Zum ersten Mal findet die Buchmesse in Leipzig im April statt; vom 27. -30.4.23. Dieses Jahr gibt es hier auf dem Blog wieder einen Buchmesse-Special-Beitrag. Das liegt daran, dass das Gastland 2023 Österreich ist und ich die österreichische Literatur wirklich sehr schätze und bereits viele Bücher hier besprochen habe. Den Anfang macht die Lyrik, die erstaunlicherweise quantitativ tatsächlich einen sehr kleinen Teil auf meinem Blog ausmacht. Es folgt Teil 2 mit Prosa. Viel Freude beim Entdecken! Mit Klick auf das Foto kommt man zu meiner Besprechung:
Das ist die Wortlandschaft, die ich in Andreas Altmanns Gedichten im neuen Band Von beiden Seiten der Tür immer wieder aufs Neue finde. Sie weisen auf das Thema hin, dass der Dichter ver/bearbeitet und dessen er sich annimmt. Die Gedichte haben mich oft an Daniela Danz`Gedichtband Wildniß erinnert, aber sie sind ruhiger, sie halten mehr zusammen, als dass sie aufbrechen. Mitunter muss ich an Rilke denken (z. Bsp. bei unten abgebildetem Gedicht). Dass Altmann aus obigen Worten immer wieder neue Verse kreiert, die mich fassen und tragen, mich ankommen lassen, ist ein großes Glück. Ich habe den Band zur Hand genommen, als mal wieder kein (noch so guter) Roman mich erreichte und bin versunken und sofort getröstet worden. Immer wieder schön für mich, zu erleben, was Lyrik vermag.
„… ich denke ans sterben, und sehe das leben, wie es luftschlingen legt und mich näher an sich heranzieht, bis wir uns weit in die augen schauen und gleiches mit gleichem versehen.“
Altmann schreibt alle Gedichte durchgehend klein. Das fiel mir nur am Rande auf, denn die Form scheint mir hier eine eher kleine Rolle zu spielen. Hier wird nichts plakativ konstruiert oder zugespitzt. Das braucht es gar nicht, weil die Verse mit so viel Sprachgeschick und Rhythmusgefühl wie selbstverständlich ganz allein für sich wirken. Es braucht hier gar kein exaltiertes Gebaren, keine fremdsprachigen Einschübe und was sonst heute noch so gefordert wird. Hier passiert scheinbar wenig im Gedicht, äußerlich mag das stimmen. Doch die Zeilensprünge führen oft zu einer ganz neuen Wahrnehmung. Kurze Sequenzen in fast jedem Gedicht, die mich mitschwingen ließen, die mich beeindruckten: So möchte ich schreiben können! Und: Warum sind Altmanns Gedichte nicht bekannter in der sogenannten Lyrikszene? Zudem sie ja auch „Nature Writing“ vom Feinsten sind.
„kraniche rufen ihre echos zurück. wind färbt sich an den blättern. fenster sind versponnen. die nächte schlafen auf dem rücken.“
Schon am Cover zeigt sich die Richtung, die die Gedichte einnehmen. Sind es Glasscherben oder Eisschollen? Beides kommt in den Gedichten mehrfach vor. Umgeben vom Grün. Von Gewuchertem. Alteingesessenem. Es geht um die Natur. Und um die Zivilisation. Die Verbindung von beidem. Natur – Kultur. Es geht um alle Sinne. Es geht um Betrachtung, Beobachtung, Wahrnehmung. Es geht um die Verwandlung der Wahrnehmung der Natur in Verse. Einer Verzauberung. Die Verwandlung des Menschen durch die Natur und umgekehrt. Es geht um die Rückeroberung der Natur. Beispielweise eines Hauses, im Wald, am See, im Dorf. Es geht um Wachstum und Niedergang. Um Zuwachs und Verlust. Wie Türen und Fenster plötzlich Worte treiben, wie der Wald langsam aber stetig das Haus übernimmt. Es finden sich Wege durch die Natur, die direkt an den Vorgängerband „Weg zwischen wechselnden Feldern“ anschließen und diesen erweitern. Von den Feldern in die Wälder. Und es wird etwas persönlicher, wie ich finde, besonders im letzten Kapitel namens „Was bin ich für ein Mensch“, denn wir lesen von Kinderspuren, von Erinnerungen an die Kindheit, die Eltern, die Herkunft, das Erbe. Die Liebe. Und es geht ums „Stirb und werde“. Den ewigen Kreislauf.
„ich will die toten nicht mehr über brücken tragen. ihr eignes leben haben sie. ich bin zu müde für die lichter, die in ihnen brennen. ich werde wach und es ist tag. so einfach kann es sein.“
Und der Lyriker teilt seine weitere Kunst mit uns. Es gibt einen Bildteil im Band, in dem wir die selbst konstruierten „Fabelhäuser“ – Häuser der schlafenden Gedichte entdecken können, die in der Prignitz in einer kleinen Werkstatt entstehen. In der Einleitung wird dazu gesagt, dass sie zunächst in Phasen von Schreibpausen entstanden und dann ganz einfach als ergänzende „Handarbeit“ zum Schreiben weiter geführt wurden. Zwei Bilder habe ich hier eingefügt. Es ist leicht erkennbar, dass das Material unter anderem aus diversen Fundstücken besteht, ein Upcycling sozusagen.
Immer wieder ist die Sprache selbst Thema in den Gedichten. Wie sie sich gestaltet oder gestalten lässt. Wie sie sich in die Natur einfügt oder ausschert. Wie sie überhaupt entsteht. Wie sie aus Worten Bilder zaubert. Wie sie die Eindrücke verstärkt, sie verlebendigt, sie aufsteigen lässt. Ein Be-haust sein in der Sprache. Und auch, wie sich durch Worte schweigen lässt. Wie sie eine Melodie erfinden, wie sie singen.
„… dinge häuten sich mit den sätzen, die über sie gesprochen werden. und erkennen sich nicht wieder. aber das ist nur eine optische täuschung, über die ich hinwegsehe, egal, was noch kommt, oder gegangen ist.“
Einige Gedichte lese ich als Liebeserklärungen: an die Natur, an einen Menschen, ans Dasein, ans Leben. Und wer genau liest, dem Dichter zu-hört, dem öffnen sich Türen, vielleicht von beiden Seiten, vielleicht auf mehreren Ebenen.
Andreas Altmann, 1963 in Hainichen geboren, hat mehrere Lyrikbände veröffentlicht, alle im poetenladen. Erwähnenswert finde ich auch die schöne Ausstattung des Buches. Der Verlag nimmt feines wertiges Papier und Fadenheftung. Der Verlagstext zum Autor, dem ich vollkommen zustimme lautet:
„Wer, wie Andreas Altmann, mehr als ein halbes Leben lang gedichtet hat, muss sich und der Welt keine Kunstfertigkeit mehr beweisen. Vielleicht resultiert daraus die beindruckende Fähigkeit des unverstellten Sprechens. Dabei trifft mancher Satz den Leser wie ein Schlag. Andere Zeilen scheinen frappierend einfach und doch schwebt ein poetischer Zauber über ihnen.“
Mehr über den Autor und eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Zum Welttag der Poesie am 21.3. gibt es Lyrik, die ich in den letzten Jahren auf dem Blog besprochen habe. Da auch der Indiebookday vor der Tür steht, habe ich unabhängige Verlage ausgewählt. Diese Indie-Verlage, bieten eine bunte Buchvielfalt: Es lohnt sich sie zu entdecken. Man erkennt sie meist schon an der außergewöhnlichen Aufmachung und an der liebevollen Gestaltung. Sie überraschen mit noch unbekannten neuen Autoren oder haben sich den Wiederentdeckungen verschrieben oder füllen bestimmte Nischen. Viel Vergnügen!
Hier meine Empfehlungen/Lyrik aus jedem der sieben Jahre, die mein Blog Literatur leuchtet bereits besteht. Mit Klick aufs Bild gehts zur Besprechung:
2015: Tal Nitzán: Zu deiner Frage Verlagshaus Berlin2016: Carl-Christian Elze: Diese kleinen in der Luft hängenden bergpredigenden Gebilde Verlagshaus Berlin2017: Ragnar Helgi Ólafsson: Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können Elif Verlag2018: Andreas Altmann: Weg zwischen wechselnden Feldern Poetenladen2019: Eva Maria Leuenberger: dekarnation Literaturverlag Droschl2020: Ulrike Bail: Wie viele Faden tief Conte Verlag2021: Michael Stavarič: zu brechen bleibt die see Czernin Verlag2022: Kerstin Becker: Das gesamte hungrige Dunkel ringsum Edition Azur
„jemand verbrennt blätter mit gedichten auf dem dachboden des universums“
Nach „Mutantengarten“ folgt nun Volha Hapeyevas neuer Gedichtband „Trapezherz“. Die belarusische Autorin wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. In dem mehrseitigen Gedicht „Schwierige Arithmetik“ schreibt Hapeyeva über den Zustand ihres Landes Belarus, über die Einflussname der Regierung, über Zensur, über Russland, im Nacken sitzend. Geschickt schildert sie darin die unruhige Entwicklung des Landes, die die Menschen von alt bis jung miterlebten und erleben.
„denn der staat sorgt sich ja richtig um einen also hört er nicht auf, zeitungen und bücher zu überprüfen er löscht die liste der schädlichen berufe nicht er schafft die todesstrafe nicht ab und behandelt andersdenkende indem er sie zu einem spaziergang mit in den wald nimmt“
Mit ihren Gedichten ist es oft so eine Sache: Sie beginnen ganz einfach und harmlos und ich denke anfangs: „Hm, was wird das?“ und dann im Verlauf und vor allem gegen Ende, meist erst in den letzten Zeilen kommt dann der Knall oder zumindest der Grund, warum das Gedicht geschrieben wurde bzw. warum es eben nicht banal ist, wie man eingangs meinen konnte. So eine Form findet sich selten. Solch ein Schreiben öffnet womöglich die Lyrik auch für Menschen, die denken, sie mögen keine Gedichte oder können damit nichts anfangen. Und dann wieder sind es Gedichte, die sofort treffen, komplex und mit Tiefe.
„immer seltener möchte ich sprechen
es ist sicherer briefe an verstorbene zu schreiben
auf geschenke zu warten nur von mir selbst“
Da kommt ein Gedicht über eine Ente, die einen kalten Schnabel hat und einen kalten Fuß. (Ja, na und?) Und nach all der scheinbaren Harmlosigkeit kommt zuletzt der Hinweis, wie gefährlich es für Enten im Winter ist, weil der Mensch so gerne Daunenjacken trägt, um nicht zu frieren. Da geht es um Schuhkartons, die nach ihrem ersten eigentlichen ganz neue Leben führen, etwa als Aufbewahrungsort für Briefe oder Spielzeug. Da gibt es den typischen Geruch der Umkleidekabine im Schwimmbad. Da gibt es einen weichen Wollteppich, der sich nie erträumt hätte in einem Gedicht vorzukommen und tatsächlich dient er letztlich nur als Metapher. Ein weggeworfener Mantel wird mitgenommen, um ihm das Gnadenbrot zu geben. Doch der Mantel ist Realist und glaubt nicht an ein weiteres Gebrauchtwerden.
Tatsächlich kommen viele Herzformen in ihren Gedichten vor, wie man aufgrund des Titels ahnen konnte: da wird die Herzklappe überprüft oder das Herz macht Sprünge, wird auf der Zunge getragen und stürzt ab wie ein Trapezkünstler, ist aber selbst als Organspende noch wichtig. Auch als Metapher für die Liebe. Es geht um Beziehungen, oft nicht funktionierend und um die daraus resultierende Einsamkeit. Es geht um das Dichterdasein im Allgemeinen wie im Besonderen. Die Sprache wird betrachtet, durchleuchtet und auf links gedreht.
„jede sprache – eine erzwungene reise niemand sagt wo sie anfing jede sprache ist übersetzung jede sprache ist angst alleine zu bleiben
wo beginnt die einsamkeit ist sie schon ewig in unseren körper eingeschrieben die von geburt an versuchen, sie zu vergessen die seele ist nie allein aber was soll er tun – der arme körper“
Es gibt viele Liebesgedichte, aber kaum eines, in dem die Liebe gelingt. Es sind sinnliche Gedichte mit viel Körperlichkeit. Mit viel Weiblichkeit. Mit Sehnsucht nach Berührung. Wenn kein Mensch zur Verfügung steht, wird einfach der Wind benutzt, der die Kleidung den Körper berühren und streicheln lässt. Das zeugt auch von einer Unabhängigkeit, die stärkt, von einer Selbstermächtigung als Frau. Ich erlese eine Weichheit und dann wieder eine besondere Härte. Schon als Kind geht es darum geformt zu werden, möglichst einheitlich, ohne Eigenheiten.
„krankenschwestern und passanten nachbarn, lehrer, verwandte sie alle sagten etwas über meinen körper mein verhalten und meine gewohnheiten brachen mich in stücke, damit ich in ihre schubladen passe sodass ich bald nicht mehr wusste wer ich war“
Hapeyeva schreibt alle Gedichte in Kleinbuchstaben. Es sind kritische, mitunter politische Gedichte, sehr klar und direkt in der Botschaft. Aber sie sind auch dem Alltag nah, den kleinen Dingen. Sie sind wenig experimentell, kaum abstrakt, wenngleich manchmal spielerisch. Immer jedoch sind sie menschlich, nah und zugewandt.
Trapezherz erschien im Literaturverlag Droschl. Übersetzt aus dem Belarusischen hat es Matthias Göritz, ebenfalls Lyriker. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Eine Leseprobe gibt es hier hier.
FranziskaBeyer-Lallauret begegnete mir als Lyrikerin mit ihren Gedichten in der Literaturzeitschrift Wortschau, wo sie in einer Ausgabe Hauptautorin war und später auch in den sozialen Medien. Der Band Falterfragmente/ Poussière de Papillon entstand in Kombination mit Bildern der Malerin und Lyrikerin Johanna Hansen, deren Tischtuchmalerei mir einst auf fixpoetry begegnete und die mich gleich ansprach. Johanna Hansens Lyrikband „zugluft der stille“ habe ich bereits hier auf dem Blog vorgestellt. Nun begegnen sich beide Frauen in einem schon äußerlich schönen kleinen Band. Johanna Hansens Tuschebilder ergänzen und bereichern die Texte, die zudem noch zweisprachig französisch/deutsch abgedruckt sind. Die Zweisprachigkeit erklärt sich aus der Lebenssituation der Dichterin. Sie stammt aus Deutschland, aus einem kleinen Ort in Sachsen, lebt aber heute als Lehrerin in Frankreich in der Stadt Angers an der Loire.
„Mich hältst du immer noch für den Garten Und dich für den Wald Du kennst meine Finsternis schlecht Ich kann jetzt Hexenstich“
Da ich nicht französisch spreche, kann ich zu diesem Teil des Bandes nichts sagen. Hilfreich ist da aber das Nachwort von Patrick Wilden. Die Gedichte auf Deutsch kommen mir sehr spielerisch vor. Verschiedene Motive tauchen immer wieder auf, die sich auch in Märchen finden lassen. Der Mond, ja, sowieso, aber auch Fischschwänze kommen sehr häufig vor. Das Wasser, das Meer, der Fluss. Der Himmel, die Sterne. Teils irdisch, teils aber auch aus reiner Fantasie geboren. Die Sprache ist eine sehr sinnliche: Farben, Formen nehmen Raum ein.
Einerseits empfinde ich die Gedichte jeweils als eine kurze Geschichte. Andererseits schweben sie oft über den irdischen Geschehnissen. So wie Falter, Papillons. Zumindest lese ich einige mitunter als nicht greifbar, so, als würden sie jeden Moment davonfliegen. Irgendwie klingen sie auch lockend, verlockend. Der meisten lesen sich für mich wie Liebesgedichte. Das lyrische Ich will verführen. Alles scheint fließend; selbst die unterschiedlichsten Situationen finden sich losgelöst vom Ursprung zusammen. Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll, aber diese Lyrik strahlt für mich in Pastell-Farben. Farben der Liebe, die zärtlich aber auch leidenschaftlich sein können. Gedichte, die auf ein Du abzielen, auf ein Zusammensein, auf ein Uns, auf gemeinsame Gestaltung.
„Dilemma
Gegen die Kürze der Tage Treiben wir in Lichtrechtecken Silben aufeinander zu Durchs Wasser dem wir vertrauen Schicken wir ein Echoboot Das nicht mehr ganz blickdicht ist Als stünden wir uns bevor Ohne Geständnisse kreisen wir Auf zwei Meridianen Um kaltgewordene Gegenden Die wir weiter bewohnen werden Eine Wellenlänge liegt Zwischen den Umlaufbahnen“
Es gibt viele Zeilensprünge, die verschiedene Lesarten möglich machen. Sprichwörter fließen mit ein, werden aber nicht immer in ihrer eigentlichen Verwendung gebraucht oder durch andere Konstellationen verändert. Sie bereichern und täuschen aber auch, viele Zeilen sind witzig. Die Lyrikerin bereist mit ihrem lyrischen Ich auch die Heimat. Was sie dort findet, ist eine Vergangenheit, keine Zukunft. Der Ort, die Landschaft scheinbar unverändert; und doch fühlt es sich anders an. Verloren? Gewonnen hingegen das neue Dasein im anderen, im anderssprachigen Land, das die Möglichkeiten der Muttersprache ergänzt und ausdehnt. Hinter allen steckt, wie ich meine, eine sehr durchdachte Anordnung, eine genaue Komposition und sprachliches Feingefühl. Ich empfehle diesen Band besonders auch Kunstinteressierten, denn hier fügt sich eins so schön ins Andere.
Das Buch erschien im Dr. Ziethen Verlag. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
„…so gibt er mir nach und nach seinen vom andren ende zurecht gelegten schlaf drin liege ich falsch und wach“
Judith Zander wurde 1980 in Anklam geboren. Sie schreibt sowohl Lyrik als auch Prosa. Nun erhält sie für ihren neuesten Lyrikband „im ländchen sommer im winter zur see“ den Peter-Huchel-Preis 2023. Am 3.4.23 wird er verliehen. Auszug aus der Begründung der Jury:
„Judith Zanders Gedichtband „im ländchen sommer im winter zur see“ faltet in einem weiten literarischen Hallraum eine elegische Sprachlandschaft aus. In äußerst nuancierter Wortarbeit und mit hoher Musikalität schafft sie einen Raum für Erfahrungen des Ostens und übersetzt sie in eine allgemeine, kritische Reflexion von Erfüllung und Verlust. Ihr Band versammelt Liebes- und Naturgedichte, die immer auch in einem politischen Zusammenhang stehen. Sie spielt mit Sprachbildern, bricht verhärtete Redewendungen und stellt die damit einhergehenden Ordnungen infrage.“
Ich habe den Band gleich nach Erscheinen in die Hand genommen, brauchte jedoch mehrere Anläufe, bis sich mir die Gedichte erschlossen. Immer braucht es den richtigen Zeitpunkt für eine bestimmte Lektüre. Es ist ein Band, den man nicht mit ein mal lesen erfassen kann. Dazu ist er zu ausgeklügelt und sprachlich zu bewusst konstruiert. Hier ist nichts zufällig, alles gehört an seinen Platz. Dennoch wirken die Gedichte, vor allem auch wegen der vielen schrägen Zeilenumbrüche, mitunter sperrig. Ein Hin- und Herdenken wird beim Lesen gefordert. Oder aber man verlässt sich voll auf den Klang und gibt sich nur dem Rhythmus hin. Das funktioniert auch; vor allem, wenn man laut liest. Letztlich habe ich Zanders Lyrik lieb gewonnen. Und freue mich über die Vielfalt, die mir bei Lyrik fast größer erscheint als bei Prosa. Judith Zanders Lyrikband landete auch auf meiner persönlichen Bestenliste im Jahr 2022. Hier gehts zu meiner ausführlichen Besprechung:
Sehr gefallen hat mir auch ihr letzter Roman „Johnny Ohneland„: Welch ein Sprachfunkeln! Es war der erste Roman, den ich von ihr las. Ihre Sprache ist wunderbar. Es ist wieder einmal so ein Buch, bei dem für mich die Sprache vor der Geschichte selbst steht. Die Geschichte ist eine Familiengeschichte, eine Entwicklungsgeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte. Die Sprache spielt die Hauptrolle und wird zelebriert in jeder Hinsicht. Wir erleben die Heldin Joana Wolkenzin in ihrer kleinen Heimatstadt im nördlichen Ostdeutschland. Beginnend mit dem Kindergarten, noch vor dem Mauerfall, bei dem sie 10 Jahre alt ist, begleiten wir sie, ihren ein Jahr jüngeren Bruder Charlie und ihre Eltern durch die Zeit bis in ihr Erwachsenenalter. Die eigentlich spektakulären Dinge passieren in Zanders Roman weniger im Außen, als im Inneren der Heldin. Denn sie reflektiert und seziert fast pausenlos ihr Dasein und versucht sich ihr Alleinsein und ihr Anderssein zu erklären und zu akzeptieren. Für mich als Leserin ist das hochinteressant, denn die Sprache, die die Autorin dabei verwendet sprüht vor Wortspielereien und Metaphern (die bis auf sehr wenige Ausnahmen stimmig sind). Dabei entstehen oft extrem lange Satzschlangen, die mitunter mehrfaches Lesen nahelegen. Eine weitere Besonderheit ist die Du-Perspektive, in der das Buch geschrieben ist. Hier geht es zu meiner ausführlichen Besprechung:
Gerade habe ich noch einmal ins „manual numerale“, erschienen 2014, hineingeschaut. Gelesen habe ich es bereits vor meiner Bloggerzeit. Zwei passende Gedichte habe ich gefunden. Eins, was mich an aktuelle politische Zukunftsszenarien erinnert:
„Ach, was muß man oft von bösen zukünften hören oder lesen wo am wenigsten passiert was am meisten interessiert dieses nähret den verdacht zukunft sei nicht selbstgemacht sag in welchen massenküchen wird sie eingeweckt mit flüchen wer kauft sie bei Netto ein die geschmacksvereitlungspein und flößt ein sie seinen kindern um sich nicht allein zu hindern?
oder dieses Einsatzgedicht, welches ich mir beim Dichten in Zukunft immer vor Augen führe:
„heute schrieb ich dir ein langes mir gefallendes gedicht“
Alle Bücher von Judith Zander erscheinen beim dtv.