Judith Kuckart: Café der Unsichtbaren Dumont Verlag

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Ein neuer Roman von Judith Kuckart ist ein sicherer Ort! Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich bisher fast jeden ihrer Romane gelesen und gemocht. So auch diesmal. In „Café der Unsichtbaren“ geht es um die Unsichtbaren, die für ein Sorgentelefon arbeiten und den ebenso unsichtbaren Anrufern draußen am Telefonhörer lauschen. Zuhören, einfach zuhören, fragen, da sein und andererseits einfach jemanden zum Zuhören haben. Um Problemlösungen geht es hier nicht, nur um das Gefühl, nicht allein zu sein mit der eigenen Not.

„Irgendjemand musste es geben, der all diese Unglücklichen in den gleichen Regenmantel gesteckt hatte, an dem das Leben so schmerzlich abperlte.“

Berlin: Wir begleiten sieben grundverschiedene Menschen bei ihrer Arbeit für das Sorgentelefon. Alle haben zusammen eine zweijährige Ausbildung absolviert, um diese Tätigkeit ausüben zu können. Da ist Matthias, 45, Haustechniker, Emilia, 23, Bankangestellte, in die er sich verliebt, Rieke, die Theologie studiert und für die das Sorgentelefon eine Art Weiterbildung ist, Wanda, um die vierzig, die im Archiv des DDR-Museums arbeitet, Marianne, 55, die Buchhalterin, die mal etwas ganz anderes machen wollte, ehe sie sich verloren ging, Lorentz, der pensionierte Redakteur und als älteste Frau von Schley mit ihren achtzig Jahren. Sie ist auch die einzige Ich-Erzählerin in dieser Geschichte, die eigentlich aus vielen kleinen Episoden besteht, die sich auch in das Privatleben der Protagonisten ausdehnen. Unweigerlich, hängt ihre Tätigkeit, doch mit ihren speziellen Lebenserfahrungen eng zusammen. Wir Leser*innen beobachten, wie sich die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander gestalten, verändern, wie sie sich beeinflussen, sich verhalten, wenn sie sich in der Dienstküche beim Kaffeeholen oder nach der Nachtschicht beim Frühstück  begegnen.

Gleichzeitig hören wir von den Menschen auf der anderen Seite des Telefons Geschichten, die traurig machen, zeugen sie doch von soviel Einsamkeit, von der Notwendigkeit einer Gemeinschaft. Besonders viele Anrufe erreichen die Seelsorger von Menschen aus dem Osten Deutschlands, was mich nicht verwundert. Spannend wird es auch, wenn Rieke am Telefon plötzlich erschrickt, weil sie glaubt der Teufel persönlich spräche mit ihr. Und wie reagiert man beispielsweise auf den Hilferuf eines Mannes, der sich als pädophil outet?

„Als Matthias sich vor vier Jahren für das Ehrenamt bei Sorgentelefon e. V. beworben hat, hat er nicht erwartet, dass der größte Teil der Anrufer arm, schon älter, einsam und oft aus jenem Teil des Landes sein würde den der Westen als ehemaligen Osten bezeichnet, so als würde es die Himmelsrichtung Osten seit 89 nicht mehr geben.“

Judith Kuckarts Roman ist vor allem ein Roman über die Zeit. Darüber wie Vergangenheit, Gegenwart und womöglich auch Zukunft auf gleicher Ebene, im gleichen Raum geschehen. Geschickt spielt sie mit den Zeiten. Geräusche, wie Vogelgesang und Düfte durchziehen den Roman und schaffen Sinnlichkeit. Immer wieder werden Erinnerungen oder Zukunftshoffnungen beschworen. Zugleich legt der Roman immer wieder den Blick auf Religiöses, auf die hohe Symbolkraft der Theologie; er spielt zudem passend an einem Osterwochenende von Gründonnerstag bis Ostermontag. (Also großartig geeignet als Lektüre fürs kommende Wochenende)

So treffen sich am Ostersonntag die Nothelfer zum Osterfrühstück bei Lorentz in der Frankfurter Allee. Hier zeigt sich auch, wie sich Freundschaften, gar Beziehungen untereinander gebildet haben und wie brüchig diese dann andererseits wieder sind, weil die Vergangenheit winkt oder der Alltag im Jetzt auch allein schwer genug ist. Doch Sehnsucht haben sie alle. Immer noch und immer wieder.

„Doch sind ihm wie mir jene Gespräche die bedrückendsten, bei denen man sehr allein, aber doch an beiden Enden der Leitung gleichzeitig sitzt, weil der Anruf klingt, als käme er von einem selbst.“

Ich freue mich sehr über Judith Kuckarts reiche bildhafte Sprache. Man merkt, dass sie auch fürs Theater  arbeitet, Choreographien auch fürs Tanztheater macht. Im Buch finden sich außerdem Bezüge zu Shakespeare-Stücken. Großartig sind viele erfindungsreiche, manchmal auch etwas verrückte Wortverbindungen wie: „saß der Abend gegenüber auf dem Haus“ oder „ein Haus, das wie ein Kindermädchen aussah“ oder „durch das innere Wäldchen des Alters laufe(n) …“ oder „seinen Nachnamen bei der Vorstellung weggemurmelt hatte“. Ich hatte das Gefühl, das angenehm wenig passiert in diesem Roman und gleichzeitig auf einer tieferen Ebene ganz viel. Fazit: Roman wieder gelungen!

Das Buch erschien im Dumont Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Ein wirklich schönes Interview mit Judith Kuckart auf dem „Blauen Sofa“ hänge ich hier an:
https://www.zdf.de/kultur/das-blaue-sofa/kuckart-blaues-sofa-leipzig-18-03-2022-100.html

Weitere Besprechungen von Judith Kuckarts Romanen hier auf dem Blog:

Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter Dumont Verlag

3 Gedanken zu “Judith Kuckart: Café der Unsichtbaren Dumont Verlag

  1. Vielen Dank für deine Besprechung, die mir gefallen hat. Mich reizt das Thema als auch das Setting, das folgende Zitat hat mich besonders angesprochen: ‹Als Matthias sich vor vier Jahren für das Ehrenamt bei Sorgentelefon e. V. beworben hat, hat er nicht erwartet, dass der größte Teil der Anrufer arm, schon älter, einsam und oft aus jenem Teil des Landes sein würde den der Westen als ehemaligen Osten bezeichnet, so als würde es die Himmelsrichtung Osten seit 89 nicht mehr geben.› denn als Mensch aus dem Osten, der ich bin, der die Schwierigkeiten seiner Eltern mit der Wende, auch die Vereinsamung, die Folgen eines so harten Bruchs für Einige, Einzelne, nicht Wenige durch die Wende beobachtete, miterlebte und noch heute häufiger darüber nachdenkt, erkannte ich etwas darin. Umgekehrt bin ich unsicher, ob die von dir gelobte Sprache, der Bezug zur Theologie mich ansprechen würden oder werden – mal sehen, ich habe das Buch auf meine Liste ‹Möglicherweise› gesetzt, eine Liste die ich immer mal wieder durchgehe und hin und wieder findet ein Titel von dieser auf den Platz neben mir. Danke und liebe Grüße!

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    • Danke für das Feedback! Ja, das Thema ist interessant, allerdings geht Judith Kuckart in ihrem Buch nicht tiefer in die Ost/West-Thematik ein. Die Sprache ist, denke ich, eher kein Problem, das theologische sicher auch an das Österliche angepasst, da die Geschichte ja an einem Osterwochenende spielt. Viele Grüße!

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  2. Vielen Dank für deine Antwort auf meinen Kommentar. Ach schade, dass das nicht weiter thematisiert wird. Ich habe den Titel auf meine Liste ‹Möglicherweise› gesetzt, gut möglich, dass ich ihn nochmal in Erwägung ziehe, auch wenn ich unschlüssig bin. Es gibt einfach zu viele Bücher und weise Entscheidungen fallen nicht immer leicht, aber das Leben ist kurz. Gäbe es einen anderen Titel der Autorin, den du ggf. eher empfehlen würdest, denn ich kenne sie bislang noch gar nicht? Hab vielen Dank, liebe Grüße aus Amsterdam.

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