Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen Klett-Cotta Verlag


Es ist mein erster Roman von Raphaela Edelbauer. Beim Bachmann-Preislesen 2018 gefiel mir ihr Text bereits sehr. Und der neue Roman wurde als „Wien-Roman“ angekündigt; das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Lange schon habe ich den Roman beendet und es doch nie geschafft darüber zu schreiben. Ich frage mich, wie es kommt, dass sich manche Bücher, obwohl sie mir gefallen, so sperren, besprochen zu werden. Ich versuche nun endlich das Buch in meine Worte zu fassen. Bereits im Klappen-Werbetext heißt es, dass der Roman an einem einzigen Tag spielt, und das ist auch das Einzige, was mich an dem Roman störte: Ich hätte zu gerne gewusst, wie es mit den drei jungen Protagonist*innen weiter geht. Doch von vorne:

Es ist der Tag vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, der 31.7.1914. Hans, Knecht auf einem Bauernhof in Tirol zieht es in die große Stadt. Er hat eine seltsame „Gabe“: er kann Gedanken, die andere gleich aussprechen werden, bereits vorab hören. Um dieses Phänomen abklären zu lassen, flüchtet er eines Nachts nach Wien, wo er bei einer bekannten Psychiaterin vorstellig werden will. Hans ist eigentlich bürgerlicher Herkunft, muss aber nach dem Tod des Vaters die Schule abbrechen und als Stallknecht arbeiten. Gleichzeitig ist er aber begierig nach Bildung. Durch einen glücklichen Zufall findet er einen Mentor in Form des Vikars seines Dorfes. Durch ihn bekommt er Bücher, mit ihm spricht er darüber, Philosophie und auch Politik füllen die Gespräche.

In Wien angekommen, ist Hans überwältigt von der Stadt: die Lautstärke, die vielen Menschen, die Gerüche. Überfordert macht er sich auf die Suche nach der Adresse jener Psychiaterin und findet tatsächlich Gehör bei ihr. Am nächsten Tag darf er zu einem Gespräch kommen. Doch was macht er bis dahin? Zufällig begegnet er im Treppenaufgang Klara und Adam, die ihn in ein Gespräch verwickeln und ihn, als sie von seiner Situation erfahren gleich unter ihre Fittiche nehmen. Klara und Adam haben ebenfalls „Therapiestunden“ bei Helene, weil sie mit eigenartigen Talenten ausgestattet sind, wobei sie bei Klara bis weit ins Private hineinreichen.

„Hans war aber noch so in Klara investiert, dass er kaum bemerkte, wie sich der Hagere, den er vorhin im Warteraum versehentlich applaniert hatte, zwischen ihnen hindurchschlängelte und vor sie stellte.“

Hans ist fasziniert von der klugen, selbstbewussten Klara, die Mathematik studiert (aus dieser Disziplin stammt auch der wundersame Buchtitel) und ganz unkonventionell auftritt. Adam, der Sohn einer adligen Familie, der sich der Musik verschrieben hat, soll am nächsten Morgen in den Krieg ziehen. So will es der Vater. Zunächst erleben wir Adam bei einer Probe mit seinen Mitstudenten – hier wird gerade Schönberg entdeckt –, die allerdings eskaliert, weil es um die Teilnahme am Krieg zu Streitigkeiten kommt. Adam kommt mit blauem Auge davon und nimmt Hans und Klara mit zu sich nach Hause. Hans kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sie das palastähnliche Haus betreten. Hans darf baden und erhält frische Kleidung. Sie nehmen am Bankett teil, dass Adams Vater am Abend ausrichtet. Fast nur Offiziere mit ihren Frauen sind dabei. Es wird über die Notwendigkeit des Krieges diskutiert. Klara als Pazifistin kann das nicht mit anhören und mischt sich ein. Hans hält sich verlegen zurück.

„Nicht richtig, nicht richtig. Die Welt steht in Flammen, Menschenmassen werden sterben, und die Leute reagieren, als sähen sie einen spannenden Film, ein Unterhaltungsstück, wo man zur Zerstreuung die Partei eines Darstellers ergreift.“

Im Anschluss begleiten wir die drei durch das aufgewühlte nächtliche Wien. Wir gelangen durch Halb-, Dunkel- und Unterwelten und in Clubs und Varietés. Vieles ist Hans nicht geheuer – Frauen küssen Frauen, Männer tragen Frauenkleider – wenngleich er fasziniert ist von den Erlebnissen. Zum Schlafen kommen sie nicht. Es scheint, als würde die ganze Stadt dem Morgen zu fiebern. Überall auf den Straßen finden sich junge Männer, die sich freiwillig melden oder schon in Uniform stecken. Sie trinken sich Mut an, treffen ein letztes Mal ihre Mädchen und reden von nichts anderem als dem bevorstehenden Krieg. Fahnen werden geschwenkt, Lieder gesungen. Die Menschen feiern. Unverständlich. So unverständlich wie es mir auch aktuell erscheint, einen Krieg zu unterstützen.

„Nur die Fadisierten, die nie um ihr Leben kämpfen mussten, wollen in den Krieg ziehen, um einmal das Existenzielle zu erfahren. In den Vorstädten, wo das Wasser durchs Dach läuft, leben derweil die erzwungenen Materialisten.“

Da Klara am nächsten Morgen eine wichtige Prüfung hat, führt sie ihre Gefährten auch in ihr früheres Zuhause, ein Armenviertel, um dort Unterlagen zu holen. Mit ihrer Familie will sie nichts mehr zu tun haben. Auch hier ist Hans erstaunt, dass man hier in diesem Elend leben kann. Gegen Morgen machen sie sich auf den Weg zu Klaras Universität, doch es ist kaum ein Durchkommen, die Prüfung wird schließlich inmitten abgebrochen, da junge Männer in Uniform entscheiden, der Krieg sei wichtiger als eine Prüfung, zumal die einer Frau.

Ich finde Edelbauers teils exaltierte Art zu schreiben sehr stimmig für diesen Roman. Sie arbeitet die Unterschiede von arm und reich gut heraus, die letztlich auch heute noch so zu finden sind. Auch die seltsamen (Traum-)Sequenzen, die auf Unerklärliches Übernatürliches hinweisen, empfand ich passend. Vielfach wurde angemerkt, dass ihre Sprache zu altmodisch und überfrachtet sei, dass zu dieser Zeit keiner so geredet hätte. Für mich geht es sich aber gut zusammen aus, um es österreichisch zu sagen. Es geht sich alles aus. Auch die Geschichte, die natürlich offen lässt, wie es mit Hans weitergeht, ob er womöglich auch noch in den Krieg ziehen will. Nachdem die Psychiaterin Helene ihn seiner Illusionen bezüglich seiner besonderen Fähigkeiten beraubt hat, wäre auch das möglich … denn die Propaganda auf offener Straße ist immens. So gesehen, ist dieser Roman auch hochaktuell.

Der Roman erschien im Klett-Cotta Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Zum Indiebookday: Prosa aus unabhängigen Verlagen – Favoriten aus allen Blogjahren


Die unabhängigen Verlage, sprich Indie-Verlage, bieten eine bunte Buchvielfalt: Es lohnt sich sie zu entdecken. Man erkennt sie meist schon an der außergewöhnlichen Aufmachung und an der liebevollen Gestaltung. Sie überraschen mit noch unbekannten neuen Autoren oder haben sich den Wiederentdeckungen verschrieben oder füllen bestimmte Nischen. Nach Lyrik zum Welttag der Poesie nun Prosa zum Indiebookday.

Hier meine Empfehlungen aus jedem der sieben Jahre, die mein Blog Literatur leuchtet jetzt besteht: Mit Klick aufs Bild geht es zu meiner Besprechung

Foto/Logo: Mairisch Verlag und Karen Köhler/Website https://www.indiebookday.de/

Zum Welttag der Poesie – Lyrik aus unabhängigen Verlagen: Favoriten aus allen Blogjahren

Zum Welttag der Poesie am 21.3. gibt es Lyrik, die ich in den letzten Jahren auf dem Blog besprochen habe. Da auch der Indiebookday vor der Tür steht, habe ich unabhängige Verlage ausgewählt. Diese Indie-Verlage, bieten eine bunte Buchvielfalt: Es lohnt sich sie zu entdecken. Man erkennt sie meist schon an der außergewöhnlichen Aufmachung und an der liebevollen Gestaltung. Sie überraschen mit noch unbekannten neuen Autoren oder haben sich den Wiederentdeckungen verschrieben oder füllen bestimmte Nischen. Viel Vergnügen!

Hier meine Empfehlungen/Lyrik aus jedem der sieben Jahre, die mein Blog Literatur leuchtet bereits besteht. Mit Klick aufs Bild gehts zur Besprechung:

Volha Hapeyeva: Trapezherz Literaturverlag Droschl


„jemand verbrennt blätter mit gedichten
auf dem dachboden des universums“

Nach „Mutantengarten“ folgt nun Volha Hapeyevas neuer Gedichtband „Trapezherz“. Die belarusische Autorin wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. In dem mehrseitigen Gedicht „Schwierige Arithmetik“ schreibt Hapeyeva über den Zustand ihres Landes Belarus, über die Einflussname der Regierung, über Zensur, über Russland, im Nacken sitzend. Geschickt schildert sie darin die unruhige Entwicklung des Landes, die die Menschen von alt bis jung miterlebten und erleben.

„denn der staat sorgt sich ja richtig um einen
also
hört er nicht auf, zeitungen und bücher zu überprüfen
er löscht die liste der schädlichen berufe nicht
er schafft die todesstrafe nicht ab
und behandelt andersdenkende
indem er sie zu einem spaziergang mit in den wald nimmt“

Mit ihren Gedichten ist es oft so eine Sache: Sie beginnen ganz einfach und harmlos und ich denke anfangs: „Hm, was wird das?“ und dann im Verlauf und vor allem gegen Ende, meist erst in den letzten Zeilen kommt dann der Knall oder zumindest der Grund, warum das Gedicht geschrieben wurde bzw. warum es eben nicht banal ist, wie man eingangs meinen konnte. So eine Form findet sich selten. Solch ein Schreiben öffnet womöglich die Lyrik auch für Menschen, die denken, sie mögen keine Gedichte oder können damit nichts anfangen. Und dann wieder sind es Gedichte, die sofort treffen, komplex und mit Tiefe.

„immer seltener
möchte ich sprechen

es ist sicherer
briefe an verstorbene zu schreiben

auf geschenke zu warten
nur von mir selbst“

Da kommt ein Gedicht über eine Ente, die einen kalten Schnabel hat und einen kalten Fuß. (Ja, na und?) Und nach all der scheinbaren Harmlosigkeit kommt zuletzt der Hinweis, wie gefährlich es für Enten im Winter ist, weil der Mensch so gerne Daunenjacken trägt, um nicht zu frieren. Da geht es um Schuhkartons, die nach ihrem ersten eigentlichen ganz neue Leben führen, etwa als Aufbewahrungsort für Briefe oder Spielzeug. Da gibt es den typischen Geruch der Umkleidekabine im Schwimmbad. Da gibt es einen weichen Wollteppich, der sich nie erträumt hätte in einem Gedicht vorzukommen und tatsächlich dient er letztlich nur als Metapher. Ein weggeworfener Mantel wird mitgenommen, um ihm das Gnadenbrot zu geben. Doch der Mantel ist Realist und glaubt nicht an ein weiteres Gebrauchtwerden.

Tatsächlich kommen viele Herzformen in ihren Gedichten vor, wie man aufgrund des Titels ahnen konnte: da wird die Herzklappe überprüft oder das Herz macht Sprünge, wird auf der Zunge getragen und stürzt ab wie ein Trapezkünstler, ist aber selbst als Organspende noch wichtig. Auch als Metapher für die Liebe. Es geht um Beziehungen, oft nicht funktionierend und um die daraus resultierende Einsamkeit. Es geht um das Dichterdasein im Allgemeinen wie im Besonderen. Die Sprache wird betrachtet, durchleuchtet und auf links gedreht.

„jede sprache – eine erzwungene reise
niemand sagt wo sie anfing
jede sprache ist übersetzung
jede sprache ist angst
alleine zu bleiben

wo beginnt die einsamkeit
ist sie schon ewig in unseren körper eingeschrieben
die von geburt an versuchen, sie zu vergessen
die seele ist nie allein
aber was soll er tun – der arme körper“

Es gibt viele Liebesgedichte, aber kaum eines, in dem die Liebe gelingt. Es sind sinnliche Gedichte mit viel Körperlichkeit. Mit viel Weiblichkeit. Mit Sehnsucht nach Berührung. Wenn kein Mensch zur Verfügung steht, wird einfach der Wind benutzt, der die Kleidung den Körper berühren und streicheln lässt. Das zeugt auch von einer Unabhängigkeit, die stärkt, von einer Selbstermächtigung als Frau. Ich erlese eine Weichheit und dann wieder eine besondere Härte. Schon als Kind geht es darum geformt zu werden, möglichst einheitlich, ohne Eigenheiten.

„krankenschwestern und passanten
nachbarn, lehrer, verwandte
sie alle sagten etwas über meinen körper
mein verhalten und meine gewohnheiten
brachen mich in stücke, damit ich in ihre schubladen passe
sodass ich bald nicht mehr wusste
wer ich war“

Hapeyeva schreibt alle Gedichte in Kleinbuchstaben. Es sind kritische, mitunter politische Gedichte, sehr klar und direkt in der Botschaft. Aber sie sind auch dem Alltag nah, den kleinen Dingen. Sie sind wenig experimentell, kaum abstrakt, wenngleich manchmal spielerisch. Immer jedoch sind sie menschlich, nah und zugewandt.

Trapezherz erschien im Literaturverlag Droschl. Übersetzt aus dem Belarusischen hat es Matthias Göritz, ebenfalls Lyriker. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Eine Leseprobe gibt es hier hier.

Eine kurze Leseprobe der Dichterin:

Heidi Furre: Macht Dumont Verlag

Foto gemeinfrei: pixabay Mond, Niki de Saint Phalle, Giardino dei Tarocchi

Die Norwegerin Heidi Furre hat einen bemerkenswerten Roman über ein schweres Thema geschrieben. Was mich daran vor allem überzeugt hat, ist die Form und die Sprache, die sie dafür wählt. Zudem schafft sie es auf nur 170 Seiten das Thema derart komplex zu gestalten, dass es einen tiefen Eindruck hinterlässt. Und nicht zuletzt ist es das Auftauchen der Künstlerin Niki de Saint Phalle und ihr selbst gestalteter Garten „Giardino dei Tarocchi“ in Italien an der Grenze zwischen Toskana und Latium, der die Geschichte zu einem positiven Ende hinführt. Mit der Künstlerin habe ich mich selbst schon manches Mal beschäftigt – leider war der Garten jedes Mal geschlossen, wenn ich in der Toskana war.

Inhaltlich geht es um eine Vergewaltigung. Scheinbar ganz assoziativ in teils kurzen Sequenzen erzählt die Autorin die Geschichte der Protagonistin nach dem „Vorfall“, wie sie es oft nennt. Denn allein das Wort auszusprechen, scheint eine große Hürde. Es würde dadurch deutlich, dass es wirklich passiert ist. Denn die Hauptfigur wünscht sich nichts sehnlicher, als das Geschehnis auszublenden, zu verdrängen, einfach normal weiterzuleben, was sie letztlich auch tut. Für sie ist es ein Albtraum Opfer zu sein und immer als „Vergewaltigte“ gebrandmarkt zu sein. So geht sie auch nicht zur Polizei, um die Tat anzuzeigen und nimmt auch keine psychologische Hilfe in Anspruch.

„Was mir Angst bereitet, ist der Gedanke, in diesem andächtigen Gerichtssaal zu sitzen, unter diesen hochgebildeten Menschen mit Geld und Macht und all dem. Und sie dann sagen hören, das alles sei nur eine Lüge. Alles, was sie gesagt haben, ist erlogen. Er hat es nicht getan.“

Erzählt wird aus der Sicht der Frau viele Jahre später. Liv, Mitte 30, ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder und arbeitet als Krankenpflegerin. Ihr Mann Terje taucht selten auf, doch die Kinder, vor allem der erstgeborene Sohn Johannes spielen eine wichtige Rolle, da er sie immer wieder an ihre Körperlichkeit erinnert und sie besonderen Wert darauf legt, dass er frei und ohne Ängste aufwächst, dass sie ihren Kindern die Sicherheit geben kann, die ihr so oft fehlt.

Von der tatsächlichen Tat erfahren wir erst gegen Ende des Buches, was stimmig ist. Vorher wird erzählt, was die Tat aus der jungen Frau gemacht hat, die nie Opfer sein wollte und immer selbst Macht darüber haben wollte. doch auch fünfzehn Jahre später ist nichts vergessen. Alltägliche Situationen lassen das traumatisierende Ereignis immer wieder auftauchen. Das können Kleinigkeiten sein, wie ein Geräusch, ein Duft oder aber der Routinebesuch bei der Frauenärztin. Schnell erfahren wir auch, dass die Frau kaum ohne Medikamente auskommt. Schmerzmittel, Schlaftabletten oder Tranquilizer sind immer zur Hand.

„Alles war in bester Ordnung, niemand hielt mich an oder konnte mir ansehen, was passiert war. Alles normal. Es war völlig normal, vergewaltigt zu werden, ich hatte keine zerzausten Haare oder Blutergüsse. Eine Vergewaltigung war klein, sie passte genau in meinen Körper. Ich würde es aushalten, es mit aller Macht hinkriegen, weiterzulaufen. Mit aller Macht und aller Macht und aller Macht.“

Liv kommt an die Medikamente an ihrem Arbeitsplatz, einem Pflegeheim. Manchmal reicht es schon, sie in der Nähe zu wissen. Als eine neue Patientin aufgenommen wird, deren Bruder, ein bekannter Schauspieler, sie regelmäßig besucht, wirft das Liv wieder in die Vergangenheit zurück. Denn der Schauspieler stand vor längerer Zeit wegen einer Vergewaltigung vor Gericht und wurde frei gesprochen. Sein Auftauchen im Heim wird zum regelmäßigen Trigger für Livs Trauma. Wie sehr sie sich dadurch wieder mit den eigenen Erlebnissen auseinandersetzt, merkt man beispielsweise daran, dass sie akribisch den Schauspieler mittels Internet durchleuchtet, alles zu seinem Gerichtsprozess liest und sich ausmalt, wie es bei ihrem eigenen Prozess gewesen wäre, hätte sie den Mann damals angezeigt. Dabei geht sie soweit, sich auszumalen, welche Kleidung, welches Make up sie vor Gericht tragen würde. Es geht immer darum, nicht wie ein Opfer auszusehen. Generell dreht sich bei Liv sehr viel um das Äußere, sie kauft teure Markenkleidung, geht oft ins Fitnessstudio, geht regelmäßig ins Spa um sich mit Botox die Falten wegspritzen zu lassen. Es scheint mir wie ein Davonlaufen, um sich nicht mit dem inneren Zustand auseinander zu setzen. So wechselt sie immer wieder von Stolz bis zur Selbstverurteilung. Redet sich den Vorfall mitunter klein: wie vielen anderen Frauen ist es schließlich auch passiert? Oder gibt sich selbst die Schuld. Sie hätte viele Male anders entscheiden können und dann wäre es nicht passiert.

„Meine Mauer besteht nicht nur aus Tabletten. Sie besteht aus Ritualen und Regeln. Meine Klamotten sind ein Panzer. Wie bei Kindern die sich als Piraten, Prinzessinnen und Feuerwehrleute verkleiden. Sie verkleiden sich, um keine Kinder mehr zu sein, so wie ich mich verkleide, um keine Vergewaltigte mehr zu sein.“

Furre bringt alle Aspekte stimmig ein in diesen Gedankenstrom der Hauptfigur. Ich war erstaunt, in wie viele Richtungen Livs Gedanken gingen, auf welche Weise sie innerlich mit sich verhandelt und wie sie schließlich langsam aktiver wird und damit wieder mehr sie selbst. Beispielsweise spricht sie den Schauspieler direkt auf seine Tat an, ohne jedoch Antwort zu bekommen, sie fährt mit dem Bus zum Haus ihres Vergewaltigers und erzählt es dem Nachbarn. Schließlich kann sie es sogar ihrem Mann erzählen. Das ist die einzige Szene, die mir etwas zu wenig ausgearbeitet ist.


Und eine weitere große Veränderung bewirkt die Entdeckung der Künstlerin Niki de Saint Phalle, die erst sehr spät über ihre Vergewaltigung reden konnte und in ihrer Kunst mit verarbeitete. Deshalb das Vorsatzblatt des Romans mit der schießenden Niki. Liv beschäftigt sich mit ihrem Werk und ist beeindruckt von ihr als Frau und Künstlerin und fliegt schließlich mit einer Freundin, die ebenfalls Künstlerin ist, nach Rom und von dort aus in den Giardino dei Tarrocchi. Auf dieser Reise findet Liv ein Stück weit zu sich selbst. Große Empfehlung für dieses vielschichtige Buch! Leises Leuchten!

Der Roman erschien im Dumont Verlag. Übersetzt aus dem Norwegischen hat es Karoline Hippe.

Zwei weitere sehr unterschiedliche Romane zum Thema hier bereits besprochen:

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben Zsolnay Verlag


2019 hat sie mit einem starken Text den Bachmannpreis gewonnen. Dann kam ihr Roman Ich an meiner Seite“ und mit dem neuen Roman „Wovon wir leben“ hat die Österreicherin Birgit Birnbacher, wie ich finde, einen noch besseren Roman geschrieben. Schon bei den ersten Zeilen merke ich, das ist ein geerdeter Text, der ist wunderbar bodenständig, wenngleich gedankenvoll klug und mitunter auch sehr witzig und unverblümt direkt. Es braucht keine Großstadt, keinen Mainstream-Inhalt, keine woken Themen, keine formelle Außergewöhnlichkeit, um einen richtig guten Roman zu schreiben. Den Zauber dieses Textes macht für mich ein richtig gutes Händchen für Sprache, ein tiefes Verständnis für Menschen, Lebenserfahrung und ein sicheres Reflexionsvermögen aus.

Dass Birnbachers Romane von ganz normalen Menschen mit all ihren Fehlern handeln, gefällt mir und nimmt mich sofort für den Text ein. Bereits der Titel weist darauf hin, worum es haupt- und nebensächlich geht: Wovon wir leben. Physisch und psychisch. Was brauchen wir, um ein gutes, womöglich ein glückliches Leben zu führen? Warum geht es bei manchen Menschen leichter, bei manchen schwerer, das Leben? Was baut uns auf? Oder wer? Wie wichtig ist das, was wir tun? Unsere Arbeit? Und was ist die richtige Arbeit für uns? Ist Beruf Berufung? Oder geht es vor allem darum Geld zu verdienen? Und was wenn durch Krankheit die Arbeit nicht mehr getan werden kann? Was, wenn man die Chance bekommt, ein Jahr ein Auskommen zu haben und nicht arbeiten zu müssen? Arbeitet man trotzdem?

Anhand von Julia und Oscar, den beiden Hauptfiguren spielt die Autorin das ganz wunderbar durch. Julia, Ende 30, Krankenschwester verliert ihre Arbeit, weil sie aufgrund von Unachtsamkeit einen Fehler gemacht hat, mit weitreichenden Folgen. Aufgrund dessen wird sie selber krank, wird aus der Bahn geworfen, bekommt keine Luft mehr, muss wieder neu lernen durchzuatmen.

„Mit jedem eingetragenen Häkchen in die Datenmaske, jedem abgearbeiteten Kreuzchen meiner Aufgabenliste wurde der Mensch vor mir abstrakter. Sein Mitteilungsbedürfnis, seine Sorgen oder Nöte waren auf einmal ein Extra, das eigentlich nicht mehr zum Auftrag gehörte.“

Sie fährt deshalb in die Heimat, von der Stadt ins Dorf, auf den Hof der Eltern, in der Hoffnung dort umsorgt zu werden. Doch schnell stellt sich heraus, dass auch dort alles ganz anders geworden ist. Die Fabrik, in der das halbe Dorf arbeitete, geschlossen. Der Vater hypochondrisch, die Mutter einfach weg. Nach Italien zu einem anderen. Für Julia gänzlich unvorstellbar. War die Mutter doch immer die angepasste, die alles beisammen hielt. Der Vater vollkommen verloren ohne die Frau. Der Vater aber auch mit einer Schuld, gegenüber dem eigenen Sohn, der im Heim lebt, und doch nie schuldbewusst.

„Der Vater fühlt sich nicht rücksichtslos. Er fühlt sich gar nicht. Er ist, wie seine Kultur ihn hervorgebracht hat.“

Bereits auf der Fahrt lernt sie Oscar kennen, der fortan „Der Städter“ genannt wird. Auch er wurde aus dem bisherigen Leben geschoben durch einen Herzinfarkt. Er sucht auf dem Land Erholung und findet sich ungewöhnlich schnell gut zurecht. Er hat für ein Jahr lang eine Art bedingungsloses Grundeinkommen gewonnen und kann sorglos tun, was ihm gut tut. Julia ist erstaunt, wie leicht bei ihm alles geht. Und anfangs auch neidisch. Bei ihr geht es um viel mehr. Um ein drohendes Berufsverbot und die schlimme Vorstellung nun auf dem väterlichen Hof womöglich die Mutter ersetzen zu müssen.

„Mir fällt ein, wie ich jahrelang gerührt war, weil er (Anm: der Vater) einen Arm um Mutters Autositz legte, wenn er rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Ich musste ganz schön große werden, um zu kapieren, dass er ihren Sitz auch umarmt, wenn sie gar nicht dabei ist.“

Der Städter macht Julia nach und nach leichter. Zwischen Kartenspielen im Wirtshaus und der Betreuung einer krankenden Ziege entwickelt sich ein Miteinander, dass beiden gut tut, dass aber auch Fragen nach der Zukunft aufwirft. Wie das immer so ist. Denn für Julia scheint die neue Zukunft wieder in der Stadt zu beginnen – durch eine alte Freundin besinnt sie sich auf frühere Fähigkeiten und bekommt die Chance einen neuen Beruf zu erlernen – und der Städter hingegen entschließt sich zu bleiben. Für ihn scheint alles traumwandelnd leicht zu gehen, Julia spürt eine ewige Schwere und vor allem eine Unentschiedenheit, ein Hin- und Hergerissensein. Er als ehemaliger Büro- und Amtsmensch sucht die Begegnung und Gemeinschaft. Julia hat genug von Menschen und wünscht sich einen Bürojob.

„Wie er da so kniet, denke ich, dass er für das Glück wirklich begabt ist und ich genau gar nicht, obwohl wir wahrscheinlich gleich viel Glück oder Unglück haben, nur dass es ihm überwiegend freudig gleichgültig ist und ich auch an guten Tagen von einem anderen spezifischen Gewicht bin, mich fürchte, hässlich fühle oder schäme, irgendetwas ist da immer.“

Als Julias Entscheidung schon fast getroffen ist, verletzt sich der Vater und muss versorgt werden. Hat er es absichtlich getan, um Julia zu zwingen zu bleiben und ihn zu versorgen? Wie entscheidet sich Julia? Lässt sie sich erpressen? Wird sie die Ersatzfrau? Ist Familie wichtiger als der Job? Reicht ihre Energie, ihr Durchsetzungsvermögen, um ihren eigenen neuen Weg unbeirrt weiter zu gehen? Hilfe kommt aus unerwarteter Richtung. In dieser letzten Phase des Romans zeigt sich für mich das Thema Feminismus eleganter, geistreicher und zugleich kraftvoller, als das in den derzeitigen oft plakativ unter der `Feminismus-Keule` geschriebenen Romanen der Fall ist.

Dieser Roman ist durchweg gelungen bis hin zum passenden schönen Cover und eines meiner Highlights des bisherigen Lesejahres. Helles Leuchten! Große Empfehlung!

„Wovon wir leben“ erschien im Zsolnay Verlag im Hanser Verlagshaus. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.