
Der dritte Roman des Norwegers Tarjei Vesaas, der im Guggolz Verlag erscheint, ist gleichzeitig der am frühesten erschienene, nämlich 1940. „Die Vögel“ erschien zuerst 1957, „Das Eisschloss“ 1963. Und tatsächlich ist es mein Gefühl, dass Vesaas bei „Der Keim“ noch nicht auf der Höhe seines Schreibens ist. Jedenfalls, gleich vorneweg, kommt dieser Roman qualitativ bei weitem nicht an die beiden anderen heran. Mag sein, dass das nur ein subjektives Gefühl meinerseits ist, denn ich liebte das Geheimnisvolle, mitunter mystisch Spirituelle der beiden anderen Geschichten. Vielleicht liegt es daran, dass mir die Geschichte hier nun doch allzu sehr als Lehrstück erscheint und mehr Wert auf den Inhalt, als die Sprache legt.
Zum Inhalt: Auf einer kleinen Insel vor der norwegischen Küste kommt ein fremder Mann an mit dem Boot. Andreas Vest ist auf der Suche. Er ist traumatisiert durch eine Explosion in der Fabrik, in der er angestellt war, bei der er mit nur wenigen anderen überlebte. Nun flieht er vor sich selbst, scheint getrieben von der Suche nach etwas, was ihm wieder Halt gibt. Er begegnet einzelnen Personen, mit denen er kurz spricht. Man wundert sich über diesen Fremden. Er kommt am Hof von Karl Li vorbei, der mit seinen Obstgärten gute Geschäfte macht. Tochter Inga und Sohn Rolv arbeiten auf dem Hof mit. Rolv ist ebenfalls auf der Suche nach etwas neuem und studiert in der Stadt. Tochter Inga fühlt sich seither einsam. Als ihr der Fremde auf seinem Weg begegnet, glaubt sie in ihm etwas Besonderes zu sehen und sucht seine Gesellschaft. Das jedoch wird ihr zum Verhängnis. Sie wird von ihm ermordet. Genaueres darüber erfahren wir nicht. Warum sollte er sie umbringen? Sowieso kommt Andreas Vest zu kurz. Ich hätte gern mehr über ihn erfahren und fand ihn viel interessanter als die Inselbewohner.
„Viele von denen, die lebend davongekommen waren, hatten heile Nerven bewahrt. er nicht. Er war versehrt, ohne äußere Anzeichen, erfüllt von dieser rastlosen Suche nach Dingen, die er nie fand. Nach diesem Frieden, einem für ihn bestimmten, in dem sich alles vollenden konnte.“
Im zweiten Teil des Buches erleben wir, wie Rolv den davon gelaufenen Mörder fassen will. Es entwickelt sich eine Hetzjagd über die ganze Insel, an der letztlich fast alle abkömmlichen Inselbewohner teilnehmen. Durch Rolvs Rachepläne angestachelt kommt es auf dem Li-Hof zu einem Akt der Selbstjustiz. Der Haupttäter ist Rolv, viele der anderen haben mit zugeschlagen. Danach folgt sehr ausführlich der für mich wirklich zu lang geschilderte Prozess, wie die Dorfbewohner mit der Schuld umgehen, wie sie einen Schuldigen suchen, nämlich Rolv. Und auch Rolv sucht die Absolution bei seinen Eltern, die sie jedoch nicht geben können. So kommt es zu einer schweigsamen Totenwache in der großen Scheune des Karl Li. Als es tagt, ist klar, dass Rolv sich der Polizei stellen wird, sich seiner Hauptschuld bewusst.
Ich stolpere oft über unrunde Sätze und kann mir nicht vorstellen, dass das an der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel liegt. Ein Beispiel:
„An der Wand stand der arme wüste Eber von der Dreckswüste und dem Bretterzaun. Rührte sich ebenso wenig. Grub in seiner Finsternis nach Gedanken.“
Entweder ist es ein Fehler und es sollte heißen „vor der Dreckswüste“. Solche Flüchtigkeitsfehler habe ich einige entdeckt. Oder es ist wirklich ein seltsamer Schreibstil. Ich bin über einige solcher Sätze gestolpert, die auf mich sehr ungeschickt wirken.
Tatsächlich finde ich auch den Aufbau des Romans teilweise sehr merkwürdig. Dieses ganze Erzählen über die Schweine, die durchdrehen und ausbrechen, die Sau, die die frisch geborenen eigenen Ferkel frisst. Soll das die folgende Geschichte vorwegnehmen? Soll das aufzeigen, dass der Mensch auch nur ein von der Natur getriebenes wildes Tier ist? Ständig wird auf den Abgrund und das unter der Erde hingewiesen. Auch die Figur der Kari Nes, einer Witwe, die Mann und Söhne auf See verloren hat und die die ganze Zeit über die Insel spukt und wirr redet, finde ich übertrieben in der Darstellung. Sie wird offenbar zunächst als große Unheilsbringerin gebraucht und dann nach der Hetzjagd als Schlichterin.
Das Buch scheint mir zu sehr mit der Moralkeule zu winken, scheint vor allem die Schuldfrage bei Selbstjustiz zu stellen und die Schuldfrage der vorherigen eigentlichen Tat ganz zu vergessen. Leider hat es mich dadurch viel weniger erreicht. Leider kein Leuchten so wie bei den beiden bereits hier besprochenen Bänden (siehe unten).
Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Sehr empfehlenswert für Leser, die noch mehr von Vesaas erkunden möchten, sind diese drei bibliophilen Bände im Schuber, erschienen im Kleinheinrich Verlag: http://kleinheinrich.de/buchkunst/buecher_autoren/vesaas.html