an jenem Tag bei seiner Tante war und kurz danach durch die Hilfe eines niederländischen Polizisten vor der Deportation nach Ausschwitz gerettet wurde.

„Ich kann ihnen nicht sagen, was man fühlt hier als Kind, wenn man hört, dass Vater, Mutter, Schwester, die ganze Familie verhaftet worden ist.“

Eine Zeit des Versteckens folgt. Dann nach der Befreiung das Aufatmen. Zoni lebt zunächst bei den Großeltern und beginnt mit 13 schon zu arbeiten. Durch Zufall landet er in einem Blumengeschäft und entdeckt sein Talent für Floristik. Er absolviert eine Ausbildung in Gartenbau und Blumenbindekunst und schließt sie erfolgreich ab. Als er die Einberufung zum Militär erhält, meldet er sich freiwillig 1957 nach Surinam (damals holländische Kolonie). Danach gelingt es ihm beim besten Floristen der Niederlande Arbeit zu finden. 1963 übernimmt er das Blumengeschäft seines Chefs. Der wissbegierige junge Mann bildet sich weiter und beginnt schließlich mit Kunstmuseen zusammen Ausstellungen zu kreieren. 24 Jahre lang geht er dieser Tätigkeit nach und gestaltet sogar 2002 Blumengebinde für das niederländische Königshaus.

„Und dann kommt wieder das Stigma: Das einzige was Zigeuner tun ist Stehlen und Leben auf Kosten der Gesellschaft“

Bereits seit dem Mittelalter gibt es Verfolgungen der Sinti und Roma. Weisz erzählt von seiner Kultur, von den ganz eigenen Gesetzen und Lebensweisen, von deren Bewahrung, aber auch über seinen Wunsch nach Offenheit und Weiterentwicklung. Niemals klagt Weisz an, er plädiert für gegenseitigen Respekt.

Interessant, dass auch Zoni Weisz hier von seinen Träumen spricht, von Albträumen über Todesmärsche, die er selbst gar nicht erlebt hat. Hier gibt es eine direkte Verknüpfung zur These von Barbara Hahn in ihrem Buch „Endlose Nacht“ , in dem sie auf kollektive Träume dieser Zeit hinweist.

Zoni Weisz engagiert sich, er geht in Schulen und erzählt, hält Vorträge, klärt auf. 2011 hielt er eine Rede zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ vor dem Deutschen Bundestag, wie er sagt, auch um zu zeigen, dass es Überlebende gibt und damit die Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten … in unserer Zeit wichtiger denn je.

Die Musik auf der CD ist Sinti-Musik von Tara Mirando & His Gipsy Orchestra. Mehr über dieses Hörbuch findet sich hier: http://www.verbrecherverlag.de/book/detail/828

J. J. Voskuil: Schmutzige Hände/Plankton Das Büro 2/3 Verbrecher Verlag

„Es sind die virtuos getimten Wiederholungen, die Running Gags, könnte man fast sagen, die „Das Büro“ trotz all des Leidens und des Grübelns zu einem unwiderstehlichen komischen Buch machen“

So schreibt Pieter Steinz im Nachwort des zweiten Bandes von „Schmutzige Hände“.
Das und die Charaktere, die weniger über Beschreibungen, als über ihre Handlungen Kontur bekommen, ist Teil des Geheimnisses, dass diese Romane so speziell und wunderbar macht.

Nach Teil 1 des süchtig machenden Romanwerks knüpfte ich ohne Pause sofort an den zweiten Teil an und weiter an Band 3. Es ist unglaublich, aber selten habe ich mich so auf meine Lesezeit gefreut und sie so dringlich gefunden wie bei Voskuil.

Scheint in Band 2, also in den Jahren 1965 bis 1972 noch alles so weiterzulaufen wie in Teil 1, ändert sich für mich der Ton im Büro seit dem dritten Band von 1972 bis 1975 enorm. Was im Büro in Band 2 noch weitgehend spielerisch und  nicht ernst zu nehmen scheint, die vielen Reisen zu Kongressen, Sitzungen oder Umfragen verlaufen meist noch einigermaßen erträglich, das Zuhause erholsam, wandelt sich in „Plankton“ unabänderlich in Richtung Leistungsgesellschaft. Immer mehr Arbeit gibt es, das Büro wächst seit dem Umzug in die Kaisersgraacht und Maarten ist als Abteilungsleiter und somit für mehrere Angestellte Ansprechpartner, mitunter überfordert. Jegliches muss belegt und begründet werden, die Arbeit wird kostenorientierter und bürokratischer, es gibt bereichübergreifende Umstrukturierungsmaßnahmen. Bei Maarten wechseln sich Traurigkeit und Wut ab. Er ist immer mehr auf der Suche nach dem sicheren Ort, doch selbst in seinen Träumen und im Urlaub verfolgt in das Büro.

„Als er endlich eingeschlafen war, träumte er, dass er ein Buch über das Büro geschrieben hatte, ein Mittelding zwischen einem Roman und einem wissenschaftlichen Werk. Aus letzterem Grund hatte es de Heer, der Vorsitzende der Kommission Volkssprache, gelesen. Er gab es ihm zurück und sagte, dass es ihn sehr enttäuscht habe: alles Lügen.“

Der Krankenstand im „Büro“ steigt und auch Maarten ist nicht gefeit davor. Ihn plagen Magen- oder migräneartige Kopfschmerzen, doch als verantwortungs (- und schuld) bewusster Angestellter lässt er sich von der eigentlich ungeliebten Arbeit mehr und mehr vereinnahmen. Auch zuhause nach Feierabend geht der Kampf oft weiter, Nicolien, die mit ihrer zunehmend dementen Mutter zu tun hat, spart Maarten gegenüber nicht mit Vorwürfen  und auch das soziale Leben bleibt größtenteils auf der Strecke. Maarten selbst scheint mehr zu reflektieren als bisher, dennoch kann er nicht aus seiner Haut.

„Findest du das nicht komisch?“
„Nein, komisch nicht. Ein Freund von uns hat schon zweimal in einer Einrichtung gesessen. Übrigens auch jemand vom Büro.“
„O ja?“, sagte sie überrascht.
Er stand auf und streckte die Beine. „Man muss das Büro einfach als eine Einrichtung betrachten. Wenn man das macht, wird der Rest von selbst wieder normal.“

Mehr und mehr Kollegen gehen in Ruhestand, Frau Moederman beispielsweise und statt ihrer ist es nun Wiegersma, der Kartenzeichner, der beim Reden leicht mit dem Kopf wackelt. Manche Neuen kommen dazu – Voskuil schafft es einzigartige Charaktere zu zeichnen – und müssen eingearbeitet werden, mehr Frauen nun, seit Beerta nicht mehr die Einstellungsgespräche führt. Maarten streitet als Redakteur der Zeitschrift „Ons Tijdschrift“, kämpft mutig auf einem Kongress um Erneuerungen im Vorstand für den „Europäischen Atlas“ und bemüht sich um stimmiges Verhalten seinen Untergebenen gegenüber. Doch zufrieden mit sich ist er nie, oft geraten seine Gefühle außer Kontrolle.

Am Ende des dritten Teils erleidet Beerta einen Schlaganfall und  Maartens Vater stirbt. Ich habe selten so berührende echte Szenen am Sterbebett in einem Roman gelesen, wie die, die Voskuil hier schildert. Hier zeigt sich die Stärke dieses Autors auf ganz besonderse Weise …

„Zum ersten Mal wurde ihm richtig bewusst, dass sein Vater tot war, und dem gesellte sich das Bewusstsein hinzu, dass es auch mit Beerta vorbei war, sein leiblicher und sein geistiger Vater. Er war allein.“

Jeder der meinen Blog verfolgt, weiß, dass ich seit dem ersten Band der „Büro“-Sucht verfallen bin. Und wenn man bedenkt, dass jeder Band zwischen 800 und 1000 Seiten hat, und ich jetzt schon versuche „sparsam“ zu lesen, damit es nicht so bald vorbei ist, wird klar, dass „Das Büro“ für mich hellstes Leuchten ist.

Der Romanzyklus „Das Büro“ des Niederländers  J. J. Voskuil ist im Verbrecher Verlag in feiner Ausstattung in der großartigen Übersetzung von Gerd Busse erschienen. Er besteht aus 7 Bänden, wovon 5 bereits auf Deutsch erschienen. Band 1 habe ich bereits hier besprochen. Eine Leseprobe gibt es hier.