Nadya Radulova: Kleine Welt, große Welt eta Verlag



Immer wieder stoße ich im eta Verlag, der sich auf osteuropäische Literatur spezialisiert hat, auf feine Lyrikentdeckungen. Die bulgarische Lyrikerin Nadya Radulova ist für ihre Lyrik mehrfach ausgezeichnet worden. Sie lebt in Sofia und ist auch als Übersetzerin tätig. Der zweisprachige Band bietet eine komplexe Vielfalt an Themen. Die Gedichte korrespondieren zudem mit den wundervollen Illustrationen der Hamburger Künstlerin Gaby Bergmann. Visuelle Übersetzung wird es im Buch genannt und das finde ich ganz stimmig. Aus dem Bulgarischen übersetzt hat es Henrike Schmidt.

Der Buchtitel trifft es genau – Kleine Welt, große Welt. Denn die Gedichte sind überall beheimatet in der Welt. Sie beleuchten alltägliche Kleinigkeiten, wie die großen Ereignisse, die auf alles ihre Auswirkung haben. Das erste Kapitel „Biographien“ erzählt vom Menschlichen. Und von der Natur der Dinge. Viele Bäume tauchen auf. erinnerte und gegenwärtige.

„Doch wer weiß schon, wie viele Träume es kostet
und wie viele Knoten Wind

die geflohenen Erinnerungen zu behüten,
die nicht wiederkehren,

und im Stamm die Augenhöhlen vergessen zu machen,
dass sie Fenster sind in einem Haus,

und unter der Brücke des alten so treuen Asts den letzten
Sommer vertrocknen zu lassen“

Erinnerungen an eine sommerliche Kindheit finden sich: „ich wollte die Schaukel sein“. Das Kind, dass auf der Schaukel am liebsten den Schwung um 360 ° geschafft hätte, aber bei so viel Mut verletzt wird. Und trotzdem immer weiter will. Die Gerüche, die Farben. Gummitwist – daran erinnere ich mich auch. Die Großmutter, die in ihrem alternden Körper einer Sandlilie gleicht – welch ein schönes Bild. Aber auch der seltsam traurige Verwandte, der sich an gar nichts mehr erinnert, der, wie man sagt, Glück gehabt hat, weil er „der einzige überlebende aus der familie“ ist.

Radulova erzählt in ihren Gedichten auch von den dunklen Seiten. Wir begegnen Armut und Hunger, Einsamkeit und Toten. Aber auch neuem Leben, dass all den Widrigkeiten trotzt. Sehr bildhaft empfinde ich viele Gedichte. Gesellschaftskritische Verse zielen auf Sichtbarkeit des Mangels, auf die gravierenden Unterschiede der Lebensverhältnisse. Sie zeigen die alltäglich erlebte Not, eine Angst, die so genau nicht zu benennen ist. Und doch spürt man durch die Zeilen mehr als beschrieben ist, die unterschwellige Atmosphäre schwer gelebten Lebens.

„…, jeden Morgen, ein und dasselbe
Entsetzen vor der anstehenden Begegnung
mit etwas Fremden, das schon so lange

so sehr meines ist, allein
die Zukunft wird zeigen, wie viel
ich ist, wie viel es …“


Und dann wechselt sie im letzten Kapitel „Verwandlungen“ ins Göttliche, vom Alltag ins Altertum. Es ist der explizit weibliche Blick auf diverse antike Frauenfiguren, der hier die Regie übernimmt. Radulova betrachtet die einzelnen Frauen aus der feministischen Perspektive unserer Zeit. Was macht die Stärke dieser Heldinnen bis heute aus? In ihren Gedichten schaut sie hinter die Fassade. Mitunter versetzt sie sie in unsere Zeit und lässt sie dort nach ihrem Ermessen handeln. Das ergibt oft skurrile Szenen. Wenn z. B. Philomela von häuslicher Gewalt spricht, sich die blauen Flecken überschminkt und Freundschaftsbändchen webt. Oder wenn Daphne als Lorbeerbaum erzählt, dass Bernini sie immerhin in Stein schlug, Niobe gar ein Stein wurde, Arachne, weil sie zu schön webte, zur Spinne werden musste, Io sogar zur Kuh. Und alles, weil sie nicht klein beigeben wollten, weil sie sich nicht in ihr Frauenschicksal fügen wollten. Radulova schreibt sie frei. Aus Pandoras Büchse entweicht eines Tages das geschriebene Wort:

„Eingesperrt lebe ich in einem dunklen Raum.
Einmal am Tag für ein paar Minuten lassen sie
einen Haarspalt Licht herein. Ich fange ihn
und schreibe an die Wand.

Falls sie jemals die Tür öffnen,
wird die Schrift entweichen,
ich werde im Licht zurückbleiben blind
und ohne eine Spur.“

Im Anhang finden sich allerlei Ergänzungen, die ich hilfreich fand. Zu den antiken Figuren, aber auch zu Bezügen aus Geschichte, Alltag oder spezifischer Sprache und zu den visuellen Übersetzungen, zur Herangehensweise der Künstlerin, aber auch der Übersetzerin.

Der Lyrikband erschien im eta Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke für das Rezensionsexemplar.

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