Tom Saller: Ich bin Anna Kanon Verlag


„Ist es nicht immer das vermeintliche Paradies der Kindheit, in dem der Baum der Erkenntnis wächst?“

Der Autor Tom Saller ist selbst Psychotherapeut und schreibt in seinem neuen Roman „Ich bin Anna“ über Sigmund Freuds 1895 als jüngstes Kind geborene Tochter Anna, die als einziges der Kinder ihrem Vater beruflich folgte. Er erklärt im Nachwort, wie er an das Schreiben herangegangen ist, wie nah er an der tatsächlichen Biographie Annas ist und wie viel auch Fiktion ist. Gleichzeitig schreibt er aber natürlich auch über den berühmten Erfinder der Psychoanalyse. Gleich eingangs möchte ich hier die einfallsreiche und bildschöne Covergestaltung rühmen, die auf mich als Bibliophile Eindruck gemacht hat.


Obwohl Anna im Vordergrund steht, schiebt sich doch der Vater immer wieder dazwischen. Auch ein Zeichen, wie nah Anna ihrem Vater stand und wie sehr er ihr Leben prägte. Saller beschränkt sich auf die wenigen Jahre 1917/1918, ganz kurz, aber ganz wichtig 1938, beginnend mit 1980, als Anna Freud in London einen Brief mit einer besonderen Todesnachricht erhält, der sie wieder in die Vergangenheit führt.

„Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zeigte meine Persönlichkeit eine Ambivalenz, die mich mein Leben lang begleiten sollte – wild und ungebärdig im Gegensatz zu brav und vernünftig.“

Anna ist die Tochter, die etwas aus der Rolle fällt. Sie wird sich immer an der schönen Schwester Sophie, zu deren Hochzeit sie nicht kommen darf, messen lassen müssen, die das Lieblingskind des Vaters ist. Auch zur gefühlsarmen Mutter hat Anna kein gutes Verhältnis. Sie hält sich bereits früh an den Vater, heiratet nicht, wird nach dem Studium Lehrerin. Sie lernt Lou Andreas-Salomé kennen und sie werden Freundinnen mit regem Briefverkehr. Sie interessiert sich für seine Arbeit und wird vom Vater schließlich durch Veranstaltungen und durch eine Lernanalyse mit einbezogen.

„Schreiben gibt Halt, verleiht Bedeutung. Materialisiert Gedanken und Gefühle und nicht zuletzt die Zeit, und so werden die Dinge gleichermaßen greifbar wie begreifbar.“

Freud hat einen Patienten, Stadlober, der im ersten Weltkrieg durch einen Senfgasangriff sein Augenlicht zeitweise verloren hat. Da herkömmliche Ärzte nicht helfen können, beginnt er mit der Gesprächstherapie. Anna erfährt vom Vater nach jeder Sitzung was passiert ist und entschlüsselt mit ihm gemeinsam den Fall. Durch diese Analyse entwickelt Freud nach und nach seine Idee des Todestriebs, Thanatos. Die Ergänzung zum Lebenstrieb Eros. Anna jedoch trifft sich heimlich mit Stadlober zu Spaziergängen und Gesprächen, was eigentlich völlig tabu ist. Sie ist sich selbst nicht im Klaren, was sie daran reizt. Nach einer Tuberkulose-Erkrankung wandelt sie die Treffen mit ihm in einen Briefverkehr um, den sie nach einiger Zeit schließlich auch beendet. Was Stadlober in eine heftige Krise mit Selbstmordversuch stürzt.

„Wie vermochte sich ein gewöhnlicher, friedfertiger Mensch unversehens in einen zum Töten bereiten zu verwandeln? Scheinbar ohne zu zögern von einer höheren psychischen Entwicklungsstufe auf eine frühere, primitivere zurückzufallen? Welche seelischen Kräfte waren da am Werk?

Freud ist naturgemäß wenig begeistert über Annas Verhalten, doch gibt es nach einiger Zeit des Grollens wieder das übliche Vertrauensverhältnis zwischen beiden. Anna wird immer mehr zur unverzichtbaren Hilfe des Vaters, wird selbst Analytikerin, praktiziert in den Räumen der Familie und wird zur Begründerin der Kinderanalyse. Gleichzeitig hat sie die Praxis des Vaters im Blick, der aufgrund einer Krebserkrankung immer weniger praktizieren kann. Anna entscheidet sich mit 30 Jahren für eine Beziehung zu einer Frau, mit der sie auch zusammenlebt. Nach dem Beitritt Österreichs zu Deutschland wird es schwieriger für die Freuds. 1938 kommt es zu mehreren „Besuchen“ der Nazis in den Räumen der Familie. Anna wird anstelle des Vaters zum Verhör in die Gestapozentrale der Deutschen im Hotel Metropol gebracht. Hier kommt es zu einer folgenschweren Begegnung aus der Vergangenheit …

Saller findet eine gute Mischung aus psychoanalytischem Geschehen und interessanten biographischen Begebenheiten auch sprachlich in die Zeit passend. Und er schafft es Anna Freud letztlich als ungewöhnliche und beeindruckende Frau ihrer Zeit zu zeigen, obwohl sie es als kränkelndes Nesthäkchen in der Familie schwer hatte, vom Vater sogar liebevoll(?) „mein schwarzer Teufel“ genannt wurde. Für mich hätte es gerne noch tiefer in die Therapie und die Theorie gehen können. Ich hätte auch gerne noch mehr über Annas weiteres Leben gelesen, aber darüber gibt es ja bereits viel Lesestoff.

Der Roman erschien im Kanon Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

2 Gedanken zu “Tom Saller: Ich bin Anna Kanon Verlag

  1. Was für ein interessantes Buch! Ich wollte schon immer mal etwas über Anna Freud erfahren, habe ihre theoretischen Texte konsultiert, aber die Kinder-Psychoanalyse lag mir dann initial doch zu fern. Das Buch scheint geradezu das gefundene Fressen für mich zu sein. Ich besorge es mir mal. Danke und schöne Zitate, die du ausgesucht hast! Viele Grüße!

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