Was für ein Buch!
Auf nur 141 Seiten erzählt der Franzose Hubert Mingarelli eine Geschichte, die eine große Tiefe und atmosphärische Dichte besitzt, die mich mit einer großen Wucht traf, die in ihrer leisen Erzählweise gerade ihre große Kunst offenbart.
Der Autor wirft die Leser gleich in die Geschichte hinein. Langsam versteht man, wo man sich befindet. Ein Lager in Polen im tiefsten Winter. Zweiter Weltkrieg. Ein Leutnant ruft zum Appell. Soldaten folgen. Sie müssen seinem Befehl gehorchen und in der Eiseskälte Aufstellung nehmen.
„…sagte uns Leutnant Graaf, dass heute welche kommen würden, aber wahrscheinlich erst spät, sodass die Arbeit für den nächsten Tag vorgesehen wäre und dass sie diesmal an unsere Kompanie fallen würde.“
Für die Hauptprotagonisten, drei Soldaten, Reservisten um die vierzig, wie wir später erfahren, ist es eine Horrornachricht. Denn die Arbeit ist das Erschießen von Gefangenen. Massenerschießungen. Um dem und den folgenden Albträumen diesmal zu entgehen, melden sie sich freiwillig für „das Jagen“, womit die Suche nach versteckten Juden gemeint ist. Es wird ihnen erlaubt. So brechen sie am Morgen auf und durchstreifen die Gegend, die Wälder. Was sie tun, ist nicht Jagen. Sie versuchen irgendwie die Zeit vergehen zu lassen, unterbrochen nur durch das beinahe rituelle Zigarettenrauchen. Wir lernen die drei ein wenig kennen, Bauer, Emmerich und den Ich-Erzähler. Dieser blickt zurück und erzählt diese Geschichte direkt einem Zuhörenden oder Lesenden. Von ihm erfahren wir nur, dass er keine Familie hat, im Gegensatz zu den beiden anderen. Bauer scheint ein aufbrausender, impulsiver Typ zu sein, der mitunter laut wird. Emmerich ist ein Sensibler, den der Krieg am meisten auszumachen scheint, der sich um seinen Sohn sorgt und den anderen immer wieder davon erzählt. Für Emmerich ist es das Klammern an eine Realität, eine Normalität, die vom Krieg vollkommen absorbiert wird. Der Sohn ist es, der ihn durchhalten lässt.
Er ist es dann auch, der aufgrund seiner feinen Wahrnehmung eine Erdhöhle entdeckt, in der sich ein junger Mann versteckt hält. Alle drei sind froh, so können sie bei ihrer Rückkunft einen Gefangenen präsentieren und werden vielleicht am nächsten Tag wieder hinausgeschickt. Entgehen weiteren Blutbädern. Als der Hunger überhand nimmt, beginnen sie in einem leerstehenden Haus ein Feuer im Ofen zu schüren, um aus dem wenigen essbaren, was sie besitzen eine Suppe zu kochen. Der Gefangene wird in die leere Vorratskammer gesperrt. Ein Pole taucht auf, will gegen etwas zu essen, seinen Kartoffelschnaps tauschen. Man lässt sich darauf ein. Die Vorfreude auf ein warmes Essen, die Glut des Ofens, das Ablegen der Gewehre und Helme. Aus den Soldaten werden Menschen.
Um die Suppe zum Kochen zu bringen, muss schließlich auch die Tür zu Vorratskammer als Brennstoff dienen. Es ist für mich ein Symbol der später aufscheinenden Möglichkeit, der Möglichkeit von Menschlichkeit, von Barmherzigkeit, von Widerstand gar. Und tatsächlich winkt Bauer den Gefangenen mit an den Tisch. Er darf, wie schon der Pole mitessen. Doch damit kommt man ihm näher, wird er ein Gleichwertiger. Und einen gleichwertigen Menschen erschießen, denn genau das würden sie letztlich tun müssen, wer konnte das? So etwas hatten sie schon im Lager erlebt und nie vergessen.
„Wir gelangten zu der simplen Erkenntnis, dass wir (…) nicht mehr bei ihnen vorbeischauen würden, dass wir nicht mehr mit ihnen reden würden. Dass es besser war, nichts mit ihnen zu machen, was dem wirklichen Leben gleichkam.“
Und schon wirft Emmerich die Frage in den Raum. Warum lassen wir ihn nicht gehen? Der sensible Emmerich sieht in dieser Tat einen Ausweg. Wenigsten einen, werden sie später sagen können, haben wir nicht auf dem Gewissen. Er sieht darin auch seinen Sohn. Bauer wirft ein: Was nützt schon einer? Und der Erzähler weiß gar nicht, was er dazu sagen soll und wird doch schließlich die Entscheidung treffen müssen …
Mingarelli ist, wie ich finde ein kleines Meisterwerk gelungen. Ein Buch, dass ich jedem empfehle. Auch um zu erinnern, was jeder einzelne tun kann. Um zu erinnern, dass wir alle Menschen mit den gleichen Rechten sind. Um zu erinnern, wie schlimm Kriege sind, und was sie aus Menschen machen. Dieser Roman, wage ich zu behaupten, lässt keine/n Leser/in unberührt.
Hubert Mingarellis (1956–2020) umfangreiches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet und war für den Prix Goncourt und den International Booker Prize nominiert. Ein Wintermahl ist sein erster Roman, der auf Deutsch erscheint. Aus dem Französischen von Elmar Tannert. Eine Leseprobe gibt es hier.