Karin Smirnoff: Wunderkind Hanser Berlin Verlag


Nach Karin Smirnoffs bemerkenswertem Debüt „Mein Bruder“ folgt nun in deutscher Übersetzung „Wunderkind“. Ich bin weiterhin sehr erfreut über die Entdeckung dieser Autorin, obgleich es schwere harte Themen sind, die Smirnoff in ihren Romanen bearbeitet. Es geht auch diesmal um dysfunktionale Familien, um Missbrauch und vor allem um Kinder, die in den dargestellten Familien das Nachsehen haben und es aus der Not heraus erlernt haben, wie man überlebt, wenn man sich nicht auf Eltern verlassen kann. Tatsächlich gibt es kaum Lichtblicke in diesem Roman, noch weniger als im vorigen. Dies als Vorwarnung.

Hauptfigur und Heldin im Wortsinn ist Agnes, die wir von ihrer Geburt an begleiten und die sich schnell als Wunderkind entpuppt, was ihr musikalisches Können angeht. Bereits mit zwei beginnt sie schon auf dem Klavier zu spielen. Das Talent hat sie wohl von der Mutter geerbt, Anita, deren Karriere jedoch aufgrund der Schwangerschaft mit Agnes gestoppt wurde. Der Vater ließ sie allein mit dem Kind. Mit dem eigentlich ungewollten, sie störenden Kind. Sie tut alles, damit Agnes das auch spürt und erlaubt ihr nicht einmal die Flucht in die Musik. Schon früh teilt sich Agnes ihr Dasein in die „Umwelt„, also das Alltägliche, meist Hoffnungslose und in die „Welt„, die für sie die Musik ist und in die sie am liebsten immer eintauchen würde. Doch die Umwelt stört immer wieder. Agnes nennt ihre Mutter Anitamama, ich lese – ganz freud`scher Verleser – ständig Antimama. Zunächst gibt es noch Großeltern, die sich kümmern, dann bricht Anita mit den Eltern. Als sie wieder einen neuen Mann findet, scheint sich das Blatt zunächst zum Besseren zu wenden. Doch Anita kommt aufgrund von Depressionen in eine Klinik. Wieder zurück, wird bald ein Geschwisterkind geboren, für das Agnes sich gleich verantwortlich fühlt/fühlen muss.

„Ich bin das Kind das das Leben seiner Mutter zerstört hat. Das den Platz übernommen hat der eigentlich ihr gehörte. Sie singt ich spiele. Sie singt falsch ich passe mich an. Wenn ich überleben will darf ich sie nie übertreffen.“

Durch den Musiker Frank, der Anita schon länger kennt, tut sich für Agnes wieder die Welt der Musik auf. Zusammen mit Kristian, der Cello spielt und mit dem sie zusammen beginnt, eigene Stücke zu komponieren, gibt es sogar bald Auftritte mit Publikum. Als Leserin freute ich mich, dass da endlich jemand ist, der Agnes liebevoll annimmt. Doch dann zeigt sich langsam aber immer deutlicher, dass Frank Kinder nicht nur gern hat, sondern sie auch sexuell missbraucht und das Liebe nennt. Das ist als Leserin kaum auszuhalten, diese Hoffnung, die dann wiederum im Unguten mündet. Für mich war es ein großer Zwiespalt, mit anzusehen, wie die Kinder ihn total mögen, wie er ihnen Hilfe, Förderung und lang vermisste Zuneigung entgegenbringt, und dann aber doch diese Grenze überschreitet und den Kindern neues Leid antut. Gut beschrieben wird hier auch, wie er sich immer „bedürftige“ Kinder aussucht, deren Eltern sich wenig um sie kümmern. Gleichzeitig zeigt die Autorin auch den eigenen Missbrauchshintergrund von Frank als Kind. Agnes trifft es spät, Kristian und auch Miika, der zum Ensemble dazu kommt, leiden stark unter Franks Übergriffen. Die jeweiligen Eltern merken nichts davon oder wollen es nicht merken.

Als Anitas neuer Mann sie plötzlich mit dem leiblichen Sohn Richtung Frankreich verlässt, ist Agnes erschüttert. Zwischen dem kleinen Bruder und ihr, gab es ein starkes Vertrauensverhältnis. Sie überredet Frank, mit ihnen nach Paris zu fahren und ihn zu suchen. Frank organisiert dort Konzerte für die Kinder, die immer besser und stärker werden durch das gemeinsame Musizieren. Oft betäuben sie sich mit Alkohol unter dem Motto: „Schmeckt nicht gut tut aber gut“. Kristian, der immer wieder Selbstmordgedanken hat, und Agnes sind durch die Musik besonders stark verbunden. Sie komponieren ganze Stücke und kommen damit an. Doch Frank nutzt das aus und schickt sie zuletzt sogar in die Prostitution (die Kinder sind zum Zeitpunkt des Haupterzählstrangs 9 bis 12 Jahre alt!)

„Aus dem Fenster zu fallen ist Nummer vier von neun denkbaren Arten zu sterben. Die drei ersten hat er genau durchdacht und in einem Schreibheft notiert.“

Agnes Mutter ist nach deren Rückkehr aus Paris wieder in einer Klinik, die Wohnung aufgelöst und Agnes zieht wieder zur Großmutter. Hier zeigt sich die Krankheit der Mutter wieder deutlich: Sie überlässt Agnes völlig ihrem eigenen Schicksal. Auch hier lässt Smirnoff immer wieder durchscheinen, dass der Großvater womöglich auch übergriffig war gegenüber Agnes` Mutter. Das Hausmädchen der Großeltern, Susanna, dass entlassen wurde, als sie schwanger war und in die Drogensucht abgleitet, war Agnes oft eine große Stütze mit ehrlicher Zuneigung. Sie ist es auch, die am Schluss, die Kinder aus den Klauen von Franks Machenschaften rettet, in dem sie die Polizei verständigt. Spät genug, denn die Kinder sind längst traumatisiert, in mehrfacher Hinsicht. Agnes und Kristian sehen sich nicht mehr, scheinen beide nicht mehr musizieren zu können. Was als Überlebensstrategie und Flucht aus dem Alltag lange funktionierte, scheint verloren …

„Ich war ein Wunderkind. Jetzt bin ich ein gewöhnliches Kind. Das ist einfacher.
Die Musik ist verstummt.
Wenn ich nicht spielen kann ist es nicht passiert.“

Karin Smirnoffs Sprache ist verkürzt und dicht. Ruppig und oft kindlich wirkt sie; sehr nah an der Ich-Erzählerin angelegt. Oft fehlen Satzzeichen, oft wechselt die Perspektive rasch. Die Autorin schafft es die furchtbaren Geschehnisse so verschleiert und unklar zu lassen, dass die Geschichte der Kinder auch der Fantasie der Leserin ausgeliefert ist. Gleichzeitig stattet sie die Kinder mit einem gewissen Galgenhumor aus, der sie oft rettet. Sie bewahrt den Stil, den ich von „Mein Bruder“ so schätzte und ich werde sicher auch den nächsten Band lesen.

Das Buch erschien im Hanser Berlin Verlag. Übersetzt wurde es von Ursel Allenstein. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Friederike Haerter: Im Zugwind flüchtender Tage Aphaia Verlag

Friederike Haerters Debüt-Gedichtband spricht mich bereits äußerlich sehr an. Ein wunderschönes Cover und im Umschlag ein Stilleben mit Feigen. Von Pamina Adele, steht im Impressum, stammen die Illustrationen, die mit den Gedichten harmonieren.

Mit Friederike Haerters Gedichten begebe ich mich auf eine Reise durch die Zeit, und durch verschiedene Länder, sie erzählen Geschichten. Sie folgen einer Chronologie, die sich am Lebenszyklus orientiert. Dass sie teils autobiografisch sind, schreibt die Dichterin auch in ihrem Nachwort.

„nur Kastanien sind krank
geschrieben löchrig braune
Hände kritzeln in den Wind

der Himmel bedeckt sich mit
all den verworfenen Skizzen“

Eingangs betreten wir eine Landschaft, die von einem jungen lyrischen Ich besiedelt ist. Es dürfte sich um die Heimat-Landschaft der Dichterin handeln: es ist die Uckermark nahe der Oder, aber auch bereits nahe der Ostsee. Eine Kindheit in dieser Gegend war prägend, ein Leben auf dem Land zumal bei einer Geburt im Jahr 1989, als alles sich veränderte, politisch wie privat, vieles sich öffnete, manches sich schloss. So streifen wir mit der Protagonistin als Kind durch die Natur, erleben deren wilde Nähe und dann wieder die Suche nach Zugehörigkeit bei den Menschen. Es gibt ein „Wir“, es sind offenbar Geschwister oder Freundinnen, die gemeinsam mit der Fantasie spielen, Drachen steigen lassen, eigene Abenteuer kreieren, ganz unbekümmert. Besonders hier erinnern mich die Gedichte an Kerstin Beckers Lyrik im Gedichtband „Biestmilch“.

„wir hatten Land
hinter Kanten aus Gras
Im Nirgend wo Grenzen verliefen
war Land aus dem Wind
die Drachen stiegen
bunte Kreuze hochgeworfen in die Luft
an einem Faden der so tief
in unsre Kinderhände schnitt“

Die Texte lassen mich auch einen Werdegang erkennen. Ein flügge Werden, ein weg von zu Hause, sogar weit weg. Die eigene Wohnung in Paris (?) folgt, das sich fremd fühlen, die Einsamkeit, aber auch die neuen Chancen. Es folgen Reisen durch andere Länder, noch weiter weg. Und immer wieder die Rückkehr. Die Heimkehr, wenn auch nur kurz. Sehr sinnlich sind die Gedichte, besonders dann, als eine neues Fühlen hinzukommt: das Körpergefühl einer Schwangerschaft, die Inbesitznahme des Körpers durch ein lebendiges wachsendes Wesen.

„und ich stelle mir vor
ein Kind
das sinkt in Richtung Welt
die Schnur die es an mich bindet
meinen Leib
ein Heißluftballon
der sich mit Atem füllt und steigt“

Und auch dann führt der Weg weiter. Neue Orte, neue Landschaften, innere wie äußere. Veränderungen, die auch das eigene Schreiben der Hauptfigur immer wieder in Frage stellen. Doch der Drang des zu Papier bringen Wollens, ja Müssens, der Wortwuchs, lässt sich nicht aufhalten. Und endet, vorerst, im Erscheinen dieses Debütbands, der eine große Sprachbegabtheit zeigt.

„draußen läuft ein Tag
blau an, in die engen Schläfen
presst er sich das
ganze Leuchten
licht belaubter Seelen
eine Linde stillt die Luft“

Viele viele spannende Zeilensprünge gibt es, mehrmals neu lesbar, variantenreich. Was mich vor allem fasziniert, ist die Art, wie Friederike Haerter ihre Gedichte zu Ende bringt. Sie überrascht mich da immer wieder. Die Verse enthalten einen Rhythmus, der mich durch die Zeilen treibt und jeder Reim passt. Und dann immer wieder der starke Schluss. Kein Paukenschlag, aber ein Zimbelklang. Ich, die ich selbst immer mit dem Schluss eines Gedichtes zu kämpfen habe, bin davon begeistert. Die Gedichte sind oft gar nicht lang und enthalten doch alles was nötig ist, um deutlich Bilder aufsteigen zu lassen. Ein stimmungsvolles Debüt! Lesenswert auch, was die Lyrikerin über ihr Schreiben im Nachwort erzählt. Ich habe oft gedanklich zugestimmt.

Im Zugwind flüchtender Tage“ erschien im Aphaia Verlag. Vielen Dank für das Rezensionsexemplar.

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter Büchergilde Gutenberg/Argon Hörbuch

„Nicht hier sein wollen und woanders nicht hinkönnen, auch das habe ich von ihr.“

Immer wieder habe ich von diesem Roman gehört; oft hieß es „Geheimtipp“ oder „Ganz besonders“. Ich bekam dann die schöne Ausgabe der Büchergilde als Geschenk, als ich gerade auch das Hörbuch entdeckt hatte. Und so habe ich sozusagen parallel gehört und gelesen und muss sagen, dass das zuhören wirklich eine Freude war, denn der österreichische Schauspieler Wolfram Berger interpretiert den Roman grandios. Es ist, als würde er die Geschichte aus seinem Gedächtnis heraus erzählen und nicht etwa ablesen, was die Perspektive der Ich-Form erleichtert. Durch seine Worte hindurch spürt man die Atmosphäre des Romans, man erlebt mit dem Helden mit; stimmig dazu auch die österreichische Tönung der Sprache.

Alois Hotschnig orientiert sich mit diesem Roman an der Biographie des Schauspielers Heinz Fitz. Er schreibt sich suchend und tastend um dieses Leben herum und mitunter auch sehr tief hinein. Dabei macht er stets klar, dass alles wahr oder eben auch fiktiv sein kann. Die wenigen wirklich sicheren Fakten, mit denen sich der Held Heinz zufrieden geben muss, führen dabei wie ein roter Faden voran. Schon als kleines Kind herrscht größtmögliche Unsicherheit, da Heinz der Sohn einer Norwegerin ist, die sich in der Besatzungszeit mit einem deutschen Soldaten „eingelassen“ hat. Die schwangere Gerd wird von ihm 1942 zumindest ein Stück weit in seine Heimat Hohenems in Österreich begleitet. Doch die weitere Reise ist von Unterbrechungen und Unrast geprägt. Nachdem der Sohn geboren ist, erleidet Gerd einen Zusammenbruch und kommt in eine Klinik. Dort wird sie auch gegen ihre Epilepsie behandelt, von der sie erst spät geheilt wird. Heinz wird, vermutlich, in einem Heim des Lebensborn untergebracht.

„Der Lebensborn war es, der meine Mutter mit mir im Bauch von Norwegen nach Hohenems heruntergeholt hat. Der Lebensborn war überall oder sollte überall sein, so war es gedacht und geplant, wo es diese Mütter und deren Kinder gegeben hat. Und doch wusste kaum jemand davon.“

Und so sehen sich beide erst nach vier Jahren wieder, als die Mutter ihn sucht und auf einem Bauernhof findet, wo er als Pflegekind lebte. Immer steht die Frage nach dem Vater im Raum, der nicht mit ihnen leben will und die Mutter, die oft glaubt, Heinz wäre als Baby vertauscht worden. Diese Frage nach der Identität verfolgt Heinz durch sein Leben. Die Mutter heiratet Fritz und bekommt zwei weitere Kinder, Fritz stirbt früh an einer Lungenkrankheit und Heinz muss bald für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Er arbeitet in einer Stickereifabrik in Lustenau. Als Kind erlebte er immer wieder die epileptischen Anfälle der Mutter und ihre Schwermut, die auch auf ihn überging. Als Zwölfjähriger wollte er sich bereits umbringen. Zum Glück traten immer wieder Menschen in sein Leben, die ihm Mentor und Freund wurden. So entdeckte er auch die Welt der Bücher, das Kino und schließlich das Theater, dass ihm nach dem Schauspielstudium zur Heimat wurde.

Erst sehr spät, mit 60 Jahren nimmt sein Vater durch die Stiefschwester Kontakt mit ihm auf. Ein vorheriger Versuch des Jungen scheiterte. Durch seine Stiefschwester und anderen entfernten Verwandten erfährt er dann nach und nach Fragmente seiner Geschichte, Wie es der Mutter ergangen ist, als sie in Hohenems in der Tür stand. Die „Norwegerin“, die Fremde mit dem Silberfuchs um den Hals und der falschen Religion. Immer mehr Puzzleteile setzt Heinz zusammen; es entsteht dennoch nur ein vages Bild. Ein Historiker interessiert sich dann für seine Herkunft als „Lebensborn“-Kind. Auch durch ihn finden wieder einige Teile des Puzzles ineinander. Viel später – Heinz ist Schauspieler und lebt mit vielen Tieren auf einem Hof –kommen dann noch Puzzleteile aus Norwegen, die ein Verwandter Gerds sammelte und nur durch einen glücklichen Zufall finden sie den Weg zu Heinz. Es sind Briefe der Mutter und der Eltern der Mutter und des Vaters, die wieder eine ganz andere Geschichte erzählen und die bisherige in Frage stellen.

„So vieles ist offen. Auch durch diese Briefe jetzt noch einmal neu. Wenn es stimmt, was meine Mutter in den Briefen erzählt, dann werde ich auch mit dieser zweiten Hälfte der Wahrheit leben wie mit der ersten bisher, im Wissen darum, dass eine ganze Wahrheit wohl nicht daraus werden kann.“

Dieses Zitat fast am Schluss des Romans zeigt die große Unsicherheit und auch Zwiespältigkeit auf, die in diesem Leben zu finden ist. Es ist eine Geschichte vom Versuch sich selbst besser zu verstehen und eine Mutter zu finden, die sehr wenig greifbar war. Noch weniger greifbar, der Vater. Und zum Glück gab es immer stützende Menschen, die zur rechten Zeit da waren und halfen dieses Leben leichter lebbar zu machen. Ich bin sehr angetan von diesem Buch. Hotschnig hat ein einfühlsames eindringliches Porträt eines Menschen geschrieben, der trotz aller Widrigkeiten seine Berufung fand, das Schauspiel. Und er hat an die Aktion „Lebensborn“ erinnert, deren Geschichte sicher auch noch nicht umfassend bekannt ist. Ein Leuchten für Buch und Hörbuch!

Das Buch erschien bei der Büchergilde, das Hörbuch bei Argon. Eine Hörprobe gibt es hier.

Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke Guggolz Verlag


Ein Schwerpunkt im Programm des Guggolz Verlags ist die nordische Literatur. Dabei habe ich schon wundervolle Entdeckungen gemacht (siehe untenstehende Links). Und auch „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke„, 1951 veröffentlicht von der finnischen Schriftstellerin Eeva-Liisa Manner hat mich sehr berührt. Obgleich es auch ein trauriger Roman ist, (was ich eh mag) zeigt es auch die Freuden, wenn jemand für sich eine Leidenschaft, ein Talent entdeckt, wenn jemand endlich gesehen wird. Zudem ist es auch ein Aufruf sich ein gewisses Maß an Kindlichkeit zu bewahren.

Die neunjährige Leena lebt bei ihrer Großmutter, weil die Mutter bei ihrer Geburt starb. Auch ihren Vater kennt sie nicht. Sie ist ein Mädchen mit einer blühenden Fantasie, feinfühlend und sensibel, aber auch ein wenig schwermütig. Ihr Denken kreist um Wirklichkeit und Traum, um die große Frage nach Wahrheit. Dennoch hat sie in der Schule Probleme, da es ihr schwer fällt, sich zu konzentrieren. Sie mag das Graue nicht, die Strenge der Lehrerin nicht. So wird sie immer wieder gemaßregelt und bleibt für sich.

„Es war eine sonderbar kraftlose Trauer, sie war überall in ihr, und Leena spürte, dass nichts, wirklich nichts sie davon befreien konnte. Es war eine endlos lange, ewige Trauer, eine Trauer, die nicht zu erklären und dennoch selbstverständlich war.“

Als sie die Diagnose Epilepsie erhält, ist sie froh eine Weile der Schule fernbleiben zu können und spielt sprachlich mit dem Wort ihrer Erkrankung, welches für sie vor allem einen schönen Klang hat. Eines Tages beschließt sie, immer der Wahrheit auf der Spur, die Antwort bei Gott zu suchen. Doch sie findet in der kleinen Kirche die Ordensschwester Elisabet und vor allem die Musik von Bach, auf der Orgel gespielt vom kauzigen blinden Alten Filemon, dem sie dann stellvertretend ihre Fragen stellt. Doch sie erhält Antworten, die noch mehr Fragen nach sich ziehen.

„Sie ärgerte sich über ihre Langsamkeit, tröstete sich dann aber mit dem Gedanken, dass Elisabet vielleicht verstand, dass sie so war – stets ein wenig spät.“

Die Großmutter verbietet Besuche in der „falschen“, der katholischen Kirche. Doch für Leena bleibt eine große Anziehungskraft. Sie erlebt die Welt in einer Sphäre, die sie von anderen trennt. Schwänzt die Schule. Nie weiß man, ob die Geschichte in den Träumen von Leena spielt oder ob sie sich gar in anderen Bewusstseinsebenen aufhält. Hat sie Visionen, Nahtoderfahrungen? Oder sind es Tagträume? Für bodenständige plotorientierte Leser*innen wird es hier schwierig. Für mich war es ein Genuss.

„Wenn man in diese Welt kam, ging man in den Traum über, und der Traum war für Leena wirklicher als das Tageslicht und die Alltäglichkeit des Lebens. Aus dem Alltag konnte man sich jederzeit wegdenken, aus dem Traum nicht – im Traum geschah alles unweigerlich und schicksalhaft, es gab keine andere Möglichkeit. Der Traum war bedingungslos wie ein furchteinflößendes und schönes Märchen, fertiggeschrieben und gerade deshalb so furchteinflößend.“

Manner hat einen Roman wie ein Märchen geschrieben. Atmosphärisch und sinnlich. Eine Handlung gibt es hier kaum, dafür aber ständige Verwandlungen mit diversen Metaebenen. Die Autorin begleitet ihre junge Heldin durch Höhen und Tiefen, durch Raum und Zeit und steht für ihre eigensinnige wankende Hauptfigur ein. Sei es, wenn sie die faszinierende Musik in sich hört, sei es, wenn sie mit ihrem Regenschirm, durch die Luft davonfliegt. Es ist ein zärtlicher und, wie ich finde, vor allem auch ein spiritueller Roman.

„Die Welt ist eine Dichtung meiner Sinne / und erlischt, wenn ich sterbe.“

So zitiert Antje Rávik Strubel in ihrem Nachwort aus einem Gedicht Eeva-Liisa Manners. Wie gerne würde ich auch eine Übersetzung der Gedichte lesen. Vielleicht der erste Lyrikband bei Guggolz? Manner war eine der berühmtesten finnischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Sie übersetzte, schrieb außer Romanen auch Dramen, Essays und Gedichte. Die meiste Zeit lebte sie allein und zurückgezogen. Sehr lange in einem Haus in Tampere, auf dessen Gedenktafel auch die obigen Zeilen von Strubel entdeckt wurden.

Der Roman wurde von Maximilian Murmann aus dem Finnischen übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier.

Weiteres aus dem Guggolz Verlag:

2x Lyrik aus dem Elif Verlag: Wolfgang Schiffer: Dass die Erde einen Buckel werfe / Dagur Hjartarson: Schnee über den Buchstaben

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Zwei neue Lyrikbände aus dem Elif Verlag möchte ich vorstellen. Eine Doppelbesprechung bietet sich hier an. An beiden ist Wolfgang Schiffer beteiligt. Einmal als Übersetzer aus dem Isländischen, wie schon bei so vielen Bänden in den letzten Jahren. Und einmal eben auch – darauf war ich sehr gespannt – als Dichter.

An dem Lyrikband mit dem wunderbaren Titel „Dass die Erde einen Buckel werfe“ fiel mir zuerst das schöne Cover auf, dessen Rätsel sich innen auf dem Buchdeckel fortsetzt. Es wurde gestaltet von dem Isländer Ragni Helgi Ólafsson, dessen Gedichte und Erzählungen ich hier auch bereits auf dem Blog besprochen habe. Natürlich in der Übersetzung von Wolfgang Schiffer und Jón Thor Gíslason.

„und heute / gelingt es mir noch / an die Kraft der Wörter zu glauben /
an eine Sprache / die rettet / sehe ich noch Licht in einem Gedicht?

Wolfgang Schiffers schmaler Gedichtband hat es in sich. Er ist in Abschnitte eingeteilt, die sich nach den Wochentagen richten. So folgen wir von Montag bis Sonntag zunächst immer einem Speiseplan, der einmal in hochdeutsch und einmal in Dialekt abgedruckt ist. Es ist der Dialekt (die Mundart des Landstrichs?), den der Held, das Lyrische Ich, ich denke man kann es getrost mit dem Autor verknüpfen, in seiner Kindheit sprach. Dieser Speisekarte ist fast wie ein Zeitanzeiger. Der Inhalt und auch manch spätere Verse weisen auf eine wenig üppige, vielleicht von Armut, zumindest aber auch von Scham geprägte Kindheit hin.

Abwechselnd taucht nun das lyrische Ich in die Vergangenheit, beginnt mit einer kleinen Familienhistorie, begegnet Vater, Mutter; bedenkt sie aus dem Heute, befragt sie. Sogar in seinen Träumen erscheinen sie, weisen auf dies und auf das hin, das vielleicht schon vergessen war. Helfen bei der inneren Suche, ja, nach was? Der Vater, der Arbeiter, der Westernheftchen las, (erinnert mich sehr an meinen eigenen), die Mutter, die einfach die Frau des Vaters war und Mutter natürlich. Mit großer Zuneigung widmet sich Schiffer den Eltern. Aus allem spricht hier die Demut und auch die Dankbarkeit vor der Lebensleistung der Eltern. Der eigene Ursprung wird reflektiert, der Werdegang, jetzt da das Altern viel Raum einnimmt.

„ach Mensch! ach Welt! / wann endet es endlich /
dieses Schmierentheater / das längst schon nicht mehr
zu überbieten ist an Zynismus und Perversion / warum“

Ein zweiter Strang zeigt eine andere Seite, schlüpft wieder in die Gegenwart und liest sich mitunter wie ein Lamento in zutiefst gesellschaftskritischen Versen. Vom kleinen geht es jetzt ins Große: Es geht um die unguten Zustände, die herrschen aufgrund der Machtstrukturen in der Welt. Die Kriege, der Niedergang der Kultur, die Ungerechtigkeiten, die Zerstörung von allen Seiten und die so gar nicht mehr intakte Natur: alles Menschenwerk. Die Frage steht im Raum: Wäre die Welt ohne uns Menschen nicht eine bessere?

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Dagur Hjartarsons zweisprachiger isländisch/deutscher Lyrikband „Schnee über den Buchstaben“ ist in zwei größere Kapitel geteilt. Alle Gedichte sind ohne Groß- und Kleinschreibung und ohne Satzzeichen verfasst. Der erste Teil heißt „die Hirnoperation“ und berichtet aus verschiedenen Blickwinkeln von einer Frau, die einen Gehirntumor hat. Der Beobachter, das Lyrische Ich (man darf auch hier von Autobiographischem ausgehen) be-schreibt, ja beschwört mitunter, die Zeit vor und nach der Operation. Die Sorgen, Ängste und dann auch die Erleichterung, als alles gut gegangen ist und die Zukunft wieder erscheinen darf. Dabei hat die Sprache hier, trotz allem gleichzeitig eine Luftigkeit und Zuversicht in aller Schwere.

„während ich über dich wachte
wurde mir klar
dass die nacht fast gar nichts ist
sie ist nur der schatten der erde

die nacht ist nur der schatten der erde“

Die Familie, die auch im nächsten Kapitel „familienleben auf der erde“ Thema ist, spielt immer die Hauptrolle. Ob ein Kinderwagen geschoben wird oder früh am morgen Kaffee gekocht wird, ob die Nacht durchwacht wird oder ein Schneesturm durch die Stadt fegt, alles ist Alltag und Poesie zugleich. Der Autor verbindet konkret Erlebtes, Erlesenes oder Gehörtes und erzeugt damit überraschende Bilder.

„in dem bericht steht dass viele arten verschwinden werden
noch bevor die wissenschaftler sie entdecken

es gibt also ein verborgenes leben
außerhalb der menschheitsgeschichte“

In beinahe jedem Gedicht finde ich mindestens eine Zeile, die ich genau zu diesem Zeitpunkt des Lesens brauche. Die mich gleichzeitig verankert und aus allem heraushebt. Auch die Gedichte, die von der Kindheit, von diesem besonderen Dasein, weitab des Erwachsenseins erzählen, sind trefflich gelungen. Mir scheint, erinnerte Kindheit ist gerade in der Dichtung ein großes Experiment. Hier und auch im gesellschaftskritischen Teil finden beide Lyrikbände eine Gemeinsamkeit.

„und wir gehen tiefer hinein in das gedicht
gehen bis wir verschwinden
hinter den letzten worten“

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Ich kann beide Bände von Herzen empfehlen, und hier auch gerade denjenigen, die sonst kaum Gedichte lesen. Bereits vorab war ich mir dessen schon sicher. Es sind beides Gedichtbände, die wunderbar poetisch sind aber nicht intellektuell verrätselt. Oft ist die Sprache so eindeutig und wegweisend, dass sie einen um so mehr bewegt und weiterträgt. Wachsen mit Gedichten – eigentlich das Schönste, das es gibt!

Beide Bücher sind im Elif Verlag erschienen. Die Übersetzung aus dem Isländischen kommt von Wolfgang Schiffer und Jón Thor Gíslason. Ich danke dem Verlag für die Rezensionsexemplare.

Weiteres aus der zeitgenössischen isländischen Lyrik (ich liebe sie alle!):

Das Alphabet des Feuers – Wolfgang Schiffer liest Gedichte aus Island Hörbuch Elif Verlag

Sigurður Pálsson: Gedichte erinnern eine Stimme Elif Verlag

Linda Vilhjálmsdóttir: das kleingedruckte Elif Verlag

Knut Ødegård: Die Zeit ist gekommen Elif Verlag

Tove Ditlevsen: Kindheit/Jugend/Abhängigkeit Aufbau Verlag

Alle sind begeistert von Tove Ditlevsens (1917 – 1976) autobiographischer Roman-Trilogie. Ich hatte mich sehr aufs Lesen gefreut, denn eine Gedichte schreibende Frau aus der Arbeiterklasse klang hochinteressant. Doch ich kann in den Begeisterungssturm gar nicht so sehr mit einstimmen. Der dritte Band gefiel mir letztlich am Besten, schien mir am Ausdruckvollsten. Inhaltlich ist die Geschichte durchaus interessant, als Zeitdokument eines Frauenlebens dieser Jahre und Einblick in die Reifung ins Schriftstellerinnendasein. Sprachlich haben mich die Bände aber ein wenig enttäuscht. In den abgedruckten Gedichtstellen sehe ich auch nicht die große Begabung, die Ditlevsen damals in Kopenhagen bescheinigt wurde.

Schon als Kind fühlt sich Tove anders als die anderen Kinder in der Siedlung, in der die Ärmeren Kopenhagens leben. Der Vater meist arbeitslos, aber lesend und gewerkschaftlich organisiert und politisch interessiert, die unzufriedene Mutter zuhause, die sie schlägt. Schon mit fünf lernt sie von sich aus Lesen und Schreiben. In der Schule ist sie sehr gut, aufs Gymnasium darf sie dennoch nicht. Sie tritt mit 14 also ihre erste Arbeitsstelle an. Und sie schreibt. Was mit einem Poesiealbum beginnt, mit dem Tagebuch weitergeht und schließlich zu Gedichten und längeren Texten führt. Immer wieder wird klar, wie wenig gebildet sie ist und wie sehr (und meist richtig) ihre Intuition sie leitet und antreibt. Mit 18 zieht sie aus – ein eigenes Zimmer, endlich. Oft sind es glückliche Umstände, Zufälle, Begegnungen mit passenden Menschen, aber auch der stete Drang schreiben zu wollen, die sie auf ihrem Weg voran bringen. Ein Schlüsselsatz ist für mich etwa dieser:

„Ich denke, dass Piet Hein nicht weiß, was es bedeutet, arm zu sein und fast seine ganze Zeit verkaufen zu müssen, nur um ein Auskommen zu haben. Ich hege viel mehr Sympathie für Halfdan Rasmussen, der klein, dünn und schlecht gekleidet ist und von Sozialhilfe lebt. Wir entstammen dem selben Milieu und sprechen dieselbe Sprache.“

Klingt die Erzählstimme im ersten Band sehr kindlich, im zweiten Band sicherer, scheint sie mir im dritten Band, der auch im Original später (1967/1971) als die beiden ersten erschien, gereift. Nach ersten Erfahrungen mit Männern und durch das durch eigene Arbeit relativ selbständige Leben, folgen nun in Band 3 Abhängigkeiten in der Ehe. Vier mal hat Ditlevsen geheiratet. In ihrer dritten Ehe (1945) mit einem Medizinstudent wird sie durch ein Medikament nach einem Schwangerschaftsabbruch abhängig. Obwohl dieser Mann ihr gar nichts bedeutet, ist sie abhängig von ihm, weil er die Drogen beschafft und ihr verabreicht. Anfänglich schreibt sie unter Drogeneinfluss wie im Rausch. Doch ihre Gesundheit verschlechtert sich in dieser Zeit enorm. Wie sie diese destruktive Zeit schildert, auch wie ihr Mann Carl zur gleichen Zeit eine Psychose bekommt, ist sehr stark erzählt. Hier zeigt sich auch am deutlichsten der Wunsch einerseits nach Unabhängigkeit, vor allem für ihr Schreiben und andererseits nach Sicherheit und Familie. Mit ihrer Sucht wird sie ihr Leben lang zu kämpfen haben, doch scheint ihr die letzte Ehe mit Victor und ihre Kinder einigen Halt gegeben zu haben. 1976 stirbt sie an einer Überdosis Schlaftabletten.

Die drei Bände erschienen im Aufbau Verlag. Übersetzt hat sie Ursel Allenstein.

Regina Dürig: Federn lassen Literaturverlag Droschl

Vielleicht passt es ja zur Zeit, dass ich mir gerade offenbar vor allem sehr dunkle Lektüre aussuche. Jedenfalls reiht sich „Federn lassen“ von Regina Dürig in diese Abfolge ein. Schon in der Vorschau wirkte es auffällig aufgrund seines besonderen Formats und auch wegen des kräftigen Schwarz/Weiß Coverbilds. Auch das Genre, dass als Novelle bezeichnet wird, gibt es ja nicht so häufig. Ich war gespannt.

Regina Dürig beschreibt eine weibliche Kindheit, Jugend, ein Erwachsenwerden und schließlich sein, in einzelnen Kapiteln, die immer einem Alter zugeordnet sind. Beginnend mit der Vierjährigen, endend im Alter von 38.

„Du bist vier
und spielst am liebsten

mit dir alleine
das beunruhigt deine Eltern
weil Kinder
doch so gerne
mit anderen Kindern
spielen
sagen sie“

Tatsächlich ist der Text in Versform gedruckt und da passt das Format ja gut. Aber ein Gedichtzyklus, wie ich erst vermutete ist es dann doch nicht. Dazu fehlt mir etwas. Doch eine Novelle ist es auch nicht wirklich, oder etwa doch?

  • Das zentrale Element ist immer eine „unerhörte Begebenheit“ (Goethe, 1827). Ins Neudeutsche lässt sich diese Begebenheit ganz gut mit „Skandal“ oder einem „außergewöhnlichen Ereignis“ übersetzen. Eine normale Alltagssituation ist folglich nie Inhalt einer Novelle. (Quelle: wortwuchs.net)

Was im Text geschieht, sind „unerhörte Begebenheiten“ und zwar im Wortsinn. Skandale sind es leider nicht. Und leider sind es vermutlich viel zu sehr Alltagssituationen, als es wünschenswert wäre.

  • Die erzählte Begebenheit ist unerhört, neuartig, außergewöhnlich oder auch in der Geschichte ungewöhnlich, aber eben berichtenswert und in der Erfahrungswelt des Lesers „neu“. Diese Begebenheiten widersprechen dem für wahrscheinlich gehaltenen Gang der Dinge und erscheinen folglich als ungeheuerlich. (Quelle: wortwuchs.net)

Das Buch hat bei mir sofort funktioniert. Wenn man es als Frau liest, springen einem in den einzelnen Kapiteln, jede Menge Szenen entgegen, die man im Leben selbst schon höchst unangenehm erlebt hat. Ist man dazu noch als Kind ein stilleres, in sich gekehrtes, womöglich hochsensibles Mädchen gewesen, kann man sich beinahe vollständig mit dem Inhalt identifizieren. So ist also für mich, der Inhalt nicht neu, allerdings auf jeden Fall berichtenswert und eigentlich ungeheuerlich. Denn passieren sollten diese Dinge in unserer heutigen reflektierten, emanzipierten Gesellschaft nicht mehr.

„Du bist fünf
und wirst

in die Pantomimegruppe
geschickt damit du
endlich mal aus dir
rauskommst
was wäre für den Fall
dass du in dir drinbleiben
willst dazu sagt
niemand was“

Dürig zeigt die Übergriffe – psychische und physische, sexuelle und emotionale – genau, sei es in der Kindheit, in der der „Teller leer gegessen werden muss“ oder Ablehnung herrscht, weil der neugeborene Bruder so viel „richtiger“ ist und später sich so viel mehr erlauben kann als das Mädchen. Die Anlehnung an die Gedichtform, die plötzlichen Zeilensprünge, die Zeit zum Durchatmen lassen, passen hier durchaus gut.

„Während
dein Bruder größer
und wacher wird und
lacht siehst du in den
Augen deiner Eltern wie
ein Kind sein sollte
ungestüm unerschrocken
nicht angefüllt mit
Fragen bis obenhin
ob es allen besser
ginge ohne dich
zum Beispiel“

Sei es als Teenager, Heranwachsende. Sei es das Mobbing in der Schule, das Nichtgewähltwerden beim Schulsport, der Arzt, der die Schmerzen als Verweichlichung verharmlost und belächelt.

„er rät dann
an deine Mutter gewandt
dass sie dich anmelden
sollte zu einem Mannschaftssport
mit rauem Körperkontakt
damit du lernst ein bisschen
Schmerz auszuhalten und
deine Wahrnehmung sich abhärten
kann am Wesen der Welt“

Seien es die Übergriffe der Jungs nach der Party, die Eifersucht und Beschuldigung der besten Freundin. Und schließlich als Frau, die immer wieder sexuellen Angriffen verschiedenster Art ausgesetzt ist, mit Chefs die im Konkurrenzwettbewerb immer die Arbeit von Männern vorziehen und das direkt so herablassend mitteilen, mit Männern „die ihr die Welt erklären“ oder wenn sie bei bestimmten hastigen Bewegungen die Hände schützend vors Gesicht hält, weil da eben oft genug schon Schläge kamen.

„ein Ratschlag von ihm
an dich als Mensch
weichliches Wesen das
die Natur als zu
umwerben vorgesehen hat
und das evolutionär nicht
fähig ist sich zu behaupten
in diesem Kreislauf aus Wettbewerb“

Das, was zwischen den Zeilen steht, das ist die Angst, die Scham, die Überforderung, die empfundene Wehrlosigkeit, aber später auch die Empörung und die Wut. Dabei ist es weder Klage noch Anklage, eher eine sehr nüchterne Betrachtung und gerade deshalb sehr wirksam. Regina Dürig ist Jahrgang 1982, also wesentlich jünger als ich, und ich hatte eigentlich gehofft, dass sich in diesen vielen Jahren wesentlich mehr beim Thema Gleichberechtigung getan hat. Dieses Buch ist schon aus diesem Grund wichtig, aber auch weil die Form, innere und äußere, tatsächlich dem ganzen eine größere Gewichtigkeit gibt und die gewählte Sprache das ganze trägt. Ein Leuchten!

„Federn lassen“ erschien im Literaturverlag Droschl. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

 

Dag Solstad: [ 16.7.41 ] Dörlemann Verlag

Das neu übersetzte Buch von Dag Solstad trägt als Titel das Geburtsdatum des großen norwegischen Schriftstellers. Bereits dies weist darauf hin, dass es diesmal um den Autor selbst geht, dass er diesmal viel über sich selbst schreibt. Ich bin seit meinem Solstad-Leseprojekt großer Fan des Norwegers und tauchte gleich mit dem ersten Kapitel in den typischen Solstad-Space ein, Fußnoten inbegriffen.

Solstad erzählt von einem Flug nach Frankfurt am Main zu einer Veranstaltung der Buchmesse im Jahr 1990. Er fliegt dabei mit Zwischenstop Kopenhagen, da es keine Direktverbindung von Oslo gibt. Vor der Ankunft fliegt der Pilot ewig, wie es scheint, in Kreisen in der Warteschlange, um die Landegenehmigung zu erhalten. Hier beginnt Solstad sich in die Wolkendecke, über der der Flieger schwebt, zu versenken. Die Gedanken reichen so weit, dass er beginnt sich Engel und andere Himmelsgestalten auf den Wolken vorzustellen. Er driftet in ein vollkommen von der Erde losgelöstes Universum einer beinah religiösen Fantasie. Als er aus dieser endlich wieder auftaucht, weil die Maschine den Landeanflug begonnen hat, merkt er, dass er über Berlin fliegt und in Tegel landet. Die Durchsagen, dass die Maschine nicht in Frankfurt landen kann, hatte er aufgrund seiner Träumereien überhört. Es ist Solstads erste Begegnung mit Berlin.

„Fußnote 1
„Wie immer bin ich derjenige, der das hier schreibt. Doch wer ist derjenige, der sich in der internationalen Abflughalle des Flughafens Fornebu befindet, um mit einem SAS-Flug nach Frankfurt am Main zu reisen? Ich bin derjenige, der schreibt. Ich, der das hier schreibt, sage, der Mann am Flughafen ist derjenige, der schreibt. Also ich. Mein >nacktes< Ich. Ich denke zurück an mich in Fornebu an einem Oktobertag 1990 und schreibe diesen Text. Das liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück.“

In Berlin geht es dann auch im folgenden Kapitel weiter, allerdings 10 Jahre später. Solstad lebte mehrere Jahre in Berlin Kreuzberg am Maybachufer. Warum, weiß der Autor selbst nicht genau. Es folgen Beschreibungen der Stadt und der Spaziergänge, auf die uns der Autor mitnimmt. Da ich selbst hier wohne, ist mir vieles bekannt. Ich selbst kam 2004 nach Berlin, so kenne ich auch das Berlin dieser Zeit noch. Leider schlägt der Autor hier einen Erzählton an, der sich anhört, als würde mir ein allwissender Reiseführer Teile Berlins zeigen und den geschichtlichen Hintergrund dazu erzählen. Ich vermisse hier ganz klar die besonderen Eigenheiten in der Art der vorherigen Romane, die ich extrem gut finde. Mir sind diese Beschreibungen zu wenig aussagekräftig.

Dann wechselt der Schauplatz. Solstad schreibt über einen Vortrag, den er in Lillehammer hält. Dieser Vortrag über das Romaneschreiben und wie Solstad, der beinahe 60-jährige, sich das gegen Ende seiner aktiven Zeit als Schriftsteller vorstellt, findet sich dann auch komplett im Buch. Von Lillehammer reist der Autor in seinen Heimatort Sandefjord. Auch dort begleiten wir in wieder auf seinen Wegen. Er ist zu einem Klassentreffen eingeladen, findet aber die Lokalität nicht, in der die Festgesellschaft stattfinden soll. Die Suche gestaltet sich skurril, auch in Anbetracht des zunehmenden Alkoholpegels des Helden. Erst ganz spät am Abend, es ist beinahe Nacht, bemerkt er beim Spazieren durch die Stadt in seinem ehemaligen Elternhaus durchs Fenster seine Klassenkameraden feiern und tanzen. Trotzdem gelingt es ihm nicht, Zugang zu finden …

Hier ändert sich wieder der Tonus von Solstads Schreiben und das Blatt wendet sich zurück in die Vergangenheit. Ab hier bin ich wieder ganz dabei. Solstad erzählt anhand eines Kindheitserlebnisses von seinem Vater. Und das ist zutiefst berührend. Womöglich ist das das Neue, was in diesem Roman passiert: das erste(?) Mal schreibt Solstad über seine Herkunft, über seine Familie. Das gelingt im perfekt. Der Vater wird zum Zauberer für den kleinen Jungen, ja, zum Erfinder, dem es letztlich doch nicht gelingt das Perpetuum Mobile zu konstruieren und der sich dafür hoch verschuldet hatte. Der Vater, der Fragen immer ehrlich zu beantworten wusste, der einzig den Sohn in sein Vorhaben einweihte. Ein chronisch Kranker, der leider zu früh starb. Und so schließt sich auch der Kreis, der eingangs mit dem Kreisen des Flugzeugs begann und der Vorstellung des Vaters auf einer Wolke im Himmel.

„Eigentlich bin ich schon zu weit gegangen. Ich habe eine Lücke in meinem Bewusstsein gefunden und sie genutzt oder ausgenutzt, um mir Zugang zur Ewigkeit zu verschaffen, für einen kurzen Augenblick, weil ich meinen Vater auf diese Weise wiedersehen wollte.“

Und so bin ich wieder versöhnt am Ende des Buches, dass für mich auch ohne das Berliner Kapitel gut, wenn nicht sogar besser, funktioniert hätte. Nach den Phasen, in denen Solstad politische Literatur schrieb, dann teils skurrile Romane, kommt womöglich jetzt eine Phase der persönlichen Innenschau. Um Solstads Literatur kennen zu lernen empfehle ich dennoch mit anderen Titeln von ihm zu beginnen. Siehe mein zweiteiliges Solstad-Leseprojekt.

Der Roman „16.7.41“ erschien, wie alle anderen auch, im Dörlemann Verlag. Übersetzt hat es wie immer Ina Kronenberger. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

 

Leider ohne Leuchtkraft: Hilmar Klute: Oberkampf Galiani Verlag/Thilo Krause: Elbwärts Hanser Verlag

Schade, schade. 2 x kein Leuchten Auf beide Romane hatte ich mich gefreut, beide haben mich enttäuscht. Beide vereint eine nicht sonderlich sympathische männliche, wenig interessant geschilderte Hauptfigur. Statt gar keiner Besprechung möchte ich nun zumindest kurz vom Leseergebnis berichten:

Nach den begeisterten Stimmen zu Hilmar Klutes Roman „Was dann nachher so schön fliegt“, wollte ich nun immerhin den zweiten Roman „Oberkampf“ des Redakteurs der Süddeutschen Zeitung lesen. Das Thema klang gut. Einer, Mitte 40, der von Berlin weg zieht, Job und Beziehung hinter sich lässt, um die Biographie eines großen, wenngleich wenig gelesenen Schriftstellers zu schreiben, der in Paris lebt. Im Roman heißt der Autor Richard Stein und es könnte eine Mischung aus Martin Walser, Peter Handke, Peter Kurzeck und Jürgen Becker sein. Gleich nach seiner Ankunft geschehen die Terroranschläge in Paris, beginnend mit dem Attentat auf Charlie Hebdo. Eigentlich ein guter Ausgangspunkt, dachte ich. Doch wie Klute seinen Protagonisten auf diese Ausnahmesituation und wie die Franzosen damit umgehen blicken lässt, mutet merkwürdig an. Mir scheint es überheblich, teils spöttisch und ignorant.

„Waren sie das, was die Presse „eiskalte Mörder nannte? […] War es nicht ein Heldenstück, sich den Weg freizuschießen, die Tür zum kleinen Redaktionsbüro aufzustoßen und dann direkt in die überraschten, noch von der Wirkung eines Bonmots, einer satirischen Idee erfrischten, lachenden Gesichter zu feuern? […] Er war nicht fassungslos, er war höchstens überwältigt von der Brutalität, dem entschlossenen Vorwärtsschreiten der Krieger mit ihren althergebrachten Waffen.“

Gleich am ersten Abend lernt er außerdem eine (wie könnte es anders sein?!) wesentlich jüngere Frau kennen und beide beginnen eine Affäre. Mit dem Autor Richard Stein trifft er sich regelmäßig, mit der Geliebten ebenso. Alles plätschert so dahin. Nichts davon ist wirklich mitreißend erzählt, ich langweile mich. Ab der Mitte habe ich den Rest quer gelesen. Die Vater-Sohn-Geschichte des Autors hätte interessant werden können, war es aber nicht, auch der Einschub, der von der vorherigen Beziehung der Hauptfigur handelt, wirkt nicht stimmig und eher überflüssig. Auch das leckere Essen und der viele Wein reißen es nicht raus. Tatsächlich ist dann der Schluss für mich die beste Idee des ganzen Buches. Auch sprachlich bietet der Roman nichts Aufregendes. Er erschien im Galiani Verlag.

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Auch auf das Romandebüt des Lyrikers Thilo Krause war ich sehr gespannt. Krauses Protagonist kehrt in „Elbwärts“ mit eigener Familie in die ehemalige Heimat zurück. Nahe Dresden, in einem Dorf im Elbsandsteingebirge kauft er ein Haus mit Garten. Die oft nur nebenbei erwähnte, offenbar nur als Versorgerin dienende Frau arbeitet als Physiotherapeutin, während er sich so dahin treiben lässt und sich um die Tochter kümmert, die er permanent nur „die Kleine“ nennt. Auch die Stadt, in der „die Kleine“ in den Kindergarten geht, nennt er ausufernd die „Stadt-die-keine-ist“, was 1x sicher interessant klingt, aber bei dauerndem Gebrauch nur noch nervt.

„Die Kleine weiß nichts von meinen Ängsten. Sie weiß nicht, dass man sich Sorgen machen kann in der Welt. Das Pflaster, das sie bis heute Morgen noch über der Augenbraue trug, ist abgefallen. Hand in Hand sind wir losgezogen. Christina hatte die Sachen der Kleinen in Stapel gelegt. Ich packte alles ein. Es ist nicht viel Platz im Rucksack, weil oben die Kleine sitzt.“

In seinen Tagträumen, die er auf den Felsen seiner Kindheitslandschaft sitzend verbringt, lässt er diese Revue passieren. Vor allem geht es dabei um den Unfall, bei dem sein damaliger Jugendfreund Vito ein Bein verlor. Weil das beim Klettern an einer Stelle passierte, die der Protagonist vorschlug, gibt er sich bis heute die Schuld für das Geschehene. So wird immer wieder davon erzählt, auch von den geretteten Kaulquappen (!). Ein wenig DDR-Zeit wird aufgewirbelt, ein wenig aktuelle Gesellschaftskritik findet sich, denn die rechtsradikalen und heimattümelnden treffen sich direkt in der Nähe der Kletterfelsen im Sommerlager. Doch mitreißend ist die Geschichte nicht. Die Hauptfigur wollte zwar unbedingt zurück in die Heimat, findet sich aber nun doch nicht mehr zurecht, kümmert sich, wenn überhaupt, nur um seine Männerfreundschaften, vernachlässigt die Tochter, was dann zur Beziehungskrise führt. Ab der Mitte habe ich nur noch quergelesen. Reichlich schade ist es auch, dass sich Krauses lyrische Sprache hier im Roman so wenig spiegelt. Fazit: Lieber Krauses Lyrik lesen. „Elbwärts“ erschien im Hanser Verlag.

Ich danke den Verlagen für die Rezensionsexemplare.

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.

 

 

 

Hanne Ørstavik: Roman. Milano Karl Rauch Verlag

Foto von pixabay gemeinfrei

„Es ist so, als lebten wir ein Leben, von dem wir nichts wissen, denkt Val.“

Es ist das vierte Buch der Norwegerin Hanne Ørstavik, das ich lese und ich kann von ihrer Sprache nicht genug bekommen. Andreas Donat hat „Roman. Milano“ wie schon zuvor Die Zeit, die es dauert hervorragend übersetzt. Wenn ich auf Seite 9 bereits die ersten Zeilen anstreiche, dann weiß ich, ich bin im richtigen Buch. Wenn Ørstaviks Romane bisher schon allerfeinste Seelen- und Sozialstudien des Menschlichen waren, so geht die Autorin in diesem Buch noch weiter. Ihre Heldin Val zeigt sie bis in die Tiefen ihres Seins und geht mit großem Feingefühl und ebensolchem Sprachgefühl vor.

Die Norwegerin Val, 27, zieht zu ihrem italienischen Freund Paolo nach Mailand. Er ist wesentlich älter und arbeitet für einen großen Galeriekonzern, sie ist Zeichnerin. Beide haben sich auf ihrer Ausstellung in Oslo kennengelernt. Paolo hat sie umworben, sie sind zusammen verreist, haben sich Kunst angesehen und dann hat hat sich Val entschieden den großen Schritt zu machen. Für sie ist es schwer in einer Beziehung mit jemandem so eng zusammenzuleben, für Paolo leicht. Paolo ist noch verheiratet, obwohl seine Frau und er sich vor über 10 Jahren trennten. Val behagt das nicht. Sie versteht es nicht, doch Paolo erklärt ihr, dass es nur materielle Hintergründe hat und dass er nur sie liebe.

Val beginnt Mailand zu erkunden, von der Erdgeschoßwohnung mit den vergitterten Fenstern aus, die Blick auf eine kleine Piazza mit einer kleinen Kirche hat. Ihr Blick ist aufmerksam und genau. Sie blättert Fotobände über die Geschichte der Stadt durch, begegnet dem Faschismus unter Mussolini und entdeckt zwischen den geschichtlichen Texten auch Bilder eines Kinderheims, die sie sehr berühren. Waisenkinder sind es, Mädchen, Stelline genannt. Val versteht sie gut, denn ihre Eltern haben sie als Kleinkind an die Tante abgegeben, bei der sie dann im Reihenhaus wohnte. Die Eltern gingen nach Kalifornien, um Karriere zu machen und vergaßen sie. Erst als sie 12 Jahre alt war, gab es ein Treffen, dann noch einen Mittelmeerurlaub und dann gab es nichts mehr. Danach geben die Eltern der Teenagertochter sogar schriftlich zu verstehen, dass sie sie nicht wollen, dass sie für ein Kind eben nicht geeignet sind.

Als Leserin kann ich direkt nachvollziehen, was Val geprägt hat. Eine andauernde Vorstellung vom „nicht gewollt sein“, vom Ausgegrenztsein. Sie wünscht sich dazu zu gehören, hat aber Bindung als Kind nie erfahren, als es wichtig gewesen wäre. Und deshalb bleibt sie auch bei Paolo. Er will sie. Er liebt sie. Nur verstehen kann er sie vermutlich nicht. Er sieht nicht alles von ihr. Nicht die Dunkelheit, die Verlorenheit, das beinahe Verschwinden.

Val begibt sich mithilfe ihrer Zeichnungen, die sie ganz intuitiv entstehen lässt, immer wieder tief in ihr Innerstes. Sie überlässt sich ganz ihren Eingebungen, ihrer Fantasie und ihren Träumen. So kann sie dem Leben besser entgegentreten. Sie erfindet Figuren, die sie real flüchtig gesehen hat und in ihren Zeichnungen und Notizen ausschmückt und ihnen Leben und Vergangenheit einhaucht. Dass diese Geschichten und Bilder immer mit ihrer eigenen Person zu tun haben, dessen ist sie sich bewusst.

„Dieses Gefühl, dass es eine andere Wirklichkeit gibt.
Jene, da draußen, von der die Fotografen erzählen. Und dann gibt es die, die sie selbst in sich trägt, in ihrem Innersten. Die, mit der sie durch die Welt geht. Die für Val die stärkste ist. Als ginge sie durch die Welt, in ihrem eigenen Inneren. Kommen die beiden überhaupt in Berührung?“

Die Autorin lässt Figuren und Formen verschmelzen. Sie lässt die Stadt in den Augen Vals aufscheinen, die Architektur studiert hat, weil sie dann einen Beruf hatte, in dem sie zeichnen konnte. Gearbeitet hat sie nie als Architektin, aber sie geht mit diesem Blick durch die Stadt. Auch der menschliche Körper ist für sie in eine Form gepresst, durch die Muskeln gehalten. Oft hat sie das Gefühl, ihren Körper nicht in seiner Form halten zu können, zu zerfließen, sich aufzulösen. Dann will sie ihren Körper durch übertriebene Sportlichkeit formen. Auch der Blick Paolos auf sie ist ihr wichtig. Gleichzeitig erkennt sie auf den Festen und Ausstellungseröffnungen, die sie mit ihm besucht, wie wichtig Äußerlichkeiten in dessen Leben zu sein scheinen, wieviel Oberflächlichkeit in seinen Kreisen herrscht, wie verlogen die Kunstszene ist. Immer hinterfragt sie, was darunter liegt. Unter den Masken der Menschen und unter der neuen Architektur der Stadt. Für sie die Hochsensible, die Melancholische, geht alles ins Existenzielle. Sie gerät immer neu an ihre Grenzen.

„Ja, vielleicht kann das Zeichnen, kann die Kunst ein Freund sein, denkt Val. Vielleicht kann die Kunst die andere in mir sein. Das Fremde in mir, zu dem ich sonst keinen Zugang habe. Schattenräume in mir, versteckte. Die ich brauche, um zu wachsen. Durch deren Berührung ich mich verändern und wirklich werden kann?

In kurzen Kapiteln folgen wir Val durch ihr reales Leben in Mailand mit Paolo, durch ihre Vergangenheit in Norwegen und durch ihre Träume und die erzeichneten und erfundenen Geschichten über Jason, Vivian und die Waisenmädchen. Man fühlt, wie alles miteinander zusammenhängt. Wie ein Leben innen und außen so unterschiedlich gelebt werden kann. Dank Ørstaviks Sprache und Einfühlungsvermögen ist es ein intensives Leseerlebnis, das sich auf das Wesentliche konzentriert. Und ein tiefer Einblick in die Welt einer authentischen Künstlerin, für die ihr Tun heilsame Kräfte entwickelt. Einziges Manko, und dass sicher auch nur für mich: ein Happyend.

Geschickt und stimmig, wie Ørstavik Szenen aus Filmen von Michelangelo Antonioni mit einfügt. Froh bin ich auch über den Hinweis zur Künstlerin Marlene Dumas, deren Bilder im Roman mehrmals erwähnt werden und die mich sofort ansprechen. Große Lust, Mailand zu erkunden, habe ich bekommen. Danke auch dafür, Hanne Ørstavik! Strahlendes Leuchten!

Der Roman erschien im Karl Rauch Verlag. Er ist wieder wunderbar haptisch gestaltet mit feinem Papier, farbiger Fadenheftung und passendem Lesebändchen. Dank an Übersetzer Andreas Donat für das Rezensionsexemplar!

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.