Jane Campbell: Kleine Kratzer Kjona Verlag


Was für ein Buch! Was für Geschichten! Ich bin restlos begeistert. Ein weiteres Jahreshighlight steht fest.
Schon bei der Durchsicht der Verlagsvorschauen fiel mir dieses Buch auf. Zunächst das Cover, aber dann eben auch der Verlagstext, der darauf hin wies, dass die Autorin mit Ende siebzig diese Erzählungen schrieb und eben auch die weiblichen Protagonistinnen alle alt sind. Überschwemmt von „jungen“, hippen, woken usw. Autor/innen, die mitunter wenig zu sagen haben, war dieses Buch DIE Entdeckung für mich. Das ist keine Mainstream- und keine Meinungsliteratur mit Filter. Hier geht es direkt und bildhaft sinnlich ums Altwerden und um die daraus oft entstehenden Widrigkeiten, die man als junger Mensch nie für möglich gehalten hätte. „Ungeschönt“ ist ja so ein seltsames Wort. Aber hier passt es einfach so gut. Ich bin dem Kjona Verlag wirklich dankbar, dass er dieses Buch der Engländerin Jane Campbell verlegt hat. Ältere/alte Autorinnen sind ja oft viel zu unsichtbar. Campbell war Psychoanalytikerin und schickte erst 2017 eine erste Geschichte an eine Zeitung und das war sofort ein Erfolg. Kein Wunder, denn auch die Sprache ist bemerkenswert.

„Außerdem, was war Alleinsein? Auf der anderen Seite eines Raum seins? Der anderen Seite einer Wand? Der anderen Seite eines Landes? Eines Kontinents? Ich las Larkins Gedicht >Best Society< und sprach mir selbst mit einem Schauer des Wiedererkennens die letzten Zeilen daraus vor.“

Bereits die ersten Zeilen finden mich und ich weiß sofort: das ist wieder eines dieser seltenen Bücher die mich auf ihre eigene Art direkt ansprechen und in mein System eindringen. Dieses Tiefer-gehen, dass macht für mich große Literatur aus. Es geht ausschließlich ums Altern, um die Einsamkeit, den Verlust der Eigenständigkeit, um die Angewiesenheit auf andere. Campbell lässt in ihre Geschichten philosophische Aspekte einfließen, schöpft aus der Literatur und ihrer Arbeit als Psychologin.

Ganz deutlich wird das in der Erzählung „Katzenbuckel“ (die auch die allererste Geschichte der Autorin war), in der eine alte Frau mit Katze zu ihrem Sohn und der Schwiegertochter ziehen soll, weil sie alleine nicht mehr zurechtkommt. Da die Katze, die die Frau heiß und innig liebt, jedoch nicht mit einziehen soll, wird vom Arzt als Antwort auf leichten Husten plötzlich eine Katzenhaarallergie diagnostiziert.

„Die Katze und ich lernen mehr und mehr über den Prozess der Enteignung. Das Altern wird oft als eine Phase der Kumulation dargestellt, der Anhäufung von Krankheiten, Beschwerden, Falten, aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen.“

In „Schopenhauer und ich“ bekommt eine Frau im Seniorenheim, deren geliebter kleiner Hund nicht mehr lebt, einen Assistenzroboter zur Seite gestellt. Sie nennt ihn Arthur (nach Schopenhauer) und merkt schnell, dass er sie eigentlich mehr behindert, als ihr nützt. Und so nimmt sie ihn nach etlichen philosophischen Überlegungen in einem dramatisch aufrührerischen Widerstandsakt in Form eines Absturzes vom Balkon mit in den Tod.

„Eigentlich sind diese Maschinen gar nicht für sie gedacht, wissen sie.“
„Sondern?“
„Es sind bloß Monitore, Bildschirme, um sie vierundzwanzigsieben zu beobachten. Die ganze Zeit. Und ihnen auch zuzuhören. Ich würde das jetzt nicht sagen, wenn die Monitore schon aktiviert wären.“

Weiter geht es mit einer sciencefictionartigen Geschichte, über einen Lockdown, in dem alten Frauen über siebzig , die vollkommen isoliert leben, sogenannte Phantasma geschickt werden, die sie kurzzeitig als Begleiter für jede Art von Tätigkeit nutzen können, bis hin zu körperlicher Nähe. Nie jedoch wissen diese, wann und was sie bekommen.

Männer sind in diesem Buch definitiv nicht die Helden: es sind hier zu Recht eindeutig die Frauen, denen die Autorin hier ein Denkmal setzt. So sehe ich in jeder einzelnen Geschichte deutlich die Stärke der Protagonistinnen, auch wenn es leidvoll endet. Diese Stärke, aber auch die Schwächen zeigen sich in den geschilderten kurzen blitzlichtartigen Rückblenden auf das bereits gelebte Leben.

Es gibt auch böse Geschichten, in denen sich die weiblichen Hauptfiguren plötzlich wehren gegen Bevormundung oder Vernachlässigung. Eine Frau tötet auf sehr skurrile Weise den bissigen Hund des Nachbarn, der seine Frau schlägt. Eine Frau verliebt sich zum Leidwesen der arroganten erwachsenen Söhne im Krankenbett in die junge schöne Krankenpflegerin. Es gibt aber vor allem tieftraurige Geschichten, die nicht selten mit dem Tod, mitunter mit dem Freitod enden, der ja dann aber wieder ein Zeichen der Befreiung aus der Entmündigung ist.

Kleine Kratzer“ ist ein absolut faszinierendes Buch. Ganz eigenständig; ich kann es gar nicht mit anderen Erzählungen vergleichen. Große Leseempfehlung! Vor allem auch für Frauen, die sich mit dem Älterwerden beschäftigen. Ein helles Leuchten!

Übersetzt hat Bettina Abarbanell.

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