Wolfgang Borchert/Roberta Bergmann: Laternenträume Gedichte Kunstanstifter Verlag


Der Kunstanstifter Verlag ist praktisch immer eine gute Adresse für Buchkunst. Diesmal bewundere ich den in Halbleinen fadengebundenen und mit Lesebändchen versehenen hochwertigen Band Laternenträume. Es sind Gedichte von Wolfgang Borchert, den wir alle kennen von seinen Erzählungen. Ich erinnere mich noch deutlich an die Schullektüre von „Nachts schlafen die Ratten doch“. Illustriert wurde das Buch von Roberta Bergmann, die fasziniert von Borcherts Gedichten, die wenig bekannt sind, eine ganz eigene Welt für diese kurzen Texte erfindet. Für mich ist es immer wieder überraschend, wie Künstlerinnen Texte umsetzen, wie Bilder Worte begleiten. Da ich selbst schreibe und mit Tusche arbeite, empfand ich die Bilder als durchaus inspirierend.


Im Buch wird kurz erläutert, wie die Sammlung der Gedichte zustande kam. Borchert selbst nahm wohl seine Gedichte nicht sonderlich ernst. Doch wer weiß, was noch entstanden wäre, wäre der 1921 geborene nicht bereits 1947 im Alter von 26 Jahren gestorben. Borchert wurde 1941 jung in die Wehrmacht eingezogen, wo er sich in der Sowjetunion an der Front schwere Verwundungen zuzog, die ihn auch nach Ende des Krieges weiter behinderten und schließlich zum Tode führten. Binnen kürzester Zeit hatte er seine wenigen Werke geschrieben; die meisten machten ihn erst posthum bekannt. Sie zählten zur sogenannten „Trümmerliteratur“.


Borcherts Gedichte, die kaum bekannt sind, fand Roberta Bergmann, die sowohl Künstlerin als auch Kreativ-Coachin ist, so interessant, dass dieses Buch entstand. Die Gedichte stammen teilweise auch aus dem Nachlass und einer Dauerausstellung der Universitätsbibliothek Hamburg. Viele der Gedichte benennen auch die Stadt Hamburg, die See, Seefahrt, Seeleute und beschäftigen sich mit der Liebe, den flüchtigen, aber intensiven Liebeleien zwischen den Matrosen, die schnell wieder weg sind und den Frauen, die oft als Verführerinnen und gleichzeitig als Haltgebende dargestellt werden. Die Liebe der Frau als Rettungsanker in Sturm und Dunkelheit. Gerade auch in den Illustrationen: Sinnlichkeit, Erotik und Launenhaftigkeit. Gerade auch so wie das Wetter. Die Nacht scheint ebenfalls starken Einfluss zu nehmen. Die Dunkelheit, in die immer wieder Licht in Form von Laternen oder eben Liebschaften dringt. Bergmann setzt in ihren Illustrationen meist kräftige Impulse, schwarz/weiß/rot herrscht vor, wird aber immer wieder durch starke Farben abgelöst. Hier besonders schön der „Prolog zu einem Sturm“ und das „Kinderlied“, in dem Gott oder Göttin Tieren Pflanzen und Menschen Leben (und Farbe) einhaucht.


Kurz thematisiert Borchert auch den Krieg. Auch Aphorismen sind dabei. Für mein Empfinden zeigen die Texte den Lebens- und Liebeshunger eines jungen Menschen, dem jedoch durch den Krieg die Zukunft genommen wurde. Sie wirken oft wie eine Mischung aus Ringelnatz, Tucholsky und Brecht mit einer Prise Rilke. Mich hat es erstaunt, wie viel Zartheit und Zerbrechlichkeit ich dann doch zwischen den manchmal auch derben Zeilen (gerade was das Frauenbild betrifft, war Borchert ein Kind seiner Zeit) fand. Wer echte Buch- und Buchmacherkunst liebt, dem sei der Band ans Herz gelegt!

Das Buch erschien im Kunstanstifter Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Mehr zu Borchert: https://www.wolfgangborchert.de/

Weitere Bücher aus dem Kunstanstifter Verlag:

Zum Welttag der Poesie 2024 ein eigenes Gedicht

©Marina Büttner „Jüdischer Friedhof Weissensee“


Heute zum Welttag der Poesie gibt es ein Gedicht von mir (Mein Lyrikdebütband ist noch immer im Entstehungsprozess). Es ist Teil der gerade neu erschienenen Literaturzeitschrift Wortschau 43 mit dem Thema „Es hört nie auf“ und ich freue mich neben Thomas Kunst, der Hauptautor ist, und anderen tollen Dichter*innen dabei zu sein (Tatsächlich ist es bereits das sechste Mal seit 2019, ich bin selbst erstaunt). Hier kann man sich über dieses und weitere Hefte informieren: https://wortschau.com/
Die Wortschau hat auch einen Stand auf der Leipziger Buchmesse.

Lyrik im Frühjahr 2024 – Eine subjektive Auswahl aus den Verlagsvorschauen Teil 3


Nach Romanen und Erzählungen nun: Mein Blick auf die Lyrik in den Frühjahrsvorschauen 2024 der Verlage. Aber: Es ist ein sehr subjektiver Blick, es ist eine sehr kleine Auswahl diesmal, es sind die, die mir für mich am vielversprechendsten erscheinen. Womöglich habe ich das eine oder andere übersehen. Vielleicht wird der Beitrag später auch noch ergänzt, da manche Verlage ihre Neuerscheinungen noch nicht öffentlich gestellt haben. Viel Vergnügen beim Entdecken!

Was ein Gedicht sein kann? Alles. Frieda Paris‘ Debüt »Nachwasser« ist durchlässig, tiefschichtig, auffächernd. Hier schreibt eine Schreibende, die den Einflüsterungen ihrer Wortmütter ebenso lauscht wie denen eines Vogels, der auf ihrer Schreibschulter ein Nest gebaut hat. Der Text lässt seine Leserinnen und Leser an der Entstehung eines langen Gedichts teilhaben, nimmt sie mit an den SCHNEIDETISCH, wo alles zusammenfindet: gestrandetes Poesiegut, Tränensalz, Wörter der Kindheit (Text Verlagsvorschau) Erscheint im Frühjahr 24 bei Edition Azur/Voland & Quist.

Politsprache sei immer darauf aus, einen Konsens zu suggerieren, Mehrheiten zu behaupten, Gegenmeinungen, anders Denkende und Sprechende zu vereinzeln, sagte die Dichterin Barbara Köhler einmal im Interview und dichtete: »Ich harre aus im Land und geh ihm fremd.« In der DDR geboren und aufgewachsen, begann sie früh, durch und über die Sprache Machtverhältnisse aufzulösen, das Feststehende aufzukündigen, die Bedeutungen aufzubrechen. (Verlagstext) Schriftstellen erscheint am 11.03.24 im Suhrkamp Verlag.

Elke Laznia fokussiert in „Fischgrätentage“ das, was die Zeit mit unseren Körpern macht, mit unserem Geist, was Bindungen sind, was von ihnen bleibt. Und immer geht es um den Verlust. Der Verlust als die Quelle, an die jede/r angeschlossen ist. Der Verlust, der teilbar und mitteilbar ist. Es ist ein poetisches Schreiben entlang der letzten Dinge, wider das Nützlichkeitsdenken und die marktgängige Optimierung unseres Bewusstseins. Damit der menschliche Geist nicht restlos von der Maschine ersetzt wird, darf er nicht selbst maschinenhaft werden. Lyrik ist dabei ein wirksames Antidot. (Verlagstext) Der Band erscheint am 01.03.24 im Müry Salzmann Verlag.

Von Klängen des Stundenholzes getragene Erzählgedichte, sprachanalytische Gedichte oder solche, die lakonisch etwas behaupten, werden in Fußnoten, Kommentaren und Kurzessays fortgeführt und geben Einblick in den literarischen Schaffensprozess. Die sinnliche und zugleich metaphysische Poesie wechselt zwischen Lebensbejahung und -überdruss, zwischen erlittenem Mangel und Glücksempfinden. (Verlagstext) Stundenholz von Alexandru Bulucz erscheint am 20.3.24 im Schöffling Verlag.

Der Schriftsteller Wolfgang Borchert (1921-1947) zählt zu den bekanntesten Vertreter*innen der Trümmerliteratur. Sein lyrisches Werk erzählt von seiner Heimatstadt Hamburg, dunklen Abenden und Nächten, von Liebe, Rausch und Abschied. Die Gedichte lesen sich wie ein Streifzug durchs Laternenlicht der Stadt, hin- und hergerissen zwischen Melancholie und Lebenshunger. Wolfang Borcherts Texte begleiten die Illustratorin Roberta Bergmann schon seit ihrer Jugend. Um sein lyrisches Werk zu ehren, hat sie frei und experimentell Illustrationen geschaffen, die Borcherts Gedichte visuell ergänzen, weitererzählen und so näher ins fahle Laternenlicht rücken. (Verlagstext) Laternenträume erscheint am 26.02.24 im Kunstanstifter Verlag.

Ich gehe zurück, zum Anfang / des Endes. Egal wie düster die Bilanz ausfällt, der Mensch und die Welt verlangen nach Verteidigung. Und nichts eignet sich dazu besser als Gedichte, als diese Gedichte, so umstandslos und klar. (Verlagstext) Fedor Pellmanns „Nur noch den Abend erreichen“ erscheint am 22.02.24 im Jung und Jung Verlag.

Wo das Land aufhört, das Land beginnt, wie lang die Küste wirklich ist, weiß niemand, verändert doch das Meer die Linie, Länge, Lage, verwischt es die Grenzen zwischen dem, was fest, und dem, was flüssig ist. Zwischen düsterem Märchen, mythischer Schöpfungserzählung und irrwitziger urban legend bewegen sich die Gedichte, aus ihnen erhebt sich ein vielstimmiger Chor, changierend wie das Licht, das sich an den Wellen bricht, um von all den Wechselwirkungen und Vorkommnissen am Meeresrand zu künden (Verlagstext) Sue Goyettes „Ozean“ erscheint am 07.03.24 im Matthes & Seitz Verlag.

Mit „Blaudunkel“ legt Juliane Blech erstmals einen Lyrikband vor, der sich prononciert an ein erwachsenes Publikum richtet. Darin versammelt sie 75 Texte, Liebes- und Dinggedichte, Verse aus dem Alltag, zur Welt-Befragung, im Fokus der Natur, vom Wandel der Zeit berichtend. Die Gedichte ziehen ihre Stärke oft aus der Stille, dem gefestigten Staunen, immer wieder aus dem elementaren Erlebnis der Liebe. Reime und Assonanzen treten auf, auch Reihen und Serien, klare Linien wie Metaphern-Knoten. (Verlagstext) Der Band erscheint im Februar 24 bei Mitteldeutscher Verlag.


Gedichte sind Flaschenpost, das wissen wir seit Mandelstam und Celan. Diese Post ist Gesang und Gebet, Protokoll und Analyse. Im Idealfall spricht sie aus, was sonst ungesagt und ausgegrenzt bleibt. Olga Martynova arbeitet als Lyrikerin im Bewusstsein des reichen Erbes, das die avantgardistische Kunst des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Olga Martynovas Gedichte lassen Raum für Trauer und Krieg, für Befragung und Wut, aber auch für das Alltägliche und die Bewunderung der Welt. (Verlagstext) Such nach dem Namen des Windes erscheint am 27.03.24 im S. Fischer Verlag.

Langgedichte, Kurzgedichte, Tanka und natürlich Sonette, diese Antriebsraketen für alle anderen Gedichtformen, umfasst Thomas Kunsts neuer Gedichtband. Und am Ende eines jeden Kapitels steht das Meistersonett, ein Brief an seine Katze . Voller Anmut und feinem Humor sind diese Verse, befremdend schön, und eine Art Schutzzauber gegen alles, was uns Angst macht, gegen eine gewaltbereite Welt. (Verlagstext) Der Band erscheint am 18.03.24 im Suhrkamp Verlag.

Marianne Jungmaier sind Bilder von großer Kraft und Intensität gelungen. Sie entstehen weniger aus Beobachtung und Nacherzählung, sondern aus dem magischen Austausch mit der Natur, aus dem Reflektieren über Prozesse des Werdens, Wachsens und Vergehens, aus gegenseitigem Miteinander und Umkreisen. (Verlagstext) Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens erscheint im März 24 im Otto Müller Verlag.

Meine leuchtenden Liebsten im Jahr 2023 – Romane, Erzählungen, Lyrik, Hörbuch

Mein literarischer Jahresrückblick


Es war erstaunlich wenig Lyrik für mich persönlich in diesem Jahr dabei, aber das lag womöglich an meiner Lyrik-Lese-und Schreib-Flaute. Dafür gab es umso mehr intensive Romane und ungewöhnlich starke Erzählungen als Lektüre. Hier konnte ich die Auswahl auch nicht weiter einschränken. Ich bin sehr zufrieden mit dem Lesejahr, in dem auch wieder Autorinnen haushoch in der Mehrzahl sind, ohne dass ich es bewusst beabsichtigt hätte. Durch Klick auf das jeweilige Foto gehts zur Besprechung.
Kommt alle gut ins neue Literarische Jahr!
Gleich eingangs erwartet Euch dann hier wieder mein 3-teiliger Blick in die Frühjahrs-Vorschauen 2024.

Romane


Erzählungen und ein Hörbuch


Lyrik

Ulrike Bail: im halblichten geäst deines atems Conte Verlag


Es ist schon erstaunlich, wie Gedichte bei mir „funktionieren“: Ich weiß meist auf Anhieb nach den ersten Worten, ob sie mich anziehen, ergreifen, berühren, ob sie einfach zu mir passen im Moment, ob ich mich mit ihnen umhüllen kann oder nicht. Und eine Dichterin scheint es immer zu schaffen, mit jedem Gedichtband neu, dass ich ein Zuhause darin finde. Das ist der Luxemburgerin Ulrike Bail auch mit ihrem neuen Lyrikband „im halblichten geäst deines atems“ gelungen.

Es ist eine Melange aus Melancholie, mystischen Anklängen, Erdverbundenheit, Naturempfinden. Eine Verbindung zu etwas Höherem lese ich hinein und noch etwas, was ich nicht benennen kann. Vielleicht ist die große Erdmutter Gaia mit ihm Spiel und/oder magische Naturgeister. Bail erzählt nicht, sie webt einen oftmals fliegenden Wortteppich, der genügt, um es zu verstehen. Es geht nicht um Höhe, sondern um Tiefe. Es geht um das Geheimnis, dass für mich aus jedem guten Gedicht herausleuchtet und nicht unbedingt gelöst werden muss, sondern nur in Wahrheit betrachtet sein will.


Mit diesen Gedichten mache ich einen Spaziergang im Wald ohne das Zimmer zu verlassen. Ich verbinde mich mit der Natur. Ich gehe aufmerksam, um alles was wächst und lebt zu sehen. Bail gibt mir dabei Hinweise. Diese oder jene Pflanze erhält einen oder gleich mehrere Namen. Ich höre von den Bedürfnissen von Moos und vom Klang der Pflanzensporen- und Samen. Ich lese die Sprache, die auf entrindeten Ästen steht und schmecke die Nadeln einer Tanne. Eines ist ein Erinnern an den verstorbenen Vater. Ein weiteres eine Hommage an eine Heilpflanze: Goldenes gegen den Tod. Ein Gedicht aus verschiedenen (erfundenen?!) Pflanzennamen hört sich an wie eine Liebkosung.

„wohlriechende kraternelle gold
samthäubchen bernsteinfarbenes
kiefernadelkopfbecherchen […]
laubholzmuschelfüßchen eulchen“

Eines erzählt, was beim Baumschlag zu beachten ist.

„die beurteilung eines baumes vor der
fällung wird baumansprache genannt“

Ich sehe die Brüche, die der Wald erlebt hat, und spüre ihnen nach. Heilkräuter, Pilze, Vögel, Wolken über den Baumkronen. Doch in scheinbarer Idylle lauert auch immer der Tod. Der natürliche Werdegang alles Sterblichen. Oder der gewaltsame.

Die Dichterin schreibt durchgehend klein ohne Satzzeichen, gut begründet: Zeilensprünge verlangsamen einerseits das Lesen, andererseits wird es fließender. Kein Wort kann so wichtiger wirken als ein anderes. Ein jedes ist gleichberechtigt. Kein Komma oder Punkt gibt die Lesart vor. Die Leser*innen gestalten so selbst das Gedicht mit. Um die Gedichte noch stärker in Szene zu setzen, hat Ulrike Bail gerahmte, DIN A5 große Collagen dazu gestaltet. Ich darf die „Wurzlerin“ inzwischen mein eigen nennen (Abbildung siehe oben). Alle Gedichte zusammen bilden eine starke Einheit, zu der ich mich hingezogen fühle und an deren Ende eine Art Einverständnis entstehen kann. Die Natur schließt auch uns Menschen ein. Wir sind im Grunde natürliche Wesen, die immer weniger mit der Natur leben und dadurch vieles Heilsame verlernt haben. Auch verlernt haben, uns mit der Endlichkeit auseinander zu setzen. Deshalb ist es wichtig in den Wald, durch die Wiesen zu gehen. Über eine winzige Pflanze, einen Abendhimmel zu staunen. Junge Sprösslinge und Verblühtes zu sehen. Deshalb ist es wichtig Gedichte zu lesen.

Interessant ist für mich, dass ich mich bei besonders geliebten Gedichten eher schwer tue, etwas darüber zu sagen. Wohl, weil es keiner Erklärung oder Deutung bedarf. Weil sie bei mir auf einer weiteren Ebene wirken, nicht ausschließlich über den Verstand. Ein Leuchten!

Das Buch erschien im Conte Verlag. Weitere Besprechungen zu Gedichtbänden von Ulrike Bail:

🇸🇮 Cvetka Lipuš: Weggehen für Anfänger Otto Müller Verlag


Weggehen für Anfänger: Bereits der Titel dieses Gedichtbands zog mich magisch an. Cvetka Lipuš lebt in Österreich, schreibt aber auf Slowenisch; der Lyrikband ist zweisprachig. Sie ist die Tochter des Schriftstellers Florjan Lipuš. Somit passt dieser Beitrag zum Buchmesse Gastland; in Frankfurt liegt in diesem Herbst das Augenmerk auf Slowenien.

Die Dichterin scheint sehr vertraut mit dem Titel ihres Lyrikbands. Die Gedichte handeln immer wieder vom Abschied nehmen, tragen eine stete Melancholie in sich. Jedoch sind sie leicht zugänglich, ohne dass sie dadurch an Tiefe verlieren würden. Mitunter erinnern sie mich im Duktus an die Poesie der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska. Sie enthalten immer einen sehr realistischen oft sehr aktuellen Kern mitten im lyrischen Gerüst. Dabei haben sie oft auch eine feine Ironie, einen Funken Humor verinnerlicht. Ein gutes Beispiel und etwas, was man aufgrund all der Schrecknisse inzwischen täglich machen könnte, zeigt sie im Gedicht „Anleitung zum Gebrauch des Montags„:

Noch bevor du aufstehst, prüfe,
ob sich nicht etwas Unerwartetes ereignet hat,
was ein weiteres In-den-Laken-Liegen zulassen würde.

Die Dichterin zeigt sich als Kommentierende des Alltags, zur politischen Lage, sie umschreibt Begegnungen und Beziehungen, doch das Alleinsein und die Einsamkeit spielen die bedeutendste Rolle. Sie schreibt übers Schreiben, über Verluste, sie ruft die verlorenen Menschen an, sie verabschiedet sie und sie will „die Vergangenheit ins Reine schreiben“. Dabei finden auch Innenreisen statt, der Körper nimmt Anteil an allen Geschehnissen, mitunter kann man sich nicht mehr auf ihn verlassen.

„Gewesenes wird abgezogen von Künftigem,
unterm Strich bleibt die Gegenwart.
Wir reisen durch sie hindurch
vom Herzschlag bei der Ultraschalluntersuchung –
ein pulsierender Stern auf schwarzem Bildschirm –
bis zum Hinstrecken auf den geraden Strich
des Kardiogramms.
Ewigkeit währt nur so lange, wie uns die Erinnerung
von Generation zu Generation summiert,
Erinnerung bleibt nur, solange wir sie
der Zeit abkaufen,
doch die ist niemandem etwas schuldig.“

Sie erzählt vom Geschichten erzählen, vom Fabulieren, vom Hinzufügen und Verändern der alten Geschichten, von den Ahnen, den Vorfahren, den Alten, den Jungen und wie sich alles immer schneller wandelt. Sie weiß Wettervorhersagen zu verdichten, Horoskope oder das Abendessen am Katzentisch als Alleinreisende. Dazu herrscht ein beschwingter Rhythmus in allen Gedichten, ob Reim oder nicht.

„Wenn ich die Vergangenheit vergesse, erinnert sich
die Vergangenheit an mich. Sie sagt, es ging uns doch gar nicht
so schlecht. Komm bloß nicht in meine Nähe,
antworte ich. Wir sind fertig miteinander.“

Der Lyrikband erschien im Otto Müller Verlag. Klaus Detlef Olof hat ihn aus dem Slowenischen übersetzt. Drago Jančar schrieb ein Vorwort. Eine Leseprobe gibt es hier. Die Lyrikerin liest auch auf der Buchmesse am 20. und 21. Oktober. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Weitere Besprechungen zu Autoren aus Slowenien:

Literaturnobelpreis 2023 für Jon Fosse!


Wie ich mich freue!

Ich bin schon seit sehr langer Zeit großer Fan des 1959 in Haugesund geborenen Norwegers Jon Fosse, habe nahezu alles von Ihm gelesen. Seine Romane, ebenso seine Stücke. Einzigartig! Ich erinnere mich noch mit welchen Gefühlen ich aus dem Theaterstück „Die Nacht singt ihre Lieder“ kam, obwohl das schon Jahre her ist. Im Moment warte ich auf die Übersetzung des dritten Bandes (gerade gesehen: erscheint 2024) der als Heptalogie angelegten Romanreihe nach „Der andere Name“ und „Ich ist ein anderer“, die bei Rowohlt erscheint. Und dann gibt es die wunderbaren bibliophilen Ausgaben mit Gedichten und Kurzprosa im Kleinheinrich Verlag, Münster. Fosses Sprache ist ungewöhnlich und eigen und vermutlich auch nicht jedermanns Sache. Für mich jedoch ist es eine zauberhafte Sprache, die scheinbar schlicht ist, aber durch ihre Wiederholungen und ihre Tiefe wirkt. Sie setzt die überwiegend melancholischen essentiellen Themen wie Einsamkeit, Tod, Liebe gerade richtig in Szene. Für mich sind seine Texte von spirituellen Erfahrungen durchdrungen und gerade das liebe ich.
Fosses Bücher wurden überwiegend von Hinrich Schmidt-Henkel vom Norwegischen ins Deutsche übertragen.

Seine Theaterstücke erhielten viele Preise, auch der Literaturpreis des Nordischen Rates wurde ihm verliehen. „Seit 2011 genießt er lebenslanges Wohnrecht in der „Grotte“, einer Ehrenwohnung des norwegischen Königs am Osloer Schlosspark“ Auszug aus der Biografie des Rowohlt Verlags. Soviel zur Wertschätzung der Schriftsteller in Norwegen. Und für die Knausgård-Fans: Fosse war sein Lehrer in der Schreibschule.

Mit Klick aufs Foto gehts zur jeweiligen Besprechung. Dort finden sich auch Zitate und Links zu Leseproben.

Bei Rowohlt:


Bei Kleinheinrich, wunderschön und bibliophil:


Ein schönes Interview mit dem Übersetzer gibts ganz aktuell beim Deutschlandfunk Kultur:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/literaturnobelpreis-2023-an-jon-fosse-gespraech-mit-hinrich-schmidt-henkel-dlf-kultur-c01ff20c-100.html