Barbara Kingsolver: Demon Copperhead dtv Verlag


„Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.“

Eine Art „David Copperfield“ in modern? Dickens 2.0? Ich war erst etwas skeptisch, hatte ich die Autorin Barbara Kingsolver doch in einem anderen Genre verortet. Umso größer ist die Überraschung und die Lesefreude. Denn als Charles Dickens Fan war ich natürlich auch sehr genau am Vergleichen und hatte das Original beim Lesen quasi immer in Reichweite liegen. Und in der Tat wächst mir Demon Copperhead dann ähnlich schnell ans Herz wie sein Vorbild. Der Autorin ist eine zeitnahe, gesellschaftskritische und dennoch absolut witzige, rasante 850 Seiten lange Geschichte gelungen, die mich total mitgerissen hat. Sie erhielt dafür den Pulitzer-Preis und den Women`s Prize for Fiction.


Der Junge Demon lebt mit seiner Mutter in einem Trailer in den hügeligen Wäldern von Südwestvirginia, einer früheren Bergbausiedlung. Er kam mit einer Glückshaut auf die Welt und dem großen Wunsch einmal das Meer zu sehen. Die Mutter ist gerade wieder einmal clean. Seinen Vater kennt Demon nicht, er ist schon lange tot. Vom Vater hat Demon die roten Haare geerbt. Die beiden schlagen sich mehr recht als schlecht durch. Immerhin hat die Familie im Nachbartrailer immer ein Auge auf sie und der Pflegesohn Maggot ist Demons bester Freund. Die beiden gehen zusammen in eine Klasse und sind auch sonst unzertrennlich. Mrs. Peggot und Mr. Peggot, ebenfalls vom Schicksal hart getroffen sind die guten Geister und werden es mit Unterbrechungen immer wieder sein.

„Eine von Moms schlechten Entscheidungen – so nannten sie das in der Reha, und glaubt mir, ihr Leben war voller schlechter Entscheidungen – war ein Typ namens Copperhead. Angeblich hatte er die dunkle Haut und die hellgrünen Augen der Melungeons, die von Weißen, Schwarzen und Indianern abstammen, dazu rotes Haar, das einem ins Auge sprang.“

Die Probleme beginnen, als Demons Mutter einen neuen Freund hat, der bald schon in den Trailer einzieht. Die beiden können sich von Anfang an nicht leiden. Schnell kommt es zu Streit und Handgreiflichkeiten, Demons Mutter gegenüber wird er gewalttätig. Bald ist sie wieder abhängig und der neue Mann schafft es, dass Demon in eine Pflegefamilie geschickt wird. Ab hier wird es ein langes nie enden wollendes haltloses Auf und ab an immer wieder neuen Orten, die für Demon jede Menge Schrecknisse bereit halten. Als Demons Mum ausgerechnet an seinem Geburtstag an einer Überdosis stirbt, ist er voller Hoffnungslosigkeit. Seine Zukunft wird bestimmt von Hunger, harter Arbeit und Verlorenheit. Einzig seine Lust und sein Talent zum Zeichnen halten ihn aufrecht.

„Damals dachte ich, mein Leben könnte nicht beschissener werden. Mein Rat: Denkt so was nie.“

Als er sich genug Geld verdient hat, nimmt er Reißaus und begibt sich auf die Suche nach dem Grab des Vaters. In der Tat begegnet er seiner Großmutter, die ihn in eine gute Pflegefamilie schickt und finanziell unterstützt. Es wird die schönste und beständigste Zeit seit seiner Geburt. Er landet bei einem bekannten Football-Coach und dessen Tochter wird zu seinem besten Kumpel. Schule und Footballtraining, genügend Taschengeld, ein eigenes Zimmer. Sicherheit und Beliebtheit. Anerkennung.

„Was zwischen diesen Welpen und mir stand, war, dass ich wusste, wie viele geleerte Batterien, wie viele von hier nach da geschleppte Müllsäcke, wie viele Stunden den Unterschied zwischen einem Ein- und einem Zehn-Dollar-Schein ausmachten. Ich war tätowiert mit der Scheiße des Lebens: Ich war verprügelt und belogen worden, tagelang stoned und wochenlang hungrig gewesen. Ich wollte nicht wie diese anderen Kinder sein. […] Ich hatte ständig das Gefühl, gleich würde einer kommen und mir sagen, ich und meine teuren neuen Schuhe hätten hier nichts verloren, und ich sollte wieder in dem Loch verschwinden, aus dem ich gekrochen war.“

Bis es durch einen Unfall beim Sport eben doch wieder bergab geht. Demon wird ohne es selbst zu merken schmerzmittelabhängig und gerät in einen Kreislauf der Sucht, aus dem er nicht mehr heraus findet. Während dieser Zeit lernt er Dori kennen und verliebt sich unsterblich in sie. Sie hat echte Drogenerfahrung, pflegt ihren kranken Vater und zweigt Medikamente ab, um sie teuer zu verticken. Als der Vater stirbt, zieht Demon zu ihr und was anfangs wie die große Liebe aussieht, wird zum Alltag, der sich nur um die Beschaffung von neuen Drogen dreht. Die beiden, vor allem Dori, versinken mehr und mehr in der Sucht.

Hier zeigt uns die Autorin die wirklich düstere Seite des ländlichen Nordamerika. In der Provinz herrscht bei vielen Menschen Armut, Hoffnungslosigkeit, Krankheit und Sucht. Die harte Arbeit beispielsweise des Tabakanbau und die ehemalige Arbeit unter Tage hat die Menschen erschöpft und kaputt gemacht. Anderswo bezeichnet man diese Gegend auch als zurückgeblieben und abgehängt. Ganz im Sinne von Dickens, der diese Themen auch in seinem Roman anprangert. Auch sprachlich trifft Kingsolver Dickens` Ton und seinen Humor, wenngleich in heutige Sprache, hier meist Jugendsprache, versetzt. Auch Figurenübereinstimmungen finden sich, wie etwa Uriah Heep alias U-Haul.

„Und auch dieser Charles Dickens, ein uralter Typ, längst tot und außerdem Ausländer, aber Herrgott, er hat es echt gut beschrieben, wie Kinder und Waisen beschissen und ausgebeutet werden und es keinen einen Furz interessiert. Man hätte meinen können, er wäre von hier.“

Demons Zeichentalent wird entdeckt und er illustriert sogar für einen Comicstripp mit Superheldengeschichten in der Regionalzeitung. Als er Dori eines Tages mit einer Überdosis tot auffindet, ist er untröstlich und muss dennoch loslassen. Die Lage eskaliert, als Demon mit Kumpels aus seiner Vergangenheit betrunken und zugedröhnt zu einem für ihn ohnehin traumatisch besetzten Ort fährt. Hier werden Rivalitäten um eine Frau zu einem tödlichen Kampf. Zwei Opfer gibt es zu beklagen. Zwei, die Demon sehr gut kennt; Maggot und er selbst überleben. Doch Demon muss sich nun entscheiden, wie sein Leben weitergehen soll. Ein Ende in der Abhängigkeit oder ein Neuanfang? Und es ist wieder eine aus der Peggott-Familie, die ihm hilft und ihn anspornt einen Entzug zu machen.

Als er einige Zeit später clean als Besuch zurückkehrt, kommt es zu einer weiteren unerwarteten Wendung im Leben. Und es gibt endlich eine Fahrt ans Meer.

Es gibt hier sehr eindeutig ein voll umfängliches Leuchten!

Der Roman erschien im dtv Verlag. Großartig übersetzt wurde er von Dirk van Gunsteren. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Valerie Fritsch: Zitronen Suhrkamp Verlag


Valerie Fritsch ist eine meiner allerliebsten Autorinnen. Von ihr würde ich jedes neue Buch unbesehen lesen. Bereits seit ihrem Gewinn beim Bachmannpreislesen in Klagenfurt 2015 (Text ist noch abrufbar, Link unten) warte ich auf jedes neue Buch von ihr. Die 1989 geborene österreichische Autorin reist sehr viel, wie man auf ihren social Media-Kanälen mitunter sehen kann. Hier entstehen Polaroid-Fotografien und auch zum neuen Roman Zitronen gibt es einige Bilder, wie man auf der Website des Suhrkamp Verlags sehen kann (siehe link unten). Auch dieser Roman hat mir so sehr gefallen, dass ich deutlich mehr Passagen als sonst für Zitate hier im Beitrag markierte. Ich liebe diese Sprache, sie ist so voller Schönheit und Eleganz. Diese Erzählstimme würde ich aus Tausenden erkennen.

„August Drach erinnerte sich merkwürdig unsicher daran, was für ein Kind er gewesen war, und es fiel ihm manches Mal schwer, sich selbst als noch kleiner vorzustellen, als er sich ohnehin schon fühlte in schlechten Momenten.“

Es geht um August Drach, der in einem kleinen Dorf aufwächst, in einem Haus mit Garten mit seinen Eltern. Der Vater versucht sich als Flohmarktverkäufer, die Mutter war früher Altenpflegerin und betreut nun den Sohn. Schnell wird klar, dass der Vater ein Trinker und gewalttätig ist. Er liebt seine Hunde mehr als den eigenen Sohn. Die Mutter kann wenig dagegen ausrichten. Fritsch schildert all das in einer unglaublichen sprachlichen Dichte.

„Und doch gewöhnte er sich an nichts. Wie ihn der Vater immer kleinmachte und daran groß wurde. Wie er die Kälte zelebrierte, nicht ablassen konnte von einem vermeintlichen Fehler. Wie er kein Herz hatte, aber eine Hand.“

Als der Vater von einem auf den anderen Tag verschwindet, hoffen beide auf eine bessere Zeit. August blüht auf, er ist den ganzen Tag mit seinen Freunden im Dorf unterwegs. Das passt der Mutter wenig, sie fühlt sich ungesehen und als August sich einmal eine Grippe holt, genießt sie die Pflege und die Nähe des Sohns, der dann auf sie angewiesen ist. Für August beginnt nun ein Martyrium. Wir kennen das Phänomen, das in der ärztlichen Fachsprache „Münchhausen-Stellvertretersyndrom“ genannt wird. Um sich Augusts Liebe zu versichern, ihn ständig bei sich zu haben und von sich abhängig zu machen, verursacht seine Mutter durch Tablettengabe eine ständige Erkrankung. So erhält sie auch von außen Zuspruch und Anerkennung für ihre Hingabe.

„Sie besaß die Traurigkeit jener Menschen, die Großes vorhaben, aber kaum hoben sie die Hand, schrumpften die Dinge unter den Fingern, verzwergten sich, scheiterten an der Wirklichkeit. Sie war eine von der Welt Überrumpelte, eine wirre Prinzessin, ewig ungekrönt, eine vom Leben zu Fall gebrachte, die, wenn sie sich aufmühte, stets überrascht auf einer Stufe unter jener stehen blieb, von der der Wind sie herabgeweht hatte.“

Erst als die Mutter Lily und der Arzt Otto sich kennenlernen und zusammenleben, könnte sich daran etwas ändern, wie es auch schon bei einem gemeinsamen Sommerurlaub in Italien der Fall war. Doch der Arzt, der die Taten Lilys irgendwann herausfindet, schweigt um der lieben Harmonie willen. So lebt August bis zu seinem 17. Lebensjahr vollkommen abhängig, geht kaum zur Schule, leidet und weiß nicht warum. Die Situation ändert sich erst, als bei einem Gewitter eines Tages der Blitz im Garten in ihn einschlägt und der Stiefvater Otto ihn nach Gesundung von der Mutter fernhält und für sein weiteres Leben und Auskommen in der Stadt sorgt.

„Für einen Wimpernschlag hatte er gedacht, dass nicht das Wetter, aber ein Gott in ihn einschlug, eine heilige, hohe Gewalt in ihm Obdach fand, ihn mit ihrer Größe anzündete, entfachte wie ein Streichholz, bevor sie in den Boden entwich.“

August arbeitet fortan in einer Bar hinter der Theke und hier verliebt er sich in Ada, eine Künstlerin. Was zuerst als große Liebe zu einer schnellen Hochzeit führt, wird auf Dauer immer schwieriger. Augusts Vergangenheit, die Kindheitstraumata holen ihn ein. Er, der nie eine sichere Bindung hatte, hat einerseits Angst vor zu großer Nähe, andererseits vereinnahmt er Ada total, er ist misstrauisch und wird später sogar selbst gewalttätig. Ada trennt sich von ihm, als er das erste Mal zuschlägt. Sie hat Erfahrung damit und kann August doch nicht retten. Wochenlang nach der Trennung vollkommen haltlos, beschließt er zurück zu kehren in sein Heimatdorf. Dort findet er nur noch die pflegebedürftige Mutter vor – und entdeckt ihr Geheimnis.

Die Autorin hat viel recherchiert zu den Themen ihres Buches. Es ist eine schier unglaubliche Geschichte und doch gibt es solche Szenarien oft genug im wirklichen Leben. Valerie Fritsch erstaunt mich immer wieder mit ihren Geschichten, die meist von großer Traurigkeit sind, eine Erlösung ausschließen, aber doch ganz und gar faszinierend sind. Sie verwandelt selbst Traurigkeit, Traumata, Angst, Schuld aber auch die große Macht der Liebe in eine Sprache, die diesen Zuständen noch mehr Tiefe bringt. Eine Sprache die über allem steht. Über der Handlung und über einem Plot. Fritschs Texte sind für mich in Sprache gegossene Liebeserklärungen an Menschen, seien sie auch noch so beschädigt, abgehängt, chancenlos, eigenbrötlerisch oder unnahbar. Dies ist besonders auch in den Nebenfiguren in diesem Roman zu erkennen. Ein zitronengelbes Leuchten!

Der Roman erschien im Suhrkamp Verlag. Eine Leseprobe gibt über den Link unten. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

https://www.suhrkamp.de/hintergrund/zitronen-von-valerie-fritsch-eine-fotostrecke-b-4309

https://bachmannpreis.orf.at/v2/stories/2716219

Ebenfalls von der Autorin hier besprochen:

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson Suhrkamp Verlag

Valerie Fritsch: Winters Garten Suhrkamp Verlag

Meri Valkama: Deine Margot Frankfurter Verlagsanstalt


Ein Roman, in dem geheime Briefe nach dem Tod eines Angehörigen auftauchen. Das gibt es ja inzwischen allzu häufig in der Literatur. Der Roman „Deine Margot“ findet allerdings doch einen besonderen Platz in der Literatur der Familiengeschichten, denn es geht um Briefe, die zwischen der DDR und Finnland gewechselt wurden. Der Debütroman der Finnin Meri Valkama wurde in ihrem Heimatland zum Bestseller. Meri Valkama ist Journalistin und lebte eine zeit lang als Kind mit ihren Eltern in der DDR und erhielt später ein Studien-Stipendium in Berlin.

Auch ihre Protagonisten, eine finnische Familie aus Helsinki lebt einige Jahre in der DDR. Von 1984 bis kurz vor der Wende arbeitete Markus für eine finnische kommunistische Zeitung in der DDR als Auslandskorrespondent. Seine Frau Rosa und die Kinder Matias und Vilja zogen mit nach Berlin. Sie lebten in einer Plattenbauwohnung im Hochhaus auf der Fischerinsel, die Kinder gingen bald in den nahe gelegenen Kindergarten. Doch die Beziehung der beiden ist nicht mehr so harmonisch, seit die beiden Kinder da sind. Während Markus täglich ins Pressezentrum zur Arbeit geht, kümmert sich Rosa um die Kinder und muss ihr eigenes Schreiben hintan stellen. Sie lernt Ute kennen, die im Haus wohnt; sie wird zur besten Freundin. Markus lernt Louise kennen, die im Kindergarten arbeitet und sich dort besonders um Vilja kümmert. Markus führt nun ein Doppelleben. Louise und er lieben sich, seine Ehe wird immer schlechter. Als Sohn Matias aufgrund der schlechten Luft andauernd krank ist, geht Rosa mit ihm für den Sommer nach Finnland zur Erholung. Nun ist der Weg frei für Markus und Louise als Paar zu leben und mit Vilja als Familie. Als Rosa im Herbst zurückkehrt, merkt sie sofort, dass sich etwas verändert hat, aber viel zu spät erkennt sie, was es ist. Markus selbst vermag nie sich zwischen seiner Familie und Louise zu entscheiden, was die Situation letztlich für alle unerträglich macht.

In der Rahmenhandlung, die in den Jahren 2011/2012 spielt, begleiten wir die erwachsene Vilja, deren Vater gerade gestorben ist, wie sie sich auf die Suche nach der Frau macht, mit der der Vater heimlich Briefe wechselte. Ihre Eltern trennten sich bald nach der Rückkehr aus der DDR, Vilja lebte beim Vater, Matias bei der Mutter. Die Suche führt sie von Berlin über die Ukraine bis auf die Insel Usedom. Nebenher erfahren wir von Viljas Beziehung zu ihrer Partnerin und deren Kind. Dazwischen finden sich die Briefe, die Louise an Viljas Vater schrieb. Deckname Margot an Deckname Erich.

Besonders interessant fand ich die Sequenzen, bei denen über die Arbeit von Markus als Auslandsreporter in der DDR erzählt wird. Wie erlebte die Familie die DDR, da sie ja frei agieren, frei reisen konnte im Gegensatz zur Bevölkerung? Wie fühlte sich der kalte Krieg an, das Aufrüsten der beiden Atommächte? Wie wurde im Osten darüber berichtet? Wie wurde die Gefahr der Kraftwerkskatastrophe in Tschernobyl in der DDR dargestellt? Wie entwickelte sich Gorbatschows Perestroika in der DDR? Interessant auch die kurzen Ausflüge mit Rosa und Ute in die alternative (Party-)Szene in Ostberlin. Oder später die Diskussionen der beiden über die neue Situation der DDR nach der politischen Wende (und was dabei möglicherweise schief gelaufen ist).

„Niemand von uns hat vor fünf Jahren verstanden, mit wie wenig Plänen die Revolution durchgeführt wurde. Verdammt, es gab überhaupt keinen Plan, verstehst du, überhaupt keinen! Wir wollten nicht den Kapitalismus, wir wollten einen demokratischen Sozialismus. Aber dies haben wir nun bekommen. Darunter leiden die Menschen, diejenigen um derentwillen der Wandel eingeleitet wurde. Diejenigen, die auch dir einst etwas bedeutet haben.“

Was mich zwischendurch immer wieder störte, war die Sprache. Stellenweise unbeholfen, mitunter pathetisch, besonders in den Briefen. Manche Worte und Sätze passten auch einfach nicht. Ob es an der Übersetzung lag? „Sie tanzten die ganze Nacht hindurch, während der sternenklare Himmelsdeckel über Mahlsdorf stand,“ oder „Wir zittern, dass unsere Körper nur so schlottern, sie drückt mich eng an sich, sodass die Nägel zwischen meinen Rippen versinken.???

Dennoch habe ich das Buch als richtigen Schmöker, als einen Pageturner empfunden, denn natürlich ist die Recherche in der Vergangenheit der Eltern spannend und natürlich wollte ich unbedingt wissen, wie die Suche ausgeht. Die Geschichte war zu keiner Zeit zu lang, trotz der über 500 Seiten. Der Roman war kurzweilig und der Blickwinkel aus einem anderen Land auf die DDR höchst aufschlussreich. Empfehlung!

Das Buch erschien bei Frankfurter Verlagsanstalt. Die Übersetzung aus dem Finnischen kommt von Angela Plöger. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

2x Norwegen 🇳🇴: Inghill Johansen: Ein Bungalow STROUX edition / Roskva Koritzinsky: Keine Heiligen Karl Rauch Verlag


Zwei norwegische Autorinnen, die aus verschiedenen Generationen kommen und doch in aller Unterschiedlichkeit letztlich ganz ähnliche Themen für ihre Bücher wählten: Es geht ums Essentielle. Beide haben mir in ihrer leuchtenden Eigenart sehr gefallen.


Weder die 1958 geborene Inghill Johansen, noch der Verlag STROUX edition waren mir bisher bekannt. Umso mehr freue ich mich darüber, dass das kleine feine Büchlein den Weg zu mir gefunden hat. Auch haptisch einschmeichelnd ist es, was den besonderen Einband betrifft und damit den etwas langweilig klingenden Titel wieder ausgleichend. Johansen ist in Norwegen eine bekannte erfolgreiche Autorin.

„Es ist schwer zu sagen, ob ich in dem Haus wohne, oder das Haus in mir.“

Formell ist das Buch nicht ganz klar positioniert. Es ist eine Art Roman in kurzen Erzählsträngen aus Gegenwart und Vergangenheit. Es geht um eine Frau, die gleich eingangs beobachtet, wie ein Bagger ein Haus, einen Bungalow abreißt. Wie die Schaufel sich in Dach und Wände beißt und wie schwierig das Zuschauen ist, wenn doch dieses kleine Haus ein ganzes Leben beinhaltet. Die Erinnerungen steigen unweigerlich auf.

„Ich verlasse die kurzen Sekunden, die Tag heißen, die Stunde heißen, und versinke in etwas anderem, das nicht ist, das war, das früher heißt, das damals heißt, das einst heißt.“

Wie das Dach ausgewechselt wurde, preiswert aber unschön, so dass die Mutter niemals die Straße ging, von der aus man von oben aufs Haus blicken konnte, obwohl die Strecke viel kürzer wäre. Die Mutter, die sich nie so richtig in dieser Gegend zurechtfand, in die sie aber durch ihre Heirat verpflanzt wurde. Es findet sich ein Backrezept, dass aber doch nur der Mutter gelang. Die Tochter, die die Mutter pflegte. Die Ameisen, die sich Straßen durch das Haus bahnten. Dann die eigene Körperlichkeit, die umgebenden Strukturen. Die Arbeit als Lehrerin. Das Älterwerden. Die Freundschaften, die zufälligen Begegnungen und teils skurrilen zwischenmenschlichen Verstrickungen. Das alles übersetzt die Autorin in höchst lesenswerte Miniaturen, die von der Sprache leben.

Aus dem Norwegischen übersetzt hat Ina Kronenberger. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Auch der Band Keine Heiligen aus dem Karl Rauch Verlag wartet mit einem haptischen Einband und besonders schöner Aufmachung, wie farbige Fadenheftung, wertigem Papier auf. Es sind Erzählungen der 1989 geborenen Norwegerin Roskva Koritzinsky. Es ist ihr zweiter Erzählungsband und die Stories sind sehr skurril und gewagt, oft verwirrend und ratlos machend, jedoch scheint mir die Autorin auf dem Weg zum ersten Roman zu sein, was die Form der Erzählungen nahelegt. Es würde mich freuen.

Da ich die vorigen Erzählungen kannte, wusste ich in etwa, was mich erwartet, doch diesmal bewege ich mich auf noch dünnerem Eis. Lese Satz für Satz, wiederhole Passagen. Oft driften die Geschichten ins Märchenhafte, Fabelhafte. Einmal erkenne ich eine Geschichte über Krishna aus der indischen Mythologie. Oft weiß ich nicht, wohin mich die Autorin führt, was mich jedoch in keinem Augenblick der Lektüre stört.

Wir lesen von Inez und ihrem kleinen Bruder Martin, beide aus einer dysfunktionalen Familie, er bei Pflegeeltern aufgewachsen, später davon gelaufen. Und doch ist aus beiden „etwas geworden“. Immer bleibt jedoch das Gefühl des nicht gut genug sein.

„Die Gewissheit, dass die Dinge für andere Kinder so anders sein konnten, machte mich nervös, als hätte ich schon damals empfunden, dass es Dinge gab, die ich zu wehr wollte, mehr als die anderen, und dass es daher auch etwas geben musste, das mir in entsprechendem Grad fehlte.“

Es folgen weitere Protagonisten, Lilli, zum Beispiel, die von ihrer Freundschaft mit Lilian erzählt. Später taucht auch wieder Inez auf, als kleines Mädchen, Martin sowohl als Baby, als auch als Elfjähriger, als auch als zur See gefahrener junger Erwachsener. Es scheint, als verknüpft Koritzinsky die Stories miteinander, doch sind die jeweiligen Handlungsorte und -zeiten unklar.

„Die Krankheit war nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die Welt hässlich und bedrohlich war, […] sondern ganz im Gegenteil rührte der Schmerz daher, dass die Welt ein Wunder war, das ihr zwar auf der einen Seite zugänglich war, auf der anderen jedoch versagt blieb,“

Die Helden in diesem Buch sind jedoch alle irgendwie Verlorene, Einsame, Zweifelnde, Schwankende, Beschädigte. Es scheint, als müssten sie sich doppelt so viel anstrengen, wie alle anderen. Es scheint, als wählten sie Wege, die besonders steil sind. Sie sind mir sehr sympathisch in ihrer Haltlosigkeit.

„Der unheimliche Verdacht , dass sie nicht nur im Verborgenen lebte, sondern auch im Verborgenen dachte, im Verborgenen fühlte, im Verborgenen atmete. Dass sich alles in ihr auf kleinster Fläche abspielte: den armseligen Quadratmetern ihres Verstecks.“

Roskva Koritzinsky ließ sich inspirieren, wie man im Abspann nachlesen kann, von den unterschiedlichsten Autoren, wie etwa Clarice Lispector, Inger Christensen, Peter Handke, Samuel Beckett und ganz stark vom schwedischen Nobelpreisträger Harry Martinson. Beim Guggolz Verlag liegt von ihm ein Buch in Neuübersetzung vor – so schließt sich der Kreis.

Die sprachlich starken Erzählungen wurden von Andreas Donat ins Deutsche übertragen. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Ursel Bäumer: Louise Nagel und Kimche Verlag


Erst im letzten Jahr zeigte der Gropius Bau, Berlin Textilarbeiten von Louise Bourgeois (1911-2010) (Video siehe unten). Diese Arbeiten machen einen nicht geringen Teil der Kunstwerke aus und sie erinnern an die Herkunft der Familie Bourgeois. Die Mutter kam aus einer Textilarbeiterfamilie. Die Eltern führten einen eigenen Restaurationsbetrieb für Tapisserien in Antony bei Paris. Louise konnte sehr gut zeichnen und wurde früh in die Webwerkstatt mit einbezogen.

Ursel Bäumer porträtiert in ihrem Roman einen Ausschnitt aus der Biographie der großen französisch-amerikanischen Künstlerin. Sie tritt ein in die Kindheit von Louise und erzählt von den Großeltern, den Eltern und ihrer Aufgabe, die ihr der Vater zueignete, obwohl sie viel zu groß für ein Kind ist. Nämlich die Pflege der todkranken Mutter. Bis zur Hälfte des Buches werden wir Leser immer wieder mit der traurigen Krankheitsgeschichte der Mutter konfrontiert. Bäumer setzt hier als Stilmittel stete Wiederholungen bestimmter Sätze ein, die verdichten sollen, was ich auf Dauer aber etwas anstrengend fand. Weniger wäre hier mehr gewesen. Denn sprachlich ist der Roman durchweg fein und poetisch gewebt.

„Denn soviel stand fest, wenn ich für sie zeichnen sollte, dann hieß das erstens, dass ich zeichnen konnte, und zweitens, dass ich, obwohl ich erst zwölf Jahre und dazu ein Mädchen war, wertvoll und nützlich für sie werden könnte.“

Louise hat es nicht leicht. Sie ist die dritte Tochter, während dem Vater ein Sohn lieber gewesen wäre. Ohnehin ist der Vater höchst unzuverlässig, was die Familie angeht. Er ist oft auf Geschäftsreisen und hat dort diverse Affären, von denen er sogar eine von ihnen mit ins Haus bringt, obwohl die Ehefrau todkrank im Zimmer liegt. Für Louise ist das Verrat. Sie hält umso mehr zur Mutter. Und trotz aller Pflege und Zuversicht stirbt die Mutter. Louise unternahm daraufhin einen Selbstmordversuch. Später wird sie die Mutter in ihren riesigen Spinnenskulpturen ehren. Die Mutter war Weberin, die Spinne ist es auch.

„Die Vergangenheit lebt nur in mir, in meinem Körper. Ich will sie bewachen wie einen kostbaren Schatz, ich muss sie rekonstruieren, kontrollieren, wiedererschaffen. Wie Maman es mit den Tapisserien getan hat, Zentimeter für Zentimeter.“

Hier gibt es eine Art Break. Louise, die zunächst Mathematik studierte, entscheidet sich, Künstlerin zu werden, entscheidet sich, endlich einen selbst bestimmten Weg zu gehen, sich nicht mehr dem Vater unterzuordnen. Der Vater streicht daraufhin die finanzielle Unterstützung. Sie geht bei mehreren Meistern in die Lehre, beginnt jede Technik zu erlernen und jedes Material zu benutzen. Zweifel und Ängste verfolgen sie immer wieder. Doch sie geht weiter. Sie eröffnet eine Galerie mit kleinen Werken heute großer Namen, um ihr Studium zu finanzieren. Und lernt hier ihren Mann, den Kunsthistoriker Robert Goldwater kennen, zu dem sie 1938 nach New York geht. Die Schiffspassage mit ihren Schwankungen innen wie außen, – nicht mehr hier, noch nicht dort – schildert die Autorin eindrücklich. Damit endet der Roman. Empfehlung, besonders für Kunstinteressierte!

In New York dauerte es lange, bis Louise mit ihrer Kunst erfolgreich war. Unter anderem war sie eine Pionierin der räumlichen Installation.

Der Roman erschien im Nagel und Kimche Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer Hanser Verlag


„Natürlich hatte das Mädchen schon immer gewußt, daß etwas mit ihr nicht stimmte.“

Elisabeth Langgässer war mir immerhin namentlich als Schriftstellerin ein Begriff. Ihre Tochter, Cordelia Edvardson, 1929 in München geboren, die Ausschwitz überlebte, kannte ich nicht. Als nun eine Neuauflage ihres autobiographischen Romans „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ erschien wurde ich neugierig. In der Neuauflage, die ich nicht gelesen habe, schrieb Daniel Kehlmann ein überraschendes Nachwort. Als er den Elisabeth Langgässer-Preis verliehen bekam, begann er sich mit der Autorin zu beschäftigen.

„Ich war erschüttert und überwältigt: Wie konnte es sein, dass ein Buch von solchem Gewicht seit nun schon geraumer Zeit vergriffen war? Ohne Zweifel gehört es in die Kategorie der bleibenden Holocaust-Erinnerungen, ebenso wie die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész, Jorge Semprún, Ruth Klüger oder Thomas Buergenthal.“

Daniel Kehhlmann in Volltext

Er stellte dabei den Verrat Elisabeth Langgässers bzw. das Im-Stich-Lassen ihrer Tochter in den Mittelpunkt. Die Neuausgabe aus dem Hanser Verlag wurde von Ursel Allenstein aus dem Schwedischen übersetzt. Da ich in der Bibliothek auf eine alte Ausgabe von 1986 stieß, las ich diese, von Anna-Liese Kornitzky übersetzte Version. Mich hat das Buch vor allem auch aufgrund der dichten Sprache getroffen. Und da passt es tatsächlich zu oben von Kehlmann benannten Autoren.

„Das Kind öffnete sich, wurde überschwemmt, erfüllt und berauscht von Geschmack und Duft, von Farbe und Form der Worte. Im späteren Leben des Mädchens bestätigte sich die Erfahrung, daß man von den Worten eines Gedichts buchstäblich leben und sich ernähren konnte.“

Das Mädchen Cordelia lebt mit der angebeteten Mutter, die Schriftstellerin ist und der Großmutter in Berlin. Elisabeth Langgässer ist eine schwierige Mutter, eine Art Diva. Cordelias Vater ist nicht da, sie ist ein uneheliches Kind. Als die Mutter einen blonden blauäugigen Mann heiratet, könnte alles gut werden. Doch Langgässer ist Halbjüdin und die Tochter, obwohl katholisch getauft, als Jüdin bald zum Tragen des Sterns aufgefordert. Das Mädchen, dass sich wünscht im Bund der Mädel mitzuwirken und weiter im Verein katholischer Mädchen zu sein, fühlt sich nun noch ausgegrenzter. Die Mutter versucht ihre Tochter durch eine Adoption von spanischen Bekannten vor den Nationalsozialisten zu retten, doch es gelingt nicht. Die Tochter „rettet“ schließlich unter dem Zwang der SS die Mutter vor Repressalien, die das schweigend zulässt. Sollte es nicht umgekehrt sein?

Die Tochter erlebt Theresienstadt, Zwangsarbeit in der Fabrik, später bringt man sie nach Auschwitz-Birkenau. Dort erlangt sie mit Glück eine Arbeit in der Schreibstube. Dennoch erlebt sie unfassbares Leid. Edvardson schildert das eindringlich und erschütternd in ausdrucksstarker Sprache. Doch „Sie überlebte. Sie wurde eine Überlebende.“ Nach der Befreiung durch die Alliierten wird das Mädchen vom Roten Kreuz aus dem Arbeitslager befreit und kommt nach Schweden. Sie wird nicht überall herzlich aufgenommen. Keiner kann verstehen, wie schwer überleben sein kann.

„Ihr wollt immer nur „einen Strich durch alles machen“, wie es so schön heißt. Ihr wollt mir meine Angst wegnehmen, sie verleugnen und ausstreichen und euch vor meiner Wut schützen, aber dann streicht ihr auch mich aus, „ausradieren“ nannten es die Deutschen, dann verleugnet ihr auch mich, denn all dies bin ich.“

Als später die Mutter Kontakt zu Cordelia aufnimmt, weil sie einen neuen Roman schreibt, fragt sie die Tochter nach genauen Einzelheiten ihrer Erlebnisse im Konzentrationslager, möglichst detailliert und korrekt. Ich bin hier als Leserin vollkommen sprachlos angesichts eines solchen Mangels an Sensibilität. Dass die Tochter überhaupt darauf reagiert, wundert mich. Cordelia konvertiert zum Judentum, heiratet zweimal, bekommt Kinder. Als Journalistin geht sie für viele Jahre nach Israel, kehrt aber 2006 nach Schweden zurück. Sie starb 2012 in Stockholm.

Eine weitere Besprechung gibt es bei Kulturbowle.

1000. Blogbeitrag! Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter S. Fischer Verlag


Es ist mein 1000.Blogbeitrag und er geht an einen norwegischen Roman, der auch eines meiner Jahreshighlights ist.

In dieser Saison sind unglaublich viele Romane auf dem Markt, die sich mit einer Mutter/Tochter-Beziehung beschäftigen. Ich bin besonders froh über das Buch der Norwegerin Vigdis Hjorth. Denn in „Die Wahrheiten meiner Mutter“ wird ganz offen von einer dysfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehung gesprochen, ungeschönt und unversöhnlich, ohne Heile-Welt-Spiel, so wie es eben im richtigen Leben auch oft vorkommt, aber selten offen erzählt wird. Mir war die Hauptfigur sehr nah, was sicher zum besonderen Leseerlebnis beitrug. Aber nicht nur, denn Hjorths Art zu schreiben ist eine Art Bewusstseinsstrom, es ist ein innerer Monolog, der aber eben auch sprachlich beeindruckend gelungen ist.

„Fühle ich mich allein auf der Welt? Nicht so, wie sie es glauben oder sich vorstellen, denn ich habe mich immer allein auf der Welt gefühlt.“

Johanna, die mit 20 sowohl ihren Ehemann, als auch ihr Elternhaus verließ und mit einem jungen Mann in die USA zog und dort eine erfolgreiche Künstlerin wurde, kehrt mit um die 50 zurück nach Norwegen, weil in ihrem Heimatort eine Retrospektive ihrer Werke stattfinden wird. Zunächst ist sie mit dem Einrichten der Wohnung und des Ateliers beschäftigt, doch dann ruft sie spontan ihre Mutter an. Sie weiß nichts über sie, auch nicht über ihre jüngere Schwester, hatte seit ihrem Weggang keinerlei Kontakt, kam auch nicht nach Hause, als der Vater krank wurde und starb. Sie hatte selbst einen schmerzlichen Verlust zu ertragen, ihr Partner starb. Die Mutter reagiert nicht. Sie reagiert auf keinerlei Kontaktversuche. Zunehmend obsessiv, später auch verzweifelt beginnt die Tochter die Mutter zu belauern und zu verfolgen. Zwischendurch zieht sie sich immer wieder in die gemietete Hütte im Wald zurück, um durchzuatmen und Kraft zu schöpfen. Ihr ist anzumerken, wie schwer ihr diese Annäherung fällt, wie überlebenswichtig sie dennoch zu sein scheint.

„Das tat mir weh, ebenso dass sie ehrlich zu glauben schienen, solche Worthülsen würden mich dazu bringen, mein neues Leben aufzugeben, zurückzukehren zu emotionaler Erpressung, mich ihrer Form und und ihren Erwartungen anzupassen, was für mich einer Selbstverstümmelung gleich kam.“

Die Autorin erspart ihrer Heldin nichts. Sie schickt sie durch tiefste Tiefen der Gefühlswelt, sie lässt sie allein ausharren, bis sich Wege zeigen, Auswege mitunter, aber vor allem bis sich ein tiefes Verständnis der eigenen Empfindungen einstellt. Eine Akzeptanz, die aus Reflektion und Aktion entsteht und den Schmerz, der immer wieder da ist, erträglich macht. Eine Tochter, die alles alleine aufarbeitet, was zwischen ihr und ihrer Mutter über lange Zeit schief gegangen ist. Die sich nach langen Jahren endlich den Tatsachen stellt, dass die Mutter sie hat fallen lassen. Dass sie für ihre Mutter nicht mehr existiert. Eine Mutter, die sich weiterhin verschließt, die weiterhin verdrängt und auf ihren Ansichten beharrt.

„sie hinderte die Töchter in allem, was ihren eigenen Einfluss schmälern könnte, vor allem mich, weil sie merkte, dass ich mich entfernte und keinen Respekt zeigte, sie war aufdringlich und übergriffig, weil sie in Wirklichkeit ohnmächtig war, weil ich aufgehört hatte, mich für ihre Meinung über dies und das und jenes zu interessieren;“

Der Roman ist ungewöhnlich arrangiert. Auf längere Sequenzen, die oft in die Kindheit zurückführen, folgen kurze, mitunter nur Sätze, wie Gedankenfetzen. Auch als psychologische Selbstanalyse hochinteressant. Ich empfinde diese Form sehr stimmig und die Entwicklung extrem spannend. Nur nach und nach kann man sich ein Bild davon machen, was zwischen Mutter und Tochter geschah, vielfach nur fragmentarisch. Das Ende kommt wie ein Paukenschlag, aber ein heilsamer. Zumindest für die Tochter, die sich befreien kann nach einer monatelangen Tortur. Und wieder zurückkehrt in ihr Künstlerinnendasein, weitab von aller Enge und Not. Ein Leuchten!

Der Roman erschien im S. Fischer Verlag. Gabriele Haefs hat ihn aus dem Norwegischen übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar!

In Bälde ist auch ein Beitrag über die Mutter/Tochterbeziehung im Roman geplant. Stay tuned!

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Felicitas Geduhn: Sommer S. Marix Verlag


Ein Roman, den ich von selbst nie entdeckt hätte, hätte mich nicht die Autorin selbst auf Instagram darauf aufmerksam gemacht. Nach der Leseprobe war klar: Das will ich lesen. Der Roman ist in drei Abschnitte aufgeteilt, die zu verschiedenen Zeiten spielen. Ein Entwicklungsroman, ein Coming of Age-Roman also. Ja, aber viel mehr. Denn hier liegt wieder einer dieser seltenen Glücksfälle vor, in dem die Sprache die Geschichte trägt. Beides geht Hand in Hand, wobei die Sprache voran geht. In allem, auch in der Sprache liegt eine schwere Tiefe, eine dichte Intensität, die unbedingt zum Ausdruck kommen will und es auch darf.

„Und? Ist da was dran?“ Mir gefiel die Idee, dass man Gefühle auf Vorrat fühlen konnte. Dann würde ich gleich damit anfangen, alles Schmerzende leer zu fühlen.“

Gleich die ersten Sätze, überhaupt der erste Abschnitt des Romans verzaubert mich. Ja, das klingt kitschig, übertrieben. Aber ich bleibe dabei. Denn ich vergaß alles rund um mich herum. Felicitas Geduhn schafft eine Sommeratmosphäre, wie ich sie selbst aus meinen Kindheitssommern kenne. Erst glaubt man, die Ferien dauern ewig, dann vergehen sie viel zu rasch.

„Wie kann ein Fluss so sehr Zuhause sein, wo er doch nie derselbe ist, der er eben noch war?“

1989, ein ostdeutscher Ort an der Elbe: Die Heldin, Anna, und ihr bester Freund Martin sind 10 Jahre alt. Sie kommen beide aus „komischen“ Verhältnissen, wie es in der Schule heißt. Doch das verbindet sie. Martin wird nach Ende des Sommers mit seiner Mutter zum „neuen“ Vater ziehen. Er will vorher unbedingt seinen richtigen Vater kennenlernen, den er als Helden verehrt. Was naturgemäß in einer mittleren Enttäuschung endet. Für Anna, die bei der Großmutter lebt, da sie elternlos ist, wird die Begegnung mit Fanny, einer Freundin der Großmutter, ganz entscheidend zur Entwicklung eines neuen Selbstvertrauens beitragen. Leider wird dieses Selbstverständnis dann zum Ende des Sommers wieder durch ein Schrecknis erschüttert. Dieses erst große Kapitel hat mich begeistert; es ist, wie ich finde der beste Teil des Buches.

„Martin schob einen der beiden Schlüssel ins Schloss, erwischte den falschen und mir schoss durch den Kopf, ob das vielleicht so sein sollte. Ob es einfach Menschen gab, die immer zuerst den falschen Schlüssel wählten, auch wenn es nur zwei gab, und die Chancen den richtigen zu nehmen, eigentlich so schlecht nicht standen.“

Die beiden weiteren Kapitel spielen zehn Jahre später bzw. 2015. Viele der Entwicklungen erspürt man mehr, als dass sie genau beschrieben werden. Manches wird erst nach und nach in Rückblenden aufgelöst. Diese Art zu erzählen gefällt mir sehr. Diese Leerstellen. Ähnlich geht auch Judith Hermann an ihr Schreiben heran und ja, mich erinnert der Stil tatsächlich im besten Sinne an deren Erzählungen und Romane.

Der Abschluss des ersten Kapitels hat enormen Einfluss auf die weiteren Geschehnisse. Für Anna sind sie letztlich wegbestimmend. In ihr wirken sie immerfort. Durch den frühen Tod der Eltern ohnehin eher still und in sich gekehrt, wird sie auch in späteren Beziehungen immer vorsichtig sein. 1999: Anna lebt mittlerweile in Berlin, wird Bibliothekarin, wohnt mit einer anstrengenden Frau und einer Schildkröte in einer WG. Hat eine Beziehung mit Kay, dem Sohn von Fannys Tochter. Haben sie eine Beziehung? Aus der Ferne? Auch als Leser ist man sich nicht sicher. Gibt es noch Kontakt mit Martin? Aus der Ferne?

2015: Anna fährt in ihre Heimatstadt. 4 Wochen Sommerzeit. Mit Fannys Tochter verbindet sie mittlerweile eine gute Freundschaft. Mit Kay hat es nicht dauerhaft geklappt. Martin ist inzwischen Vater geworden; die Beziehung mit Annas Arbeitskollegin hingegen hat nicht gehalten. Er hat das Haus seines Stiefvaters geerbt und möchte mit Anna über die Zukunft reden. Die Zukunft? Eine gemeinsame Zukunft? Ein Zusammenleben? Würde Anna jemals wieder an ihrem Heimatort leben wollen? Fragen über Fragen, die schwierig zu beantworten sind, da die Freunde eben doch nicht mehr so nah sind, wie es einmal war. Und weil das Schicksal auch in diesem Sommer wieder dafür sorgt, dass das Leben aus den Fugen gerät. Was genau passiert, verrate ich hier nicht. Nur soviel: Geduhn hat eine ganz zarte feinfühlige Art zu Erzählen, die in aller Traurigkeit der Geschehnisse doch wieder tröstlich ist. Ich bin ganz nah dabei. Wer im Leben schon ähnlich am Rand stand, auch aus einer „komischen“ Familie stammt oder Melancholie in sich trägt, weiß diese Art zu schreiben besonders zu schätzen.

Ich bin froh, dass diese Lektüre zu mir gefunden hat. Ohne sie gäbe es ein literarisches Leuchten weniger. Ich danke der Autorin für das Rezensionsexemplar und freue mich auf ihren nächsten Roman.

Romina Nicolić: Unterholz Wartburg Verlag/Edition Muschelkalk


„Als ich noch klein war, dachte ich,
die Dinge bekämen Namen und alles wäre gesagt.“

Ein wenig werde ich durch den Lyrikband „Unterholz“ von Romina Nicolić auch in meine eigene Kindheit zurückgeworfen. Zwar ist die Dichterin wesentlich jünger und in der DDR geboren, doch erinnere ich ganz ähnliche Szenarien auch auf dem Dorf meiner Großeltern, die ich als Kind mit meinen Eltern in den Sommerferien in Thüringen besuchte. Lange Sommerwochen, in denen ich oft auch den Dialekt meiner Verwandten aus Schwarzbach („das kühle Schwarzbacher“ : Tante und Onkel arbeiteten in der Brauerei) hörte. Trotzdem ist es gut, dass zu den kurzen Textabschnitten in Mundart auch die hochdeutsche Übersetzung dabei steht. Diese kurzen Sequenzen ergänzen wie Fußnoten stimmig das Langgedicht, dass sich fließend und rhythmisch in einem Zug lesen lässt. Ich bin ganz dabei.

Die Lyrikerin breitet vor uns auf 66 Seiten ein eindrucksvolles Panorama einer Kindheit auf dem Dorf im Thüringer Wald vor uns aus. Gleich eingangs dachte ich an die Gedichte Kerstin Beckers, die ähnliche Themen beschreibt und ein wenig auch an Nancy Hüngers Lyrik. Und doch ist es eine andere, irgendwie höhere Stimme, die, wie ich finde, hier vor allem durch die Form des Langgedichts wirkt. Wie ein Fluss, mitunter ein Bach strömen die Verse und treiben uns mit. Ich sitze auf einem Floß, dass mich sicher trägt, aber zeitweise der unberechenbaren Strömung aussetzt. Doch es geht immer weiter und weiter, wie eben auch aus der Kindheit ein Heranwachsen wird.

„Ich lernte schreiben, und alle Wörter
wurden Blütenstaub im Wind.“

Der Großvater ist sehr präsent, obwohl er nicht viel spricht. Er hat den Krieg erlebt, die Gefangenschaft. Er ist der Heldin sehr nah. Durch den ganzen Zyklus wiederholt sich die Zeile „Großvater nahm mich bei der Hand“ „Geah nänn haa“. Lange rätselte ich über die Zeile: Heißt es „Komm nur her“ oder „Gib mir deine Hand“? Eine weitere Hauptperson, obwohl sie sicher eher ein imaginärer Freund der Heldin ist, ist Kaspar. Er ist immer bei ihr, wenn sie ihn braucht, er tröstet und beschützt und gibt Mut. Ich mag ihn sehr!

„Als mein Hase gehäutet wurde
legte Kaspar mir einen Steinpilz
auf die Fensterbank, eine Taubenklaue
eine halbe Tube Putzi ließ er mir da,
und als Kaspar verschwand,
aß ich die Zahnpasta
allein in meinem Schrank.“

Und dann kommt die Großmutter und die vielen „Mütterchen“ im Dorf, die mit ihrem Aberglauben, mit ihren Ritualen und ihrer Religiosität die Kindheit, aber auch mit ihrer Zähheit, ausdauernd begleiten. Sie versuchen den Übermut des Kindes im Zaum zu halten mit ihren Warnungen vor diesem und jenem und ihren drohenden Prophezeiungen. Sie halten, grenzen aber auch ein. Sie predigen, aber können auch klug verzeihen.

„Ein Refrain in all ihren Liedern,
eine Lehre in all ihren Geschichten:
Man darf nichts zu sehr wollen,
man darf nie zu sehr lieben.
Weil einen der Tod sonst vorzeitig ereilt.“

Wir lesen von Hausschlachtungen, von toten Kätzchen und Rehkitzen in Hosentaschen, vom Kind in der Jauchegrube, vom in-der-Ecke-stehen im Klassenzimmer, von den Geheimnissen der Erwachsenen, vom Wahrnehmen und Lauschen, vom Innen und Außen.

Es gibt keine strikt chronologische Ordnung in diesem Zyklus, doch das macht überhaupt nichts aus. Alles ist verbunden und wiederholt sich. Die Wiederholungen mancher Zeilen haben etwas litaneihaftes, sind aber auch zuständig für den Sog der sich beim Lesen entwickelt. Sie sind starke Verbindungsglieder, auch um das Wichtige herauszufiltern und wieder etwas Ordnung herzustellen.

Der wichtigste Protagonist ist wohl die Natur. Das Kind zieht es von Anfang an in den Wald. Anfangs darf es nicht alleine, dann büxt es eben aus. Kaspar ist ja dabei. Durch die Natur mit ihrer Weite und Freiheit wird die Enge des Horts und der Schule ausgeglichen. Während die Großmutter das christliche Glaubensbekenntnis betet, findet die Heldin ihr Glaubensbekenntnis in der Natur. Seitenlang. Wunderbar.

„Ich glaube an das Flattern und Schwärmen,
das Taumeln über lichterfüllte Wiesen,
ich glaube an den Heiligen Geist
in den Schleifenflügeln der Schmetterlingspärchen,
an Löwenzahn, Vergissmeinnicht.“

Einen Break gibt es gegen Ende des Gedichts, als die Liebe sich zeigt. Die Heldin verliebt sich und ist damit wieder ganz ungeschützt. Wie der Natur gibt sie sich diesem Gefühl hin. Doch die Natur ist etwas Beständiges, etwas Tragendes, während die Verliebtheit eher den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Liebe, die Hingabe ist ein gefährliches Terrain. Auch das wissen natürlich die Mütterchen und sparen nicht mit Ratschlägen, die wiederum natürlich in den Wind geschlagen werden.

Letztlich hat mich dieser Zyklus so beeindruckt, dass ich viel Inspiration für mein eigenes Schreiben mit biografischem Hintergrund fand. Besser geht es nicht. Manche Passagen las ich wieder und wieder. Auch laut. Diese Poesie ist ganz eigen und stark und liebevoll zugleich. Romina Nicolić kann etwas, was ich enorm schwierig und auch enorm selten finde: Sie macht Autobiographisches zu Literatur und vor allem zu ausgezeichneter Lyrik, was ich noch seltener finde. Sie machte mich Staunen. Wie beglückt ich jedes mal bin solche Perlen in der großen Auswahl der Lyrik zu finden. Erfreut lese ich, dass es ein Auszug eines Langgedichts ist. Über eine Fortsetzung würde ich mich wahnsinnig freuen. Ein Leuchten! Große Empfehlung!

Der Band erschien im Wartburg Verlag/Edition Muschelkalk. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Karin Smirnoff: Wunderkind Hanser Berlin Verlag


Nach Karin Smirnoffs bemerkenswertem Debüt „Mein Bruder“ folgt nun in deutscher Übersetzung „Wunderkind“. Ich bin weiterhin sehr erfreut über die Entdeckung dieser Autorin, obgleich es schwere harte Themen sind, die Smirnoff in ihren Romanen bearbeitet. Es geht auch diesmal um dysfunktionale Familien, um Missbrauch und vor allem um Kinder, die in den dargestellten Familien das Nachsehen haben und es aus der Not heraus erlernt haben, wie man überlebt, wenn man sich nicht auf Eltern verlassen kann. Tatsächlich gibt es kaum Lichtblicke in diesem Roman, noch weniger als im vorigen. Dies als Vorwarnung.

Hauptfigur und Heldin im Wortsinn ist Agnes, die wir von ihrer Geburt an begleiten und die sich schnell als Wunderkind entpuppt, was ihr musikalisches Können angeht. Bereits mit zwei beginnt sie schon auf dem Klavier zu spielen. Das Talent hat sie wohl von der Mutter geerbt, Anita, deren Karriere jedoch aufgrund der Schwangerschaft mit Agnes gestoppt wurde. Der Vater ließ sie allein mit dem Kind. Mit dem eigentlich ungewollten, sie störenden Kind. Sie tut alles, damit Agnes das auch spürt und erlaubt ihr nicht einmal die Flucht in die Musik. Schon früh teilt sich Agnes ihr Dasein in die „Umwelt„, also das Alltägliche, meist Hoffnungslose und in die „Welt„, die für sie die Musik ist und in die sie am liebsten immer eintauchen würde. Doch die Umwelt stört immer wieder. Agnes nennt ihre Mutter Anitamama, ich lese – ganz freud`scher Verleser – ständig Antimama. Zunächst gibt es noch Großeltern, die sich kümmern, dann bricht Anita mit den Eltern. Als sie wieder einen neuen Mann findet, scheint sich das Blatt zunächst zum Besseren zu wenden. Doch Anita kommt aufgrund von Depressionen in eine Klinik. Wieder zurück, wird bald ein Geschwisterkind geboren, für das Agnes sich gleich verantwortlich fühlt/fühlen muss.

„Ich bin das Kind das das Leben seiner Mutter zerstört hat. Das den Platz übernommen hat der eigentlich ihr gehörte. Sie singt ich spiele. Sie singt falsch ich passe mich an. Wenn ich überleben will darf ich sie nie übertreffen.“

Durch den Musiker Frank, der Anita schon länger kennt, tut sich für Agnes wieder die Welt der Musik auf. Zusammen mit Kristian, der Cello spielt und mit dem sie zusammen beginnt, eigene Stücke zu komponieren, gibt es sogar bald Auftritte mit Publikum. Als Leserin freute ich mich, dass da endlich jemand ist, der Agnes liebevoll annimmt. Doch dann zeigt sich langsam aber immer deutlicher, dass Frank Kinder nicht nur gern hat, sondern sie auch sexuell missbraucht und das Liebe nennt. Das ist als Leserin kaum auszuhalten, diese Hoffnung, die dann wiederum im Unguten mündet. Für mich war es ein großer Zwiespalt, mit anzusehen, wie die Kinder ihn total mögen, wie er ihnen Hilfe, Förderung und lang vermisste Zuneigung entgegenbringt, und dann aber doch diese Grenze überschreitet und den Kindern neues Leid antut. Gut beschrieben wird hier auch, wie er sich immer „bedürftige“ Kinder aussucht, deren Eltern sich wenig um sie kümmern. Gleichzeitig zeigt die Autorin auch den eigenen Missbrauchshintergrund von Frank als Kind. Agnes trifft es spät, Kristian und auch Miika, der zum Ensemble dazu kommt, leiden stark unter Franks Übergriffen. Die jeweiligen Eltern merken nichts davon oder wollen es nicht merken.

Als Anitas neuer Mann sie plötzlich mit dem leiblichen Sohn Richtung Frankreich verlässt, ist Agnes erschüttert. Zwischen dem kleinen Bruder und ihr, gab es ein starkes Vertrauensverhältnis. Sie überredet Frank, mit ihnen nach Paris zu fahren und ihn zu suchen. Frank organisiert dort Konzerte für die Kinder, die immer besser und stärker werden durch das gemeinsame Musizieren. Oft betäuben sie sich mit Alkohol unter dem Motto: „Schmeckt nicht gut tut aber gut“. Kristian, der immer wieder Selbstmordgedanken hat, und Agnes sind durch die Musik besonders stark verbunden. Sie komponieren ganze Stücke und kommen damit an. Doch Frank nutzt das aus und schickt sie zuletzt sogar in die Prostitution (die Kinder sind zum Zeitpunkt des Haupterzählstrangs 9 bis 12 Jahre alt!)

„Aus dem Fenster zu fallen ist Nummer vier von neun denkbaren Arten zu sterben. Die drei ersten hat er genau durchdacht und in einem Schreibheft notiert.“

Agnes Mutter ist nach deren Rückkehr aus Paris wieder in einer Klinik, die Wohnung aufgelöst und Agnes zieht wieder zur Großmutter. Hier zeigt sich die Krankheit der Mutter wieder deutlich: Sie überlässt Agnes völlig ihrem eigenen Schicksal. Auch hier lässt Smirnoff immer wieder durchscheinen, dass der Großvater womöglich auch übergriffig war gegenüber Agnes` Mutter. Das Hausmädchen der Großeltern, Susanna, dass entlassen wurde, als sie schwanger war und in die Drogensucht abgleitet, war Agnes oft eine große Stütze mit ehrlicher Zuneigung. Sie ist es auch, die am Schluss, die Kinder aus den Klauen von Franks Machenschaften rettet, in dem sie die Polizei verständigt. Spät genug, denn die Kinder sind längst traumatisiert, in mehrfacher Hinsicht. Agnes und Kristian sehen sich nicht mehr, scheinen beide nicht mehr musizieren zu können. Was als Überlebensstrategie und Flucht aus dem Alltag lange funktionierte, scheint verloren …

„Ich war ein Wunderkind. Jetzt bin ich ein gewöhnliches Kind. Das ist einfacher.
Die Musik ist verstummt.
Wenn ich nicht spielen kann ist es nicht passiert.“

Karin Smirnoffs Sprache ist verkürzt und dicht. Ruppig und oft kindlich wirkt sie; sehr nah an der Ich-Erzählerin angelegt. Oft fehlen Satzzeichen, oft wechselt die Perspektive rasch. Die Autorin schafft es die furchtbaren Geschehnisse so verschleiert und unklar zu lassen, dass die Geschichte der Kinder auch der Fantasie der Leserin ausgeliefert ist. Gleichzeitig stattet sie die Kinder mit einem gewissen Galgenhumor aus, der sie oft rettet. Sie bewahrt den Stil, den ich von „Mein Bruder“ so schätzte und ich werde sicher auch den nächsten Band lesen.

Das Buch erschien im Hanser Berlin Verlag. Übersetzt wurde es von Ursel Allenstein. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.