Hari Kunzru: Blue Ruin Liebeskind Verlag


Nach „White Tears“, in dem es um Musik geht, kam der Roman „Red Pill“ von Hari Kunzru. Er hat mich sehr begeistert. Ich erinnere mich gut an diese schillernde Geschichte, in der es um einen Schriftsteller geht. „Blue Ruin“ interessierte mich deshalb sehr, auch weil es darin um bildende Kunst und Künstler in London und New York geht. Er liest sich flott herunter, ist allerdings, wie ich finde geradliniger und nicht so geheimnisvoll wie der Vorgänger. Aber ich habe die Geschichte um Jay, der als junger Performance-Künstler in London erfolgreich war, bis er von der Bildfläche verschwand schon gemocht. Erinnerte mich ein wenig an Teile meiner kürzlichen Lektüren „Wellness“ und „Demon Copperhead“.

Es beginnt damit, dass Jay, der aus seiner WG in New York flog und nun in seinem Auto haust, als Fahrer für einen Lebensmittel-Versand arbeitet. Es ist die Hochphase der Corona-Pandemie. Er selbst hat gerade die Krankheit einigermaßen geschwächt hinter sich gebracht und liefert Lebensmittel an eine idyllisch im Grünen gelegene Adresse außerhalb von New York. Vor dem beeindruckenden Haus empfängt in seine ehemalige Freundin Alice, die ihn vor zwanzig Jahren wegen seinem besten Freund und Künstlerkollegen verlassen hat. Beide erkennen sich sofort. Jay ist noch sehr erschöpft und klappt vor Alice zusammen. Sie sieht sofort, dass er offenbar obdachlos in seinem Auto haust und bietet ihm die kleine Wohnung in der Scheune auf dem weitläufigen Gelände an. Den anderen Mitbewohnern verheimlicht sie seine Anwesenheit. Mit einem befreundeten Paar und Rob, mit dem sie noch immer zusammen ist, ist sie wegen Corona in dieses abgeschiedene Haus gezogen, welches einem einflussreichen Kunstagenten gehört. Rob, der mittlerweile als Künstler zu Ruhm gekommen ist, soll hier malen, obwohl er eine Blockade hat.

In heimlichen Gesprächen kommen sich Jay und Alice wieder näher. Wir Leser erfahren nun nach und nach die Geschichte der beiden, die vor zwanzig Jahren begann, als Jay der gefragtere Künstler war. Wir erfahren von einer wilden Zeit der beiden Freunde, die ihren Weg als Künstler gerade noch suchten. Jay gibt die Malerei auf und beginnt teils durch Zufall mit Installationen, in denen er oft selbst zum Kunstobjekt wird. Damit wird er sofort erfolgreich, auch überregional. Alice, die aus einer wohlhabenden Familie stammt, fasziniert ihn, der aus ärmeren Verhältnissen kommt. Sie werden ein Paar. Doch die Beziehung verläuft alles andere als harmonisch. Es kommen Drogen und Alkohol ins Spiel und die Beziehung wird destruktiv. Durch ein provozierendes Kunstwerk wird Jay plötzlich zum „Bad Guy“. Er versucht sich neu zu orientieren. In dieser Phase nähert sich Alice schließlich Rob an und trennt sich abrupt von Jay.

„Jemand hat mal gesagt, Kunst sei zielgerichtete Ziellosigkeit. Ich wollte noch etwas Undefinierteres machen, ein Kunstwerk ohne Form und Funktion, außer der, die eigene Grenze zu überschreiten, aus sich selbst herauszutreten und einen erfolgreichen Abgang zu machen.“

Und genau das macht Jay auch. Er beginnt eine letzte große Performance, die wieder sehr viel Aufmerksamkeit erregt, und verschwindet noch während des Projekts, tut aber so, als würde alles immer weiter laufen, nur ohne ihn. Nach und nach löscht er alle Einträge im Netz über sich und ohne Angabe eines Ziels, alles hinter sich lassend, ist er weg.

Währenddessen unterrichtet Alice die Mitbewohner von der Anwesenheit Jays und es kommt auf allen Seiten zu großen Spannungen. Rob und Alice scheinen längst kein Traumpaar mehr. Seine Malblockade machen ihn zusätzlich zu einem unangenehmen Zeitgenossen. Jay wird zunächst als Eindringling gesehen, bis er seine Geschichte erzählt. Nach dem letzten Kunstprojekt wurde er Weltreisender, besuchte Ostasien, arbeitete auf einem Schiff, lebte in alternativen Kommunen, kam in die USA und lebt nun von wechselnden Gelegenheitsjobs. Der Kunst hatte er ganz abgeschworen. Der Künstler-Agent ist von Jays Auftauchen extrem begeistert und will ihm wieder zu Ruhm verhelfen, ja sogar an die letzte Performance anknüpfen, die ja eigentlich noch immer lief. Rob hingegen will ihn loswerden. Auch wegen Alice, die sich mit ihm all zu gut versteht …

„Glaubte ich wirklich, Zeit sei verloren, wenn man sie nicht in Kunst umwandelte? Nein, nicht mehr. Die Menschen, die ich kennengelernt hatte, die Dinge, die ich gebaut und repariert hatte, die Narben an meinem Körper, sie waren echt. Sie waren mein Leben. Das waren keine verlorenen Jahre.“

Wir verfolgen die Meinungsverschiedenheiten, erleben die Auseinandersetzungen, die Jays Auftauchen hervorgelockt hat. Alles scheint auf den Tisch zu kommen. Jeder muss sich mit sich selbst auseinandersetzen. Schließlich läuft alles auf einen rasanten Showdown zu …

Hier ist Kunzru wirklich geschickt in der atmosphärischen Darstellung des Zwischenmenschlichen, der teils lange unterdrückten Gefühle. Ebenso in der Schilderung der Kunstszene im London der 90er Jahre. Hochinteressant! Für Moderne-Kunst-Fans eine ideale Lektüre.

Der Roman erschien im Liebeskind Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela Hanser Verlag


Die Chilenin Alia Trabucco Zerán erzählt in „Mein Name ist Estela“ die Geschichte einer Hausangestellten in Chile. Gleich eingangs fühlte ich mich inhaltlich an Leïla Slimanis „Dann schlaf auch du“ erinnert, wobei bei Zerán die Sprache viel stärker ist. Und natürlich ist es letztlich eine ganz eigene Geschichte, jedoch eben auch eine, die von den gesellschaftlichen Unterschieden, von Klassismus erzählt.

Estela ist von zuhause aus dem Süden Chiles nach Santiago gegangen, um Geld zu verdienen und damit die Mutter zu unterstützen, die von schwerer körperlicher Arbeit lebt und doch nie genug verdient. Die Mutter warnt sie, doch Estela geht ihren Weg und findet auch sofort Arbeit als Hausangestellte. Die wohlhabende Familie, in der Estela lebt, behandelt sie eigentlich gut, und doch ist da unterschwellig eben der extreme Klassenunterschied zu spüren. Estela ist seit der Geburt der Tochter des Hauses im Dienst und ist es immer noch, als das Mädchen mit 7 Jahren auf tragische Weise umkommt.

„Lass uns die Kanapees servieren, Estela.
Lass uns den Champagner kaltstellen.
Lass uns die Weingläser spülen.
Lass uns die Teller wegräumen.
Das bedeutete, dass ich die Kanapees servieren, den Champagner kaltstellen, die Weingläser spülen und die Teller abräumen musste, ohne sie aufeinanderknallen zu lassen, ohne die geringste Tölpelei.“

Die Geschichte öffnet sich in Rückblicken, immer aus Estelas Sicht, mit weitem Spannungsbogen und in direkter Anrede an die Leserin. Was dazwischen geschieht, wie die Beziehungen untereinander sind und wie sich Estela fühlt, wird hier genau durchleuchtet. Dabei ist die Sprache sehr bildhaft und symbolisch. Etwa dann, wenn auf Estelas Schürzen hingewiesen wird, je eine von Montag bis Samstag. Sonntag hat sie frei. Obwohl sie immer schwankt zwischen Verachtung und Verbundenheit, besonders dem Mädchen gegenüber, das gleich nach seiner Geburt in Estelas Obhut übergeben wird, weil die Señora zu schwach und überfordert ist, entwickelt sich nach so langer Zeit eine Art gegenseitige Abhängigkeit. Estela bekommt sehr viel mehr Privates mit als ihr lieb ist und das kleine Zimmer hinter der Küche, in dem sie wohnt, ist alles andere als eine gute Möglichkeit der Abgrenzung. Mitunter teilt sie ein Geheimnis mit dem Mädchen oder umgekehrt. So ist sie aber auch immer erpressbar. Es ist ein merkwürdiges Verhältnis zwischen den beiden, eine Art Hassliebe.

„Je mehr Tage vergingen, desto tiefer setzte sich das Schweigen in meinem Rachen fest und verhärtete die Worte. Neuartige Gedanken und Fragen erfüllten mich. Wie etwa, ob die Dinge sich veränderten, wenn sie ihre Namen verloren, so wie sie es taten, wenn man sie ihnen gab. Wenn man Boss oder Herrin sagte, Chefin oder Eigentümerin. Wenn man Angestellte, Nana, Dienerin, Hausmädchen sagte. Oder es eben nicht tat. Versteht ihr? Das verändert die Dinge zweifellos.“

Immer wieder zeigt sich auch der Wunsch Estelas zurück zu ihrer Mutter zu gehen, nach Hause, doch nie scheint es genug Geld zu sein, dass es für ein gutes Leben reicht. Als Estelas Mutter plötzlich stirbt und ein zugelaufener Hund zum Problem wird, beginnt eine seltsame Dynamik ihr Leben zu bestimmen, auf das sie keinen Einfluss mehr zu haben scheint. Die tatsächlichen Umstände des Todes der 7-Jährigen erfahren wir nicht. Auch wie es mit Estela weitergeht, die am Ende bei Straßenunruhen in Santiago ungewollt in Konflikt mit der Polizei gerät, bleibt unklar.

Das Buch erschien im Hanser Berlin Verlag. Übersetzt aus dem chilenischen Spanisch hat es Benjamin Loy. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sarah Moss: Sommerwasser Unionsverlag

Tief im Schlaf, tief im Schlaf,
Tief im Schlaf liegt er. Der stille See von Sommerwasser,
Still des Himmels Meer.“
.

aus „The Ballad of Semmerwater“ von Sir William Watson

Wie passend doch dieser Roman zur Wettersituation in Berlin zum Zeitpunkt meiner Lektüre war. Täglicher Regen, oft stürmisch und stark. Und so auch in „Sommerwasser“ von Sarah Moss, die ihren Roman in Schottland ansiedelt, in einer Ferienregion in den Bergen und am See (vermutlich Loch Ness). Auch hier regnet es ständig und das Wetter beschwört eine angespannte gereizte Stimmung unter den Urlaubern herauf. Es ist der zweite Roman, den ich von der Schottin lese und diesmal kann sie mich noch mehr mit ihrer Sprache und ihrer unglaublich guten Beobachtungsgabe beeindrucken.

Ferienhütten aus Holz, Eigentümer und Feriengäste verbringen hier Sommertage, die total verregnet sind. Tag für Tag wird es langweiliger, vor allem für die Kinder, die Nerven der Eltern werden immer dünner. Schließlich ist man hier, um in der Natur zu sein, zu Wandern oder sich auf oder im Wasser zu bewegen. Keine Ablenkung durch Handys, denn es gibt so gut wie kein Funknetz hier. Mit der Autorin ziehen wir nun von Hütte zu Hütte, bekommen intime Einblicke in das Leben der jeweiligen Bewohner. Moss verknüpft die Kapitel, die jeweils aus der Sicht eines der Bewohner erzählt sind, mit kurzen Texten aus der Natur: Fledermäuse, Rehe und Füchse, selbst aus der Sicht von Bäumen wird erzählt.

„Wer konnte es sich jetzt leisten zu reisen? Hätte sie gewusst, dass für sie mit den Jahren keine finanzielle Entspannung, geschweige denn Sicherheit eintreten würde, hätte sie die guten Zeiten erkannt, als sie da waren, wäre sie mehr gereist, als sie jung war, …“

Da ist das alte Ehepaar, der Mann Arzt, konservativ mit seiner leicht dementen Frau, die ihre Hütte schon seit Jahrzehnten besitzen und hier die Ferien verbringen. Eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern. Zwei Ehepaare mit jeweils zwei Kindern, die an ganz anderen Punkten im Leben stehen. Dabei eine Mutter, die eine geschenkte freie Stunde ohne Kinder mit Grübeln verbringt, was sie am besten in dieser Stunde tun könnte. Ein seine Eltern manipulierendes Kind. Eine Frau, die durch intensives Joggen versucht ihrem unnatürlich klopfendem Herzen zu entkommen. Ein nachts ausbüxendes junges Mädchen. Und das Paar, das bald heiraten und auf einer Insel ein naturnahes Leben beginnen will, obgleich sie total unterschiedlich gestrickt sind.

Moss schreibt hier ein ganzes Kapitel lang die interessanteste Sexszene, die ich seit langem gelesen habe. Die Frau des Paares, das bald heiraten will verliert sich während des Liebesspiels in allerlei Gedanken, die von sexuellen Fantasien bis hin zur Situation der Lage der Welt reichen. Sie denkt an einen Serienhelden und ob es erlaubt ist, an jemand anderen zu denken beim Sex. Sie stellt sich Fragen zur political correctness und zum späteren Zusammensein mit dem Partner, der gleich eingangs meinte, ein Paar, welches zusammen zum Orgasmus kommt, hat bessere Chancen später zusammen zu bleiben. Und dieses hehre Ziel steht dann auch im Mittelpunkt der Zusammenkunft. Großartig, wie Moss, das ausarbeitet.

„Er beißt ihr in den Hals und sie seufzt, was er als Zeichen der Lust versteht. Es sollte Flaggen geben, die man hochhalten kann, denkt sie, […] auch wenn es ungefähr eine Million Hightech-Möglichkeiten geben muss, wie Schiffe kommunizieren können. Aber vielleicht auch nicht, vielleicht wird das Land heutzutage, nachdem alle Waffen verkauft werden, um ferne Kinderkrankenhäuser bombardieren zu können, wirklich von Leuten beschützt, die Flaggen schwenken und Tauben entsenden.“

Auch die manchmal nur kurzen Einblicke in die anderen Personen zeugen von großer Menschenkenntnis der Autorin und lassen in aller Kürze genaue Persönlichkeitsstrukturen zu Tage treten. Ich finde das faszinierend. Die einen beobachten die anderen. Manchmal werden ein paar Worte untereinander gewechselt. Sofort werden Meinungen gebildet, Schubladen geöffnet. Besonders schlecht weg, kommt dabei die Hütte, in der es abends immer laut wird, in der offenbar immer Party gemacht wird. Hier wird besonders viel spekuliert und interpretiert. Doch bevor wir Leser erfahren, was es mit den Bewohnern auf sich hat, passiert plötzlich etwas Dramatisches.

Womit ich jedoch wirklich nicht einverstanden bin, ist der Schluss. Da fehlt mir die Substanz. Das kommt mir zu plötzlich und wird zu wenig auserzählt. Dafür war auch die Spannungskurve zuvor zu groß, um einfach so abzubrechen. Da fehlen mir die Hintergründe. Schade. Punktabzug.

Der unspektakuläre, aber unbedingt empfehlenswerte Roman erschien im Unionsverlag und wurde von Nicole Seifert aus dem Englischen übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.