Felicitas Geduhn: Sommer S. Marix Verlag


Ein Roman, den ich von selbst nie entdeckt hätte, hätte mich nicht die Autorin selbst auf Instagram darauf aufmerksam gemacht. Nach der Leseprobe war klar: Das will ich lesen. Der Roman ist in drei Abschnitte aufgeteilt, die zu verschiedenen Zeiten spielen. Ein Entwicklungsroman, ein Coming of Age-Roman also. Ja, aber viel mehr. Denn hier liegt wieder einer dieser seltenen Glücksfälle vor, in dem die Sprache die Geschichte trägt. Beides geht Hand in Hand, wobei die Sprache voran geht. In allem, auch in der Sprache liegt eine schwere Tiefe, eine dichte Intensität, die unbedingt zum Ausdruck kommen will und es auch darf.

„Und? Ist da was dran?“ Mir gefiel die Idee, dass man Gefühle auf Vorrat fühlen konnte. Dann würde ich gleich damit anfangen, alles Schmerzende leer zu fühlen.“

Gleich die ersten Sätze, überhaupt der erste Abschnitt des Romans verzaubert mich. Ja, das klingt kitschig, übertrieben. Aber ich bleibe dabei. Denn ich vergaß alles rund um mich herum. Felicitas Geduhn schafft eine Sommeratmosphäre, wie ich sie selbst aus meinen Kindheitssommern kenne. Erst glaubt man, die Ferien dauern ewig, dann vergehen sie viel zu rasch.

„Wie kann ein Fluss so sehr Zuhause sein, wo er doch nie derselbe ist, der er eben noch war?“

1989, ein ostdeutscher Ort an der Elbe: Die Heldin, Anna, und ihr bester Freund Martin sind 10 Jahre alt. Sie kommen beide aus „komischen“ Verhältnissen, wie es in der Schule heißt. Doch das verbindet sie. Martin wird nach Ende des Sommers mit seiner Mutter zum „neuen“ Vater ziehen. Er will vorher unbedingt seinen richtigen Vater kennenlernen, den er als Helden verehrt. Was naturgemäß in einer mittleren Enttäuschung endet. Für Anna, die bei der Großmutter lebt, da sie elternlos ist, wird die Begegnung mit Fanny, einer Freundin der Großmutter, ganz entscheidend zur Entwicklung eines neuen Selbstvertrauens beitragen. Leider wird dieses Selbstverständnis dann zum Ende des Sommers wieder durch ein Schrecknis erschüttert. Dieses erst große Kapitel hat mich begeistert; es ist, wie ich finde der beste Teil des Buches.

„Martin schob einen der beiden Schlüssel ins Schloss, erwischte den falschen und mir schoss durch den Kopf, ob das vielleicht so sein sollte. Ob es einfach Menschen gab, die immer zuerst den falschen Schlüssel wählten, auch wenn es nur zwei gab, und die Chancen den richtigen zu nehmen, eigentlich so schlecht nicht standen.“

Die beiden weiteren Kapitel spielen zehn Jahre später bzw. 2015. Viele der Entwicklungen erspürt man mehr, als dass sie genau beschrieben werden. Manches wird erst nach und nach in Rückblenden aufgelöst. Diese Art zu erzählen gefällt mir sehr. Diese Leerstellen. Ähnlich geht auch Judith Hermann an ihr Schreiben heran und ja, mich erinnert der Stil tatsächlich im besten Sinne an deren Erzählungen und Romane.

Der Abschluss des ersten Kapitels hat enormen Einfluss auf die weiteren Geschehnisse. Für Anna sind sie letztlich wegbestimmend. In ihr wirken sie immerfort. Durch den frühen Tod der Eltern ohnehin eher still und in sich gekehrt, wird sie auch in späteren Beziehungen immer vorsichtig sein. 1999: Anna lebt mittlerweile in Berlin, wird Bibliothekarin, wohnt mit einer anstrengenden Frau und einer Schildkröte in einer WG. Hat eine Beziehung mit Kay, dem Sohn von Fannys Tochter. Haben sie eine Beziehung? Aus der Ferne? Auch als Leser ist man sich nicht sicher. Gibt es noch Kontakt mit Martin? Aus der Ferne?

2015: Anna fährt in ihre Heimatstadt. 4 Wochen Sommerzeit. Mit Fannys Tochter verbindet sie mittlerweile eine gute Freundschaft. Mit Kay hat es nicht dauerhaft geklappt. Martin ist inzwischen Vater geworden; die Beziehung mit Annas Arbeitskollegin hingegen hat nicht gehalten. Er hat das Haus seines Stiefvaters geerbt und möchte mit Anna über die Zukunft reden. Die Zukunft? Eine gemeinsame Zukunft? Ein Zusammenleben? Würde Anna jemals wieder an ihrem Heimatort leben wollen? Fragen über Fragen, die schwierig zu beantworten sind, da die Freunde eben doch nicht mehr so nah sind, wie es einmal war. Und weil das Schicksal auch in diesem Sommer wieder dafür sorgt, dass das Leben aus den Fugen gerät. Was genau passiert, verrate ich hier nicht. Nur soviel: Geduhn hat eine ganz zarte feinfühlige Art zu Erzählen, die in aller Traurigkeit der Geschehnisse doch wieder tröstlich ist. Ich bin ganz nah dabei. Wer im Leben schon ähnlich am Rand stand, auch aus einer „komischen“ Familie stammt oder Melancholie in sich trägt, weiß diese Art zu schreiben besonders zu schätzen.

Ich bin froh, dass diese Lektüre zu mir gefunden hat. Ohne sie gäbe es ein literarisches Leuchten weniger. Ich danke der Autorin für das Rezensionsexemplar und freue mich auf ihren nächsten Roman.

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