Romina Nicolić: Unterholz Wartburg Verlag/Edition Muschelkalk


„Als ich noch klein war, dachte ich,
die Dinge bekämen Namen und alles wäre gesagt.“

Ein wenig werde ich durch den Lyrikband „Unterholz“ von Romina Nicolić auch in meine eigene Kindheit zurückgeworfen. Zwar ist die Dichterin wesentlich jünger und in der DDR geboren, doch erinnere ich ganz ähnliche Szenarien auch auf dem Dorf meiner Großeltern, die ich als Kind mit meinen Eltern in den Sommerferien in Thüringen besuchte. Lange Sommerwochen, in denen ich oft auch den Dialekt meiner Verwandten aus Schwarzbach („das kühle Schwarzbacher“ : Tante und Onkel arbeiteten in der Brauerei) hörte. Trotzdem ist es gut, dass zu den kurzen Textabschnitten in Mundart auch die hochdeutsche Übersetzung dabei steht. Diese kurzen Sequenzen ergänzen wie Fußnoten stimmig das Langgedicht, dass sich fließend und rhythmisch in einem Zug lesen lässt. Ich bin ganz dabei.

Die Lyrikerin breitet vor uns auf 66 Seiten ein eindrucksvolles Panorama einer Kindheit auf dem Dorf im Thüringer Wald vor uns aus. Gleich eingangs dachte ich an die Gedichte Kerstin Beckers, die ähnliche Themen beschreibt und ein wenig auch an Nancy Hüngers Lyrik. Und doch ist es eine andere, irgendwie höhere Stimme, die, wie ich finde, hier vor allem durch die Form des Langgedichts wirkt. Wie ein Fluss, mitunter ein Bach strömen die Verse und treiben uns mit. Ich sitze auf einem Floß, dass mich sicher trägt, aber zeitweise der unberechenbaren Strömung aussetzt. Doch es geht immer weiter und weiter, wie eben auch aus der Kindheit ein Heranwachsen wird.

„Ich lernte schreiben, und alle Wörter
wurden Blütenstaub im Wind.“

Der Großvater ist sehr präsent, obwohl er nicht viel spricht. Er hat den Krieg erlebt, die Gefangenschaft. Er ist der Heldin sehr nah. Durch den ganzen Zyklus wiederholt sich die Zeile „Großvater nahm mich bei der Hand“ „Geah nänn haa“. Lange rätselte ich über die Zeile: Heißt es „Komm nur her“ oder „Gib mir deine Hand“? Eine weitere Hauptperson, obwohl sie sicher eher ein imaginärer Freund der Heldin ist, ist Kaspar. Er ist immer bei ihr, wenn sie ihn braucht, er tröstet und beschützt und gibt Mut. Ich mag ihn sehr!

„Als mein Hase gehäutet wurde
legte Kaspar mir einen Steinpilz
auf die Fensterbank, eine Taubenklaue
eine halbe Tube Putzi ließ er mir da,
und als Kaspar verschwand,
aß ich die Zahnpasta
allein in meinem Schrank.“

Und dann kommt die Großmutter und die vielen „Mütterchen“ im Dorf, die mit ihrem Aberglauben, mit ihren Ritualen und ihrer Religiosität die Kindheit, aber auch mit ihrer Zähheit, ausdauernd begleiten. Sie versuchen den Übermut des Kindes im Zaum zu halten mit ihren Warnungen vor diesem und jenem und ihren drohenden Prophezeiungen. Sie halten, grenzen aber auch ein. Sie predigen, aber können auch klug verzeihen.

„Ein Refrain in all ihren Liedern,
eine Lehre in all ihren Geschichten:
Man darf nichts zu sehr wollen,
man darf nie zu sehr lieben.
Weil einen der Tod sonst vorzeitig ereilt.“

Wir lesen von Hausschlachtungen, von toten Kätzchen und Rehkitzen in Hosentaschen, vom Kind in der Jauchegrube, vom in-der-Ecke-stehen im Klassenzimmer, von den Geheimnissen der Erwachsenen, vom Wahrnehmen und Lauschen, vom Innen und Außen.

Es gibt keine strikt chronologische Ordnung in diesem Zyklus, doch das macht überhaupt nichts aus. Alles ist verbunden und wiederholt sich. Die Wiederholungen mancher Zeilen haben etwas litaneihaftes, sind aber auch zuständig für den Sog der sich beim Lesen entwickelt. Sie sind starke Verbindungsglieder, auch um das Wichtige herauszufiltern und wieder etwas Ordnung herzustellen.

Der wichtigste Protagonist ist wohl die Natur. Das Kind zieht es von Anfang an in den Wald. Anfangs darf es nicht alleine, dann büxt es eben aus. Kaspar ist ja dabei. Durch die Natur mit ihrer Weite und Freiheit wird die Enge des Horts und der Schule ausgeglichen. Während die Großmutter das christliche Glaubensbekenntnis betet, findet die Heldin ihr Glaubensbekenntnis in der Natur. Seitenlang. Wunderbar.

„Ich glaube an das Flattern und Schwärmen,
das Taumeln über lichterfüllte Wiesen,
ich glaube an den Heiligen Geist
in den Schleifenflügeln der Schmetterlingspärchen,
an Löwenzahn, Vergissmeinnicht.“

Einen Break gibt es gegen Ende des Gedichts, als die Liebe sich zeigt. Die Heldin verliebt sich und ist damit wieder ganz ungeschützt. Wie der Natur gibt sie sich diesem Gefühl hin. Doch die Natur ist etwas Beständiges, etwas Tragendes, während die Verliebtheit eher den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Liebe, die Hingabe ist ein gefährliches Terrain. Auch das wissen natürlich die Mütterchen und sparen nicht mit Ratschlägen, die wiederum natürlich in den Wind geschlagen werden.

Letztlich hat mich dieser Zyklus so beeindruckt, dass ich viel Inspiration für mein eigenes Schreiben mit biografischem Hintergrund fand. Besser geht es nicht. Manche Passagen las ich wieder und wieder. Auch laut. Diese Poesie ist ganz eigen und stark und liebevoll zugleich. Romina Nicolić kann etwas, was ich enorm schwierig und auch enorm selten finde: Sie macht Autobiographisches zu Literatur und vor allem zu ausgezeichneter Lyrik, was ich noch seltener finde. Sie machte mich Staunen. Wie beglückt ich jedes mal bin solche Perlen in der großen Auswahl der Lyrik zu finden. Erfreut lese ich, dass es ein Auszug eines Langgedichts ist. Über eine Fortsetzung würde ich mich wahnsinnig freuen. Ein Leuchten! Große Empfehlung!

Der Band erschien im Wartburg Verlag/Edition Muschelkalk. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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