„Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.“
Eine Art „David Copperfield“ in modern? Dickens 2.0? Ich war erst etwas skeptisch, hatte ich die Autorin Barbara Kingsolver doch in einem anderen Genre verortet. Umso größer ist die Überraschung und die Lesefreude. Denn als Charles Dickens Fan war ich natürlich auch sehr genau am Vergleichen und hatte das Original beim Lesen quasi immer in Reichweite liegen. Und in der Tat wächst mir Demon Copperhead dann ähnlich schnell ans Herz wie sein Vorbild. Der Autorin ist eine zeitnahe, gesellschaftskritische und dennoch absolut witzige, rasante 850 Seiten lange Geschichte gelungen, die mich total mitgerissen hat. Sie erhielt dafür den Pulitzer-Preis und den Women`s Prize for Fiction.
Der Junge Demon lebt mit seiner Mutter in einem Trailer in den hügeligen Wäldern von Südwestvirginia, einer früheren Bergbausiedlung. Er kam mit einer Glückshaut auf die Welt und dem großen Wunsch einmal das Meer zu sehen. Die Mutter ist gerade wieder einmal clean. Seinen Vater kennt Demon nicht, er ist schon lange tot. Vom Vater hat Demon die roten Haare geerbt. Die beiden schlagen sich mehr recht als schlecht durch. Immerhin hat die Familie im Nachbartrailer immer ein Auge auf sie und der Pflegesohn Maggot ist Demons bester Freund. Die beiden gehen zusammen in eine Klasse und sind auch sonst unzertrennlich. Mrs. Peggot und Mr. Peggot, ebenfalls vom Schicksal hart getroffen sind die guten Geister und werden es mit Unterbrechungen immer wieder sein.
„Eine von Moms schlechten Entscheidungen – so nannten sie das in der Reha, und glaubt mir, ihr Leben war voller schlechter Entscheidungen – war ein Typ namens Copperhead. Angeblich hatte er die dunkle Haut und die hellgrünen Augen der Melungeons, die von Weißen, Schwarzen und Indianern abstammen, dazu rotes Haar, das einem ins Auge sprang.“
Die Probleme beginnen, als Demons Mutter einen neuen Freund hat, der bald schon in den Trailer einzieht. Die beiden können sich von Anfang an nicht leiden. Schnell kommt es zu Streit und Handgreiflichkeiten, Demons Mutter gegenüber wird er gewalttätig. Bald ist sie wieder abhängig und der neue Mann schafft es, dass Demon in eine Pflegefamilie geschickt wird. Ab hier wird es ein langes nie enden wollendes haltloses Auf und ab an immer wieder neuen Orten, die für Demon jede Menge Schrecknisse bereit halten. Als Demons Mum ausgerechnet an seinem Geburtstag an einer Überdosis stirbt, ist er voller Hoffnungslosigkeit. Seine Zukunft wird bestimmt von Hunger, harter Arbeit und Verlorenheit. Einzig seine Lust und sein Talent zum Zeichnen halten ihn aufrecht.
„Damals dachte ich, mein Leben könnte nicht beschissener werden. Mein Rat: Denkt so was nie.“
Als er sich genug Geld verdient hat, nimmt er Reißaus und begibt sich auf die Suche nach dem Grab des Vaters. In der Tat begegnet er seiner Großmutter, die ihn in eine gute Pflegefamilie schickt und finanziell unterstützt. Es wird die schönste und beständigste Zeit seit seiner Geburt. Er landet bei einem bekannten Football-Coach und dessen Tochter wird zu seinem besten Kumpel. Schule und Footballtraining, genügend Taschengeld, ein eigenes Zimmer. Sicherheit und Beliebtheit. Anerkennung.
„Was zwischen diesen Welpen und mir stand, war, dass ich wusste, wie viele geleerte Batterien, wie viele von hier nach da geschleppte Müllsäcke, wie viele Stunden den Unterschied zwischen einem Ein- und einem Zehn-Dollar-Schein ausmachten. Ich war tätowiert mit der Scheiße des Lebens: Ich war verprügelt und belogen worden, tagelang stoned und wochenlang hungrig gewesen. Ich wollte nicht wie diese anderen Kinder sein. […] Ich hatte ständig das Gefühl, gleich würde einer kommen und mir sagen, ich und meine teuren neuen Schuhe hätten hier nichts verloren, und ich sollte wieder in dem Loch verschwinden, aus dem ich gekrochen war.“
Bis es durch einen Unfall beim Sport eben doch wieder bergab geht. Demon wird ohne es selbst zu merken schmerzmittelabhängig und gerät in einen Kreislauf der Sucht, aus dem er nicht mehr heraus findet. Während dieser Zeit lernt er Dori kennen und verliebt sich unsterblich in sie. Sie hat echte Drogenerfahrung, pflegt ihren kranken Vater und zweigt Medikamente ab, um sie teuer zu verticken. Als der Vater stirbt, zieht Demon zu ihr und was anfangs wie die große Liebe aussieht, wird zum Alltag, der sich nur um die Beschaffung von neuen Drogen dreht. Die beiden, vor allem Dori, versinken mehr und mehr in der Sucht.
Hier zeigt uns die Autorin die wirklich düstere Seite des ländlichen Nordamerika. In der Provinz herrscht bei vielen Menschen Armut, Hoffnungslosigkeit, Krankheit und Sucht. Die harte Arbeit beispielsweise des Tabakanbau und die ehemalige Arbeit unter Tage hat die Menschen erschöpft und kaputt gemacht. Anderswo bezeichnet man diese Gegend auch als zurückgeblieben und abgehängt. Ganz im Sinne von Dickens, der diese Themen auch in seinem Roman anprangert. Auch sprachlich trifft Kingsolver Dickens` Ton und seinen Humor, wenngleich in heutige Sprache, hier meist Jugendsprache, versetzt. Auch Figurenübereinstimmungen finden sich, wie etwa Uriah Heep alias U-Haul.
„Und auch dieser Charles Dickens, ein uralter Typ, längst tot und außerdem Ausländer, aber Herrgott, er hat es echt gut beschrieben, wie Kinder und Waisen beschissen und ausgebeutet werden und es keinen einen Furz interessiert. Man hätte meinen können, er wäre von hier.“
Demons Zeichentalent wird entdeckt und er illustriert sogar für einen Comicstripp mit Superheldengeschichten in der Regionalzeitung. Als er Dori eines Tages mit einer Überdosis tot auffindet, ist er untröstlich und muss dennoch loslassen. Die Lage eskaliert, als Demon mit Kumpels aus seiner Vergangenheit betrunken und zugedröhnt zu einem für ihn ohnehin traumatisch besetzten Ort fährt. Hier werden Rivalitäten um eine Frau zu einem tödlichen Kampf. Zwei Opfer gibt es zu beklagen. Zwei, die Demon sehr gut kennt; Maggot und er selbst überleben. Doch Demon muss sich nun entscheiden, wie sein Leben weitergehen soll. Ein Ende in der Abhängigkeit oder ein Neuanfang? Und es ist wieder eine aus der Peggott-Familie, die ihm hilft und ihn anspornt einen Entzug zu machen.
Als er einige Zeit später clean als Besuch zurückkehrt, kommt es zu einer weiteren unerwarteten Wendung im Leben. Und es gibt endlich eine Fahrt ans Meer.
Es gibt hier sehr eindeutig ein voll umfängliches Leuchten!
Der Roman erschien im dtv Verlag. Großartig übersetzt wurde er von Dirk van Gunsteren. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.