Helga Flatland: Die Resonanzen Ecco Verlag


Tatsächlich habe ich mir nach der Beschreibung des Verlags eine etwas andere (interessantere!) Geschichte vorgestellt. Gleich vorneweg: die Sprache machte mir Probleme und selten war mir eine Hauptfigur so unsympathisch wie die Mathilde in Die Resonanzen. Die Norwegerin Helga Flatland schickt ihre Heldin, die in Oslo als Lehrerin arbeitet aufs Land. Und zwar in eine traditionell bäuerliche Umgebung in der Telemark. Es ist die Zeit der „Pandemie“. Viele Großstädter zieht es aufs Land. Doch Mathilde hat einen ganz anderen Grund, die Stadt zu verlassen: Sie hatte eine Art Liebesbeziehung mit einem ihrer Schüler und die Geschichte kam ans Licht. Die Entlassung folgte unverzüglich. Mathilde, die bisher in ihrem Leben nur ungesunde Beziehungen führte, leidet unsäglich, da der wesentlich jüngere Jakob sich nach dem Schulabschluss von ihr abwendet. Ihre Bindungsprobleme scheinen entstanden zu sein, als sie ihre Eltern durch einen Unfall verlor, als sie sehr klein war. So mietet sie ein Häuschen auf dem Land mit dem Vorsatz einen Roman zu schreiben. Hier steht sie unter Druck, da ihre verstorbene Mutter eine erfolgreiche Schriftstellerin war.

In einem anderen Strang wird von der Bauernfamilie erzählt, die Mathilde das Haus vermietet. Hier hatte ich von Anfang an Probleme mit der Sprache, denn der Ich-Erzähler spricht in einem Dialekt, der in Schriftsprache wirklich furchtbar dümmlich rüberkommt. Möglicherweise funktioniert das in der Originalsprache Norwegisch besser, wo es ja außerdem den Unterschied zwischen Bokmål und Nynorsk gibt. In der Übersetzung wirkt es auf mich, als würde man die Bauernfamilie als ungebildet darstellen, was sicher nichts mit der Qualität der Übersetzung zu tun hat. Ina Kronenberger und Elke Ranzinger sind da ja sehr versiert. Jedenfalls waren mir diese Sequenzen dann zu holprig. Später fließen die beiden Stränge zusammen.

„Alle Küh sind nach Schauspielerinnen benannt, und obwohl die Namenswahl allein auf den Lieblingsfilmen von Andres basiert, find ich, dass die Küh oft mit der Zeit immer mehr wie ihre Namensgeberinnen ausschauen.“

Es geht mit Mathilde weiter, wie es mit Jakob aufgehört hat. Statt an einem Roman zu schreiben, beginnt sie mit den Söhnen der Bäuerin, Andres und Johs, zu flirten, nimmt einen Aushilfsjob als Vertretungslehrerin an, will sogar das Fiedel-Spielen lernen (was in der Familie Tradition ist und im Roman lang und breit erklärt und mit diversen Sagen aus der Region untermalt wird). Rennt ihnen teilweise hinterher in den Stall und auf die Felder. Und beginnt dann ausgerechnet mit dem Verheirateten eine Liaison (während der andere nach ihr schmachtet). Als der dann nicht mehr so will, wie sie es will, steckt sie kurzerhand die Affäre seiner Ehefrau. Es kommt natürlich zum Chaos und man kündigt Mathilde, die ganz stolz bis zur letzten Minute wohnen bliebt.

„Er ist kräftig und langsam, das ist beruhigend und gleichzeitig fürchterlich nervig. Er redet langsam, bewegt sich langsam, sogar sein Lachen kennt lange Pausen; in seiner Gegenwart werde ich zu einer Parodie meiner selbst, ich rede schneller, falle ihm ins Wort oder spreche seine Sätze zu Ende, werde nachlässiger in meinen Bewegungen, als ich es eigentlich bin, ungeduldig.“

Hier zeigt sich eine Art Clash of Culture zwischen der Großstädterin, gewohnt an urbanes Leben, die sich oft überlegen fühlt und herablassend tut, und dem sehr traditionell und familiär funktionierenden Bauernhof im dörflichen Milieu, das seine ganz eigenen Regeln hat, die von außen kaum durchschaubar sind. Hier verbreiten sich Neuigkeiten immens schnell und auch Mathildes Geschichte mit Jakob kommt hier an. Gut, dass Flatland das Ende vollkommen offen lässt. Einen guten Ausgang kann ich mir allerdings so gar nicht vorstellen.

Der Roman erschien im Ecco Verlag. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

2x Norwegen 🇳🇴: Inghill Johansen: Ein Bungalow STROUX edition / Roskva Koritzinsky: Keine Heiligen Karl Rauch Verlag


Zwei norwegische Autorinnen, die aus verschiedenen Generationen kommen und doch in aller Unterschiedlichkeit letztlich ganz ähnliche Themen für ihre Bücher wählten: Es geht ums Essentielle. Beide haben mir in ihrer leuchtenden Eigenart sehr gefallen.


Weder die 1958 geborene Inghill Johansen, noch der Verlag STROUX edition waren mir bisher bekannt. Umso mehr freue ich mich darüber, dass das kleine feine Büchlein den Weg zu mir gefunden hat. Auch haptisch einschmeichelnd ist es, was den besonderen Einband betrifft und damit den etwas langweilig klingenden Titel wieder ausgleichend. Johansen ist in Norwegen eine bekannte erfolgreiche Autorin.

„Es ist schwer zu sagen, ob ich in dem Haus wohne, oder das Haus in mir.“

Formell ist das Buch nicht ganz klar positioniert. Es ist eine Art Roman in kurzen Erzählsträngen aus Gegenwart und Vergangenheit. Es geht um eine Frau, die gleich eingangs beobachtet, wie ein Bagger ein Haus, einen Bungalow abreißt. Wie die Schaufel sich in Dach und Wände beißt und wie schwierig das Zuschauen ist, wenn doch dieses kleine Haus ein ganzes Leben beinhaltet. Die Erinnerungen steigen unweigerlich auf.

„Ich verlasse die kurzen Sekunden, die Tag heißen, die Stunde heißen, und versinke in etwas anderem, das nicht ist, das war, das früher heißt, das damals heißt, das einst heißt.“

Wie das Dach ausgewechselt wurde, preiswert aber unschön, so dass die Mutter niemals die Straße ging, von der aus man von oben aufs Haus blicken konnte, obwohl die Strecke viel kürzer wäre. Die Mutter, die sich nie so richtig in dieser Gegend zurechtfand, in die sie aber durch ihre Heirat verpflanzt wurde. Es findet sich ein Backrezept, dass aber doch nur der Mutter gelang. Die Tochter, die die Mutter pflegte. Die Ameisen, die sich Straßen durch das Haus bahnten. Dann die eigene Körperlichkeit, die umgebenden Strukturen. Die Arbeit als Lehrerin. Das Älterwerden. Die Freundschaften, die zufälligen Begegnungen und teils skurrilen zwischenmenschlichen Verstrickungen. Das alles übersetzt die Autorin in höchst lesenswerte Miniaturen, die von der Sprache leben.

Aus dem Norwegischen übersetzt hat Ina Kronenberger. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Auch der Band Keine Heiligen aus dem Karl Rauch Verlag wartet mit einem haptischen Einband und besonders schöner Aufmachung, wie farbige Fadenheftung, wertigem Papier auf. Es sind Erzählungen der 1989 geborenen Norwegerin Roskva Koritzinsky. Es ist ihr zweiter Erzählungsband und die Stories sind sehr skurril und gewagt, oft verwirrend und ratlos machend, jedoch scheint mir die Autorin auf dem Weg zum ersten Roman zu sein, was die Form der Erzählungen nahelegt. Es würde mich freuen.

Da ich die vorigen Erzählungen kannte, wusste ich in etwa, was mich erwartet, doch diesmal bewege ich mich auf noch dünnerem Eis. Lese Satz für Satz, wiederhole Passagen. Oft driften die Geschichten ins Märchenhafte, Fabelhafte. Einmal erkenne ich eine Geschichte über Krishna aus der indischen Mythologie. Oft weiß ich nicht, wohin mich die Autorin führt, was mich jedoch in keinem Augenblick der Lektüre stört.

Wir lesen von Inez und ihrem kleinen Bruder Martin, beide aus einer dysfunktionalen Familie, er bei Pflegeeltern aufgewachsen, später davon gelaufen. Und doch ist aus beiden „etwas geworden“. Immer bleibt jedoch das Gefühl des nicht gut genug sein.

„Die Gewissheit, dass die Dinge für andere Kinder so anders sein konnten, machte mich nervös, als hätte ich schon damals empfunden, dass es Dinge gab, die ich zu wehr wollte, mehr als die anderen, und dass es daher auch etwas geben musste, das mir in entsprechendem Grad fehlte.“

Es folgen weitere Protagonisten, Lilli, zum Beispiel, die von ihrer Freundschaft mit Lilian erzählt. Später taucht auch wieder Inez auf, als kleines Mädchen, Martin sowohl als Baby, als auch als Elfjähriger, als auch als zur See gefahrener junger Erwachsener. Es scheint, als verknüpft Koritzinsky die Stories miteinander, doch sind die jeweiligen Handlungsorte und -zeiten unklar.

„Die Krankheit war nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die Welt hässlich und bedrohlich war, […] sondern ganz im Gegenteil rührte der Schmerz daher, dass die Welt ein Wunder war, das ihr zwar auf der einen Seite zugänglich war, auf der anderen jedoch versagt blieb,“

Die Helden in diesem Buch sind jedoch alle irgendwie Verlorene, Einsame, Zweifelnde, Schwankende, Beschädigte. Es scheint, als müssten sie sich doppelt so viel anstrengen, wie alle anderen. Es scheint, als wählten sie Wege, die besonders steil sind. Sie sind mir sehr sympathisch in ihrer Haltlosigkeit.

„Der unheimliche Verdacht , dass sie nicht nur im Verborgenen lebte, sondern auch im Verborgenen dachte, im Verborgenen fühlte, im Verborgenen atmete. Dass sich alles in ihr auf kleinster Fläche abspielte: den armseligen Quadratmetern ihres Verstecks.“

Roskva Koritzinsky ließ sich inspirieren, wie man im Abspann nachlesen kann, von den unterschiedlichsten Autoren, wie etwa Clarice Lispector, Inger Christensen, Peter Handke, Samuel Beckett und ganz stark vom schwedischen Nobelpreisträger Harry Martinson. Beim Guggolz Verlag liegt von ihm ein Buch in Neuübersetzung vor – so schließt sich der Kreis.

Die sprachlich starken Erzählungen wurden von Andreas Donat ins Deutsche übertragen. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

1000. Blogbeitrag! Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter S. Fischer Verlag


Es ist mein 1000.Blogbeitrag und er geht an einen norwegischen Roman, der auch eines meiner Jahreshighlights ist.

In dieser Saison sind unglaublich viele Romane auf dem Markt, die sich mit einer Mutter/Tochter-Beziehung beschäftigen. Ich bin besonders froh über das Buch der Norwegerin Vigdis Hjorth. Denn in „Die Wahrheiten meiner Mutter“ wird ganz offen von einer dysfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehung gesprochen, ungeschönt und unversöhnlich, ohne Heile-Welt-Spiel, so wie es eben im richtigen Leben auch oft vorkommt, aber selten offen erzählt wird. Mir war die Hauptfigur sehr nah, was sicher zum besonderen Leseerlebnis beitrug. Aber nicht nur, denn Hjorths Art zu schreiben ist eine Art Bewusstseinsstrom, es ist ein innerer Monolog, der aber eben auch sprachlich beeindruckend gelungen ist.

„Fühle ich mich allein auf der Welt? Nicht so, wie sie es glauben oder sich vorstellen, denn ich habe mich immer allein auf der Welt gefühlt.“

Johanna, die mit 20 sowohl ihren Ehemann, als auch ihr Elternhaus verließ und mit einem jungen Mann in die USA zog und dort eine erfolgreiche Künstlerin wurde, kehrt mit um die 50 zurück nach Norwegen, weil in ihrem Heimatort eine Retrospektive ihrer Werke stattfinden wird. Zunächst ist sie mit dem Einrichten der Wohnung und des Ateliers beschäftigt, doch dann ruft sie spontan ihre Mutter an. Sie weiß nichts über sie, auch nicht über ihre jüngere Schwester, hatte seit ihrem Weggang keinerlei Kontakt, kam auch nicht nach Hause, als der Vater krank wurde und starb. Sie hatte selbst einen schmerzlichen Verlust zu ertragen, ihr Partner starb. Die Mutter reagiert nicht. Sie reagiert auf keinerlei Kontaktversuche. Zunehmend obsessiv, später auch verzweifelt beginnt die Tochter die Mutter zu belauern und zu verfolgen. Zwischendurch zieht sie sich immer wieder in die gemietete Hütte im Wald zurück, um durchzuatmen und Kraft zu schöpfen. Ihr ist anzumerken, wie schwer ihr diese Annäherung fällt, wie überlebenswichtig sie dennoch zu sein scheint.

„Das tat mir weh, ebenso dass sie ehrlich zu glauben schienen, solche Worthülsen würden mich dazu bringen, mein neues Leben aufzugeben, zurückzukehren zu emotionaler Erpressung, mich ihrer Form und und ihren Erwartungen anzupassen, was für mich einer Selbstverstümmelung gleich kam.“

Die Autorin erspart ihrer Heldin nichts. Sie schickt sie durch tiefste Tiefen der Gefühlswelt, sie lässt sie allein ausharren, bis sich Wege zeigen, Auswege mitunter, aber vor allem bis sich ein tiefes Verständnis der eigenen Empfindungen einstellt. Eine Akzeptanz, die aus Reflektion und Aktion entsteht und den Schmerz, der immer wieder da ist, erträglich macht. Eine Tochter, die alles alleine aufarbeitet, was zwischen ihr und ihrer Mutter über lange Zeit schief gegangen ist. Die sich nach langen Jahren endlich den Tatsachen stellt, dass die Mutter sie hat fallen lassen. Dass sie für ihre Mutter nicht mehr existiert. Eine Mutter, die sich weiterhin verschließt, die weiterhin verdrängt und auf ihren Ansichten beharrt.

„sie hinderte die Töchter in allem, was ihren eigenen Einfluss schmälern könnte, vor allem mich, weil sie merkte, dass ich mich entfernte und keinen Respekt zeigte, sie war aufdringlich und übergriffig, weil sie in Wirklichkeit ohnmächtig war, weil ich aufgehört hatte, mich für ihre Meinung über dies und das und jenes zu interessieren;“

Der Roman ist ungewöhnlich arrangiert. Auf längere Sequenzen, die oft in die Kindheit zurückführen, folgen kurze, mitunter nur Sätze, wie Gedankenfetzen. Auch als psychologische Selbstanalyse hochinteressant. Ich empfinde diese Form sehr stimmig und die Entwicklung extrem spannend. Nur nach und nach kann man sich ein Bild davon machen, was zwischen Mutter und Tochter geschah, vielfach nur fragmentarisch. Das Ende kommt wie ein Paukenschlag, aber ein heilsamer. Zumindest für die Tochter, die sich befreien kann nach einer monatelangen Tortur. Und wieder zurückkehrt in ihr Künstlerinnendasein, weitab von aller Enge und Not. Ein Leuchten!

Der Roman erschien im S. Fischer Verlag. Gabriele Haefs hat ihn aus dem Norwegischen übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar!

In Bälde ist auch ein Beitrag über die Mutter/Tochterbeziehung im Roman geplant. Stay tuned!

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Literaturnobelpreis 2023 für Jon Fosse!


Wie ich mich freue!

Ich bin schon seit sehr langer Zeit großer Fan des 1959 in Haugesund geborenen Norwegers Jon Fosse, habe nahezu alles von Ihm gelesen. Seine Romane, ebenso seine Stücke. Einzigartig! Ich erinnere mich noch mit welchen Gefühlen ich aus dem Theaterstück „Die Nacht singt ihre Lieder“ kam, obwohl das schon Jahre her ist. Im Moment warte ich auf die Übersetzung des dritten Bandes (gerade gesehen: erscheint 2024) der als Heptalogie angelegten Romanreihe nach „Der andere Name“ und „Ich ist ein anderer“, die bei Rowohlt erscheint. Und dann gibt es die wunderbaren bibliophilen Ausgaben mit Gedichten und Kurzprosa im Kleinheinrich Verlag, Münster. Fosses Sprache ist ungewöhnlich und eigen und vermutlich auch nicht jedermanns Sache. Für mich jedoch ist es eine zauberhafte Sprache, die scheinbar schlicht ist, aber durch ihre Wiederholungen und ihre Tiefe wirkt. Sie setzt die überwiegend melancholischen essentiellen Themen wie Einsamkeit, Tod, Liebe gerade richtig in Szene. Für mich sind seine Texte von spirituellen Erfahrungen durchdrungen und gerade das liebe ich.
Fosses Bücher wurden überwiegend von Hinrich Schmidt-Henkel vom Norwegischen ins Deutsche übertragen.

Seine Theaterstücke erhielten viele Preise, auch der Literaturpreis des Nordischen Rates wurde ihm verliehen. „Seit 2011 genießt er lebenslanges Wohnrecht in der „Grotte“, einer Ehrenwohnung des norwegischen Königs am Osloer Schlosspark“ Auszug aus der Biografie des Rowohlt Verlags. Soviel zur Wertschätzung der Schriftsteller in Norwegen. Und für die Knausgård-Fans: Fosse war sein Lehrer in der Schreibschule.

Mit Klick aufs Foto gehts zur jeweiligen Besprechung. Dort finden sich auch Zitate und Links zu Leseproben.

Bei Rowohlt:


Bei Kleinheinrich, wunderschön und bibliophil:


Ein schönes Interview mit dem Übersetzer gibts ganz aktuell beim Deutschlandfunk Kultur:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/literaturnobelpreis-2023-an-jon-fosse-gespraech-mit-hinrich-schmidt-henkel-dlf-kultur-c01ff20c-100.html

Trude Teige: Als Großmutter im Regen tanzte Fischer Verlag

Gleich nach Ulrike Draesners Roman über Gewalt gegen Frauen im Krieg folgt nun das Buch der Norwegerin Trude Teige, die eine Geschichte aus Sicht einer Norwegerin erzählt, die während der Besatzung einen deutschen Soldaten kennenlernt. Der Roman ist sprachlich viel leichter als Draesners, lässt sich trotz der Schwere des Themas schnell lesen. Die Geschichte ist nicht minder tragisch. Schon vor einiger Zeit gab es einen Roman, in dem sich eine junge Autorin mit dem Schicksal der kleinen mecklenburgischen Stadt Demmin befasste (Die Gespenster von Demmin). Auch Teiges Hauptfigur verschlägt es nach Demmin.

Tekla lernt den in Norwegen stationierten Deutschen Otto als „Pferdeflüsterer“ kennen und die beiden verlieben sich. Tekla folgt ihm ohne Wissen der Eltern nach Deutschland. Sie heiraten und Tekla verliert ihren norwegischen Pass. Ottos Familie besitzt ein Landgut in Demmin und dort wollen die beiden leben. Doch die leuchtenden Farben, mit denen Otto ihr Leben ausmalt, ergrauen. Die Deutschen haben kapituliert und die Russen sind durch Ostdeutschland gezogen und besetzen auch Demmin. Ottos Familie ist tot, das Gutshaus von Russen bewohnt. Nach und nach erfahren die beiden, welch schlimmer Massenselbstmord aus Angst vor den Gräueltaten russischer Soldaten in Demmin geschehen ist.

Als Otto und Tekla sich schließlich entscheiden ins westliche Deutschland zu fliehen, werden sie schnell von patrouillierenden Russen entdeckt. Sie erschießen Otto und vergewaltigen Tekla. Wie sich die schwangere Tekla alleine durchschlägt und wieder nach Norwegen zurück findet wird in oft unfassbar traurigen Rückblenden erzählt.

Juni, die ebenfalls schwangere Enkeltochter Teklas kommt nach dem Tod der Großmutter auf die kleine Insel, auf der diese zuletzt als Malerin lebte. Sie ist auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Mann und deckt hier nach und nach mithilfe eines Nachbarn große Teile der Geschichte auf. Die Geheimnisse, die die Großmutter hütete betreffen auch Juni und ihre Mutter. Sie wirken nach. Sie wirken auf alle folgenden Generationen nach, wenn sie nicht gesehen, ausgesprochen und aufgearbeitet werden. Juni hat in dieser Geschichte einen bedeutenden Schritt in Richtung Heilung der Traumata gemacht.

Die Journalistin Trude Teige hat die Geschichte anhand von wahren Geschehnissen angelegt. Sie recherchierte, hörte sich Lebensgeschichten an, besuchte die genannten Schauplätze in Deutschland. Ein wichtiges Zeitdokument ist das. Geschichte in Romanform erzählt wird leichter für alle zugänglich.

Als Großmutter tanzte“ erschien im Fischer Verlag. Übersetzt hat es Günther Frauenlob. Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eine weitere tolle weitreichende Besprechung gibt es auf dem Blog Zeichen & Zeiten.

Tarjei Vesaas: Der Keim Guggolz Verlag


Der dritte Roman des Norwegers Tarjei Vesaas, der im Guggolz Verlag erscheint, ist gleichzeitig der am frühesten erschienene, nämlich 1940. „Die Vögel“ erschien zuerst 1957, „Das Eisschloss“ 1963. Und tatsächlich ist es mein Gefühl, dass Vesaas bei „Der Keim“ noch nicht auf der Höhe seines Schreibens ist. Jedenfalls, gleich vorneweg, kommt dieser Roman qualitativ bei weitem nicht an die beiden anderen heran. Mag sein, dass das nur ein subjektives Gefühl meinerseits ist, denn ich liebte das Geheimnisvolle, mitunter mystisch Spirituelle der beiden anderen Geschichten. Vielleicht liegt es daran, dass mir die Geschichte hier nun doch allzu sehr als Lehrstück erscheint und mehr Wert auf den Inhalt, als die Sprache legt.

Zum Inhalt: Auf einer kleinen Insel vor der norwegischen Küste kommt ein fremder Mann an mit dem Boot. Andreas Vest ist auf der Suche. Er ist traumatisiert durch eine Explosion in der Fabrik, in der er angestellt war, bei der er mit nur wenigen anderen überlebte. Nun flieht er vor sich selbst, scheint getrieben von der Suche nach etwas, was ihm wieder Halt gibt. Er begegnet einzelnen Personen, mit denen er kurz spricht. Man wundert sich über diesen Fremden. Er kommt am Hof von Karl Li vorbei, der mit seinen Obstgärten gute Geschäfte macht. Tochter Inga und Sohn Rolv arbeiten auf dem Hof mit. Rolv ist ebenfalls auf der Suche nach etwas neuem und studiert in der Stadt. Tochter Inga fühlt sich seither einsam. Als ihr der Fremde auf seinem Weg begegnet, glaubt sie in ihm etwas Besonderes zu sehen und sucht seine Gesellschaft. Das jedoch wird ihr zum Verhängnis. Sie wird von ihm ermordet. Genaueres darüber erfahren wir nicht. Warum sollte er sie umbringen? Sowieso kommt Andreas Vest zu kurz. Ich hätte gern mehr über ihn erfahren und fand ihn viel interessanter als die Inselbewohner.

„Viele von denen, die lebend davongekommen waren, hatten heile Nerven bewahrt. er nicht. Er war versehrt, ohne äußere Anzeichen, erfüllt von dieser rastlosen Suche nach Dingen, die er nie fand. Nach diesem Frieden, einem für ihn bestimmten, in dem sich alles vollenden konnte.“

Im zweiten Teil des Buches erleben wir, wie Rolv den davon gelaufenen Mörder fassen will. Es entwickelt sich eine Hetzjagd über die ganze Insel, an der letztlich fast alle abkömmlichen Inselbewohner teilnehmen. Durch Rolvs Rachepläne angestachelt kommt es auf dem Li-Hof zu einem Akt der Selbstjustiz. Der Haupttäter ist Rolv, viele der anderen haben mit zugeschlagen. Danach folgt sehr ausführlich der für mich wirklich zu lang geschilderte Prozess, wie die Dorfbewohner mit der Schuld umgehen, wie sie einen Schuldigen suchen, nämlich Rolv. Und auch Rolv sucht die Absolution bei seinen Eltern, die sie jedoch nicht geben können. So kommt es zu einer schweigsamen Totenwache in der großen Scheune des Karl Li. Als es tagt, ist klar, dass Rolv sich der Polizei stellen wird, sich seiner Hauptschuld bewusst.

Ich stolpere oft über unrunde Sätze und kann mir nicht vorstellen, dass das an der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel liegt. Ein Beispiel:

„An der Wand stand der arme wüste Eber von der Dreckswüste und dem Bretterzaun. Rührte sich ebenso wenig. Grub in seiner Finsternis nach Gedanken.“

Entweder ist es ein Fehler und es sollte heißen „vor der Dreckswüste“. Solche Flüchtigkeitsfehler habe ich einige entdeckt. Oder es ist wirklich ein seltsamer Schreibstil. Ich bin über einige solcher Sätze gestolpert, die auf mich sehr ungeschickt wirken.

Tatsächlich finde ich auch den Aufbau des Romans teilweise sehr merkwürdig. Dieses ganze Erzählen über die Schweine, die durchdrehen und ausbrechen, die Sau, die die frisch geborenen eigenen Ferkel frisst. Soll das die folgende Geschichte vorwegnehmen? Soll das aufzeigen, dass der Mensch auch nur ein von der Natur getriebenes wildes Tier ist? Ständig wird auf den Abgrund und das unter der Erde hingewiesen. Auch die Figur der Kari Nes, einer Witwe, die Mann und Söhne auf See verloren hat und die die ganze Zeit über die Insel spukt und wirr redet, finde ich übertrieben in der Darstellung. Sie wird offenbar zunächst als große Unheilsbringerin gebraucht und dann nach der Hetzjagd als Schlichterin.

Das Buch scheint mir zu sehr mit der Moralkeule zu winken, scheint vor allem die Schuldfrage bei Selbstjustiz zu stellen und die Schuldfrage der vorherigen eigentlichen Tat ganz zu vergessen. Leider hat es mich dadurch viel weniger erreicht. Leider kein Leuchten so wie bei den beiden bereits hier besprochenen Bänden (siehe unten).

Eine Leseprobe gibt es hier. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sehr empfehlenswert für Leser, die noch mehr von Vesaas erkunden möchten, sind diese drei bibliophilen Bände im Schuber, erschienen im Kleinheinrich Verlag: http://kleinheinrich.de/buchkunst/buecher_autoren/vesaas.html

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter Büchergilde Gutenberg/Argon Hörbuch

„Nicht hier sein wollen und woanders nicht hinkönnen, auch das habe ich von ihr.“

Immer wieder habe ich von diesem Roman gehört; oft hieß es „Geheimtipp“ oder „Ganz besonders“. Ich bekam dann die schöne Ausgabe der Büchergilde als Geschenk, als ich gerade auch das Hörbuch entdeckt hatte. Und so habe ich sozusagen parallel gehört und gelesen und muss sagen, dass das zuhören wirklich eine Freude war, denn der österreichische Schauspieler Wolfram Berger interpretiert den Roman grandios. Es ist, als würde er die Geschichte aus seinem Gedächtnis heraus erzählen und nicht etwa ablesen, was die Perspektive der Ich-Form erleichtert. Durch seine Worte hindurch spürt man die Atmosphäre des Romans, man erlebt mit dem Helden mit; stimmig dazu auch die österreichische Tönung der Sprache.

Alois Hotschnig orientiert sich mit diesem Roman an der Biographie des Schauspielers Heinz Fitz. Er schreibt sich suchend und tastend um dieses Leben herum und mitunter auch sehr tief hinein. Dabei macht er stets klar, dass alles wahr oder eben auch fiktiv sein kann. Die wenigen wirklich sicheren Fakten, mit denen sich der Held Heinz zufrieden geben muss, führen dabei wie ein roter Faden voran. Schon als kleines Kind herrscht größtmögliche Unsicherheit, da Heinz der Sohn einer Norwegerin ist, die sich in der Besatzungszeit mit einem deutschen Soldaten „eingelassen“ hat. Die schwangere Gerd wird von ihm 1942 zumindest ein Stück weit in seine Heimat Hohenems in Österreich begleitet. Doch die weitere Reise ist von Unterbrechungen und Unrast geprägt. Nachdem der Sohn geboren ist, erleidet Gerd einen Zusammenbruch und kommt in eine Klinik. Dort wird sie auch gegen ihre Epilepsie behandelt, von der sie erst spät geheilt wird. Heinz wird, vermutlich, in einem Heim des Lebensborn untergebracht.

„Der Lebensborn war es, der meine Mutter mit mir im Bauch von Norwegen nach Hohenems heruntergeholt hat. Der Lebensborn war überall oder sollte überall sein, so war es gedacht und geplant, wo es diese Mütter und deren Kinder gegeben hat. Und doch wusste kaum jemand davon.“

Und so sehen sich beide erst nach vier Jahren wieder, als die Mutter ihn sucht und auf einem Bauernhof findet, wo er als Pflegekind lebte. Immer steht die Frage nach dem Vater im Raum, der nicht mit ihnen leben will und die Mutter, die oft glaubt, Heinz wäre als Baby vertauscht worden. Diese Frage nach der Identität verfolgt Heinz durch sein Leben. Die Mutter heiratet Fritz und bekommt zwei weitere Kinder, Fritz stirbt früh an einer Lungenkrankheit und Heinz muss bald für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Er arbeitet in einer Stickereifabrik in Lustenau. Als Kind erlebte er immer wieder die epileptischen Anfälle der Mutter und ihre Schwermut, die auch auf ihn überging. Als Zwölfjähriger wollte er sich bereits umbringen. Zum Glück traten immer wieder Menschen in sein Leben, die ihm Mentor und Freund wurden. So entdeckte er auch die Welt der Bücher, das Kino und schließlich das Theater, dass ihm nach dem Schauspielstudium zur Heimat wurde.

Erst sehr spät, mit 60 Jahren nimmt sein Vater durch die Stiefschwester Kontakt mit ihm auf. Ein vorheriger Versuch des Jungen scheiterte. Durch seine Stiefschwester und anderen entfernten Verwandten erfährt er dann nach und nach Fragmente seiner Geschichte, Wie es der Mutter ergangen ist, als sie in Hohenems in der Tür stand. Die „Norwegerin“, die Fremde mit dem Silberfuchs um den Hals und der falschen Religion. Immer mehr Puzzleteile setzt Heinz zusammen; es entsteht dennoch nur ein vages Bild. Ein Historiker interessiert sich dann für seine Herkunft als „Lebensborn“-Kind. Auch durch ihn finden wieder einige Teile des Puzzles ineinander. Viel später – Heinz ist Schauspieler und lebt mit vielen Tieren auf einem Hof –kommen dann noch Puzzleteile aus Norwegen, die ein Verwandter Gerds sammelte und nur durch einen glücklichen Zufall finden sie den Weg zu Heinz. Es sind Briefe der Mutter und der Eltern der Mutter und des Vaters, die wieder eine ganz andere Geschichte erzählen und die bisherige in Frage stellen.

„So vieles ist offen. Auch durch diese Briefe jetzt noch einmal neu. Wenn es stimmt, was meine Mutter in den Briefen erzählt, dann werde ich auch mit dieser zweiten Hälfte der Wahrheit leben wie mit der ersten bisher, im Wissen darum, dass eine ganze Wahrheit wohl nicht daraus werden kann.“

Dieses Zitat fast am Schluss des Romans zeigt die große Unsicherheit und auch Zwiespältigkeit auf, die in diesem Leben zu finden ist. Es ist eine Geschichte vom Versuch sich selbst besser zu verstehen und eine Mutter zu finden, die sehr wenig greifbar war. Noch weniger greifbar, der Vater. Und zum Glück gab es immer stützende Menschen, die zur rechten Zeit da waren und halfen dieses Leben leichter lebbar zu machen. Ich bin sehr angetan von diesem Buch. Hotschnig hat ein einfühlsames eindringliches Porträt eines Menschen geschrieben, der trotz aller Widrigkeiten seine Berufung fand, das Schauspiel. Und er hat an die Aktion „Lebensborn“ erinnert, deren Geschichte sicher auch noch nicht umfassend bekannt ist. Ein Leuchten für Buch und Hörbuch!

Das Buch erschien bei der Büchergilde, das Hörbuch bei Argon. Eine Hörprobe gibt es hier.

Jon Fosse: Ich ist ein anderer Rowohlt Verlag

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„Je est un autre.“ Arthur Rimbaud

Der zweite Band „Ich ist ein anderer“ (nach obigem Zitat von Rimbaud) von Jon Fosses Heptalogie schließt nahtlos an Der andere Name an, genau wie die Coverbilder (siehe oben). Als großer Fosse-Fan habe ich schon darauf gewartet und wurde natürlich nicht enttäuscht. Fosses unverwechselbare Sprache klingt für mich immer wie Poesie und führt mich in eine ganz andere Welt.

Das Buch beginnt mit genau den gleichen Zeilen, wie der erste Band und endet auch wie dieser: mit einem Gebet. Überhaupt spielt die Religiosität, der Glaube an Gott, wieder eine große, vielleicht sogar eine noch größere Rolle als in Band I. Es gibt fast keine Satzzeichen. Die Geschichte liest sich wie ein einziger großer Bewusstseinsstrom und wird geprägt von den in einander übergehenden fließenden Zeitsprüngen. 
Wir begegnen wieder Asle, dem Maler, der in einem alten Bauernhaus auf dem Land mit Blick auf einen Fjord lebt. An diesem Wintertag schläft er besonders lang, denn er hat einen anstrengenden Tag in der Stadt Bergen verbracht (Fosse nennt sie Bjorgvin nach dem alten Namen). Auch sein kleiner Hund Brage schläft lang und beide wollen nicht in die winterkalte Küche, um Kaffee zu kochen. 

Bis der Nachbar in der Tür steht, mit dem er ein freundschaftliches Verhältnis hat. Es ist die Adventszeit und er will wie üblich ein Gemälde als Geschenk für seine Schwester aussuchen. Asle steht auf und er entschließt sich noch am selben Tag erneut nach Bjorgvin zu fahren, um seine fertigen Bilder in die Galerie Beyer zu bringen für die jährlich vor Weihnachten stattfindende Ausstellung. Während der langen Fahrt auf der schneeglatten Straße beginnt Asle sich zu erinnern. Er denkt an den Jungen, der er einmal war, der mit seiner Mutter nicht zurechtkam. An die Teenagerzeit, als er sich von seinem naturgetreuen Zeichnen trennt und Bilder malt, die keiner versteht, die eben nicht „schön“ sind. Es sind innere Bilder, die sich ihm aufdrängen und gemalt werden müssen, denn sonst wird der Kopf immer voller und wirrer. Oft spielt Erlebtes eine Rolle, wie etwa der tragische frühe Tod der kleinen Schwester.

“ …und jetzt, denkt er, will er keine Bilder nach Fotos malen, von Haus und Hof, ja jetzt will er die Bilder wegmalen, die in seinem Kopf sind, aber er will sie nicht so malen, wie er sie sieht in seinem Kopf drin, denn etwas wie ein Leiden, wie ein Schmerz knüpft sich an jedes einzelne Bild, denkt er, aber auch eine Art Frieden, ja auch das, …“

Er wechselt auf das Gymnasium im nächstgrößeren Ort, um später die Kunsthochschule besuchen zu können. Vorher stellt er seine Bilder im örtlichen Jugendklub aus und hat großes Glück, dass ihn sein späterer Galerist dort auf der Durchreise entdeckt und ihm einige Bilder abkauft. Asle ist sehr froh darüber, so früh von zu Hause ausziehen zu können. Doch der Unterricht ist nichts für ihn. Ängste verfolgen ihn. Durch einen befreundeten Maler (Asle, sein Alter Ego) erfährt er von der Möglichkeit als besonders Begabter sofort auf der Kunstschule aufgenommen zu werden. Tatsächlich gelingt es ihm. Als er sich in Bjorgvin ein Zimmer ansehen will, trifft er in einem Café auf Ales, die ihn in ihren Blick bannt, ihn schließlich selbstbewusst anspricht und beide stellen fest, dass sie wohl gemeinsam zur Kunsthochschule gehen werden …

Ales kennen wir bereits aus dem ersten Band. Sie ist Asles Frau, die gestorben ist und um die er immer noch trauert, wenngleich er noch immer eine ganz besondere Verbindung zu ihr hat. Oft scheint sie neben ihm im Sessel zu sitzen, wenn er an seinem angestammten Platz über den Fjord schaut oder den Rosenkranz nimmt, um zu beten. Die Nähe zu Gott und das Beten hat sie ihm nahe gebracht. Er, der lange Zeit dem Alkohol verfallen war, hat durch sie und den Glauben geschafft davon los zu kommen.

“ … und ein Bild muss geschehen, es muss von selber kommen, wie ein Geschehnis, wie ein Geschenk, ja ein gutes Bild ist ein Geschenk, oder eine Art Gebet, es ist sowohl Geschenk als auch ein Dankgebet, denke ich und ich hätte nie willentlich ein gutes Bild zustande bringen können, denn Kunst geschieht, Kunst ereignet sich, so ist es einfach, …“

Was neu ist, sind die Gedanken, die immer wieder aufkommen: Asle mag nicht mehr malen. Es scheint, als hätte er alles aus sich herausgemalt, was zu malen war. Noch sind diese Gedanken selten, nehmen jedoch immer mehr Raum ein. Vielleicht hat er das Alter erreicht, um damit aufzuhören? Doch was kommt dann?

Und immer wieder die besondere Sprache, dieser typische Fosse-Sound. Die ewigen Wiederholungen, litaneihaft, besonders in den wenigen Gesprächen die der Held führt. Wiederholen und bestätigen gegen die Wortkargheit. Gespräche fallen ihm schwer. Dafür erleben wir die reichen inneren Selbstgespräche, die Gedankenwelt, die Art an Dinge, etwa an das Malen, heran zu gehen, die vielleicht auch von der abgeschiedenen Lebensart herrühren, die der Held jedoch um keinen Preis aufgeben würde. Und ich kann ihn gut verstehen …
Fosses Buch zeugt wieder von einer tiefen Spiritualität und von der Hingabe an die Kunst, die vielleicht nur auf diese Weise entstehen kann: der Maler (oder die Künstlerin, Autorin) als Medium. Ein Leuchten!

Der Roman erschien im Rowohlt Verlag und wurde wieder vom großen Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel aus dem Norwegischen übertragen. Eine Leseprobe gibt es hier. Das Buch ist auch unabhängig vom ersten Teil gut lesbar. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Ein interessantes Interview mit dem Autor gibt es in de FAZ.

Weitere Bücher von Jon Fosse, die ich hier auf dem Blog besprochen habe:

Heidi Sævareid: Am Ende der Polarnacht Insel Verlag

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Während viele sich auf den Frühling freuen, habe ich mich auf eine Lesereise nach Norden in die Kälte begeben. Die Norwegerin Heidi Sævareid hat einen richtig schönen Roman über eine aufgrund der äußeren Umstände schwierigen Beziehung veröffentlicht. Wir reisen nach Spitzbergen, wie die Autorin und erleben „Das Ende der Polarnacht„. Spitzbergen, Svalbard genannt, das zu Norwegen gehört, spielt letztlich die Hauptrolle im Roman. Denn auf Spitzbergen zu leben ist eine riesige Herausforderung, für Menschen aus dem „Süden“. Im Winter (von Oktober bis Februar) werden die Tage kaum hell, während es im Sommer auch nachts nicht dunkel wird. Sævareid schildert das in eindrücklicher Weise.

1957: Wir begegnen Eivor und Finn, einem jungen Ehepaar mit zwei kleinen Töchtern, Unni und Lisbeth. Finn ist Arzt, Chirurg und bekommt die Chance sich auf Spitzbergen zu qualifizieren. Während Finn sich sehr schnell in Longyearbyen, dem Hauptort der Insel einlebt, wegen seiner Tätigkeit im Krankenhaus schnell Bekanntschaften schließt, im Fußballverein spielt und im Turnverein mitmischt, findet sich Eivor nur schlecht zurecht. Sie kümmert sich vorwiegend um die Kinder und den Haushalt. Eivor ist schnell überfordert mit den sehr lebhaften Kindern. Als sie vom Sysselmann, dem Ortsvorsteher, die Huskyhündin Jossa ausgeliehen bekommt, damit sie auf ihren Skitouren nicht alleine ist, verändert sich ihr Leben. Die beiden haben Respekt voreinander, sind aber bald ein Herz und eine Seele. In kurzen Rückblenden erfährt man, wie es zu der Beziehung zu Finn kam und dass sich Eivor eigentlich ein anderes Leben gewünscht hat.

Am Anfang des Romans erlebt die Familie, wie sich die Zeit hier im Norden nach den Jahreszeiten, den Temperaturen richtet und wie abhängig die Bewohner davon sind. So achtet man im Herbst darauf, wann der Fjord zufriert, weil dann kein Schiff mehr auf die Insel gelangen kann. Das letzte Schiff ist also auch die letzte Möglichkeit Nahrung, Medikamente, ja Weihnachtsgeschenke auf die Insel zu bringen oder eben auch die letzte Möglichkeit die Insel vor dem Frühjahr zu verlassen. Gleichzeitig wird in der kleinen Gemeinschaft jeder Anlass genutzt, kleine oder größere Feste zu feiern um den eintönigen Alltag zu durchbrechen. Für Eivor ist diese Isolation täglich eine neue Herausforderung. Um dem monotonen Einerlei zu entkommen, begibt sie sich auf lange Skitouren mit Jossa, während eine der Krankenschwestern auf die Kinder aufpasst. Das Gewehr hat sie immer dabei, denn auf Spitzbergen sind Eisbären, die durchaus auch einmal in den Ort kommen, eine nicht seltene Gefahr.

„Eivors Ausflüge werden immer kürzer, je enger sich die Tage um sie herum schließen. Mit jedem Tag, der verstreicht, wird das kleine Fenster mit Dämmerlicht kleiner und kleiner, und ihr Bewegungsradius schnürt sich im Takt enger. Sie traut sich nicht, lange Ausflüge zu machen, nicht einmal mit Jossa, nicht einmal mit Gewehr und Stirnlampe.“

Finn ist mit seinen Patienten ausgelastet, in den Kohlebergwerken kommt es immer wieder zu Unfällen bei den Grubenarbeitern. Er arbeitet zusammen mit dem Assistenzarzt Reidar und dem Zahnarzt … Immer wieder gibt es Überstunden oder lange Schichtdienste. Finn und Eivor entfremden sich zusehends. Von Anfang an bekommen sie auch privat Besuch von Heiberg, der in der Verwaltung des Bergwerks arbeitet. Zunächst scheint sich eine Männerfreundschaft zu entwickeln, doch bald schon zeigt sich, das Heiberg allerlei Merkwürdigkeiten und Ticks entwickelt. Eivor und die Kinder sind von seinen immer häufiger werdenden Besuchen genervt. Finn sieht sich in der Pflicht, dem Mann zu helfen.

Ganz nebenbei erfährt man auch von politischen Geschehnissen. Denn es herrscht der Kalte Krieg, es wird aufgerüstet mit Atombomben und man befürchtet, dass auch auf Svalbard ein Militärstützpunkt errichtet werden könnten, was Russland, das auf Svalbard auch Kohle fördert, nicht gefallen würde. Gleichzeitig ist man den Russen freundschaftlich verbunden, so dass man sich mit russischen Turnvereinen zu Wettkämpfen trifft.

Im Sommer verbringt die Familie mehrere Wochen in Norwegens Süden und in Oslo bei Eltern und Freunden. Für Eivor ist es eine vollkommen unbeschwerte Zeit und das Paar nähert sich wieder an.
Als sie wieder zurück sind, verrutscht das Gleichgewicht erneut. Eivor schafft es zwar die Kinder zu versorgen, doch Finn bekommen sie immer weniger zu sehen. Inzwischen ist Jossa vollständig in der Wohnung eingezogen und wichtigster Bezugspunkt für Eivor. Finn bemerkt, dass Heiberg immer mehr psychische Auffälligkeiten zeigt. Auf psychiatrische Erkrankungen ist das Krankenhaus nicht eingestellt, das letzte Schiff ist vor Wochen abgefahren. Und Heiberg verletzt sich selbst und gefährdet bald andere. Für Finn ist das eine große Herausforderung, er fühlt sich dem Beruf verpflichtet, der sich nun aber schwer mit der Familie vereinbaren lässt.

Die Autorin hat eine große Gabe, an Stellen wo es wichtig ist, genau hinzusehen. Sie zeichnet ihre Figuren bildhaft, besonders Eivor. Eivor in ihrer inneren Not und in ihrem Ringen zwischen Selbstbestimmung und Selbstaufgabe. Auch die Unterschiedlichkeit der Charaktere, die großen Unterscheide zwischen Finn und seiner Frau arbeitet sie deutlich heraus. Finn ist sehr gesellig, Eivor eher verschlossen. Eivor möchte gerne Zeit alleine mit ihrem Mann verbringen, Finn bringt oft unangekündigt Gäste mit. So spitzt sich die Lage immer mehr zu. Reden können die beiden kaum miteinander, obwohl sie es immer wieder versuchen. Als Leserin warte ich förmlich darauf, dass die Situation eskaliert. Gegen Ende des Romans, wir begleiten die Familie über ein ganzes Jahr, löst sich zumindest einer der Knoten auf. Doch die schwierige Grundsituation bleibt.

„Das Licht muss im Laufe der letzten Tage zurückgekehrt sein, sie erinnert sich nur an die Dunkelheit, bevor sie krank geworden ist. Es muss auf einmal ganz schnell gegangen sein. Das passiert Anfang Februar, das weiß sie noch vom letzten Jahr. Alles andere steht still. Das Einzige, was sich ändert, ist das Licht.“

Mich hat der Roman gefesselt, auch sprachlich, denn die Autorin erzählt leichthin und dennoch tief, atmosphärisch dicht. Die Kälte der Polarnacht, die den Menschen auf Dauer so zusetzt, war direkt spürbar.

Der Roman erschien im Insel Verlag. Karoline Hippe hat ihn aus dem Norwegischen übersetzt. Eine Leseprobe gibt es hier.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Zeichen & Zeiten.

Ein weiteres empfehlenswertes Buch über Spitzbergens Polarnacht, ist der inzwischen schon Klassiker gewordene Roman „Eine Frau erlebt die Polarnacht“ von Christiane Ritter, bereits 1934 geschrieben.

Hanne Ørstavik: ti amo Karl Rauch Verlag

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Die Norwegerin Hanne Ørstavik hat einen kurzen Roman herausgegeben, der sehr traurig ist. Ich bin großer Fan ihres Schreibens. Es sind immer Themen, die anspruchsvoll und oft melancholisch sind. Tiefe und Sehnsucht strahlen durch ihre Bücher. Doch diesmal ist es noch etwas anders. Das Buch ist autobiographisch und erzählt von der Krebsdiagnose ihres Ehemanns und der letzten schweren Zeit vor dem Tod. Sie zititert anfangs auch immer wieder Birgitta Trotzig, eine schwedische Schriftstellerin, die im Schreiben offenbar auch ihre Möglichkeit der Verarbeitung von schweren (Krankheits?-)Situationen fand. Im Buch schreibt sie selbst, dass sie in der Zeit der Krankheit und der Pflege ihres Mannes nicht in der Lage war einen neuen Roman zu beginnen. Erst sollte dieses Thema seinen Weg finden. Dann könnte womöglich Neues beginnen. Das Buch ist auch ein Blick in das reiche Innenleben dieser wunderbaren Autorin.

„Und ich habe vierzehn Romane geschrieben, und wenn es etwas gibt, worum es mir beim Schreiben gegangen ist, dann darum, dass es wahrhaftig sein soll. Das, was ich schreibe, soll wahr sein. Dasselbe gilt auch für mein Leben, im Verhältnis zu anderen Menschen, im Verhältnis zu mir selbst.“

Die Autorin begegnet ihrem zukünftigen Mann in Italien bei einer Buchmesse. Er ist ihr italienischer Verleger. Die beiden lernen sich kennen und lieben und sie zieht zu ihm nach Mailand. Es ist beider große Liebe. Doch es bleibt eine sehr kurze unbeschwerte Zeit. Bald zeigt sich, dass ihr Mann an Krebs erkrankt ist und auch nach einer Operation und zahlreichen Chemotherapien ist keine Heilung in Sicht. Hanne, die vom Arzt erfährt, dass er höchstens noch ein Jahr zu leben hat, würde gerne mit ihm über den Tod reden, doch ihr Mann lehnt das ab. Er sperrt sich regelrecht dagegen, selbst als es nicht mehr zu verheimlichen ist. Er plant Parties, obwohl ihr gar nicht danach ist und geht immer wieder auch zur Arbeit in den Verlag. Doch es scheint eher ein Aufabstandhalten, ein Nichtwahrhabenwollen, eine Art Flucht  zu sein, was ihn antreibt. Immer wieder kommen dann die großen Schmerzen, die selbst mit großen Mengen an Morphium oft nicht aufzuhalten sind. Ein schonungsloses Bild, dessen, was Krebskrankheit bedeuten kann.

Ørstavik schildert auch ihre eigene Gefühlslage und wie sie auch versucht, sich abzugrenzen, ihre eigenen Kräfte zu bewahren, um nicht selbst, an den Rand der Verzweiflung zu kommen. Es gelingt nicht immer stark zu sein. Viele Erinnerungen tauchen auf, wie sie sich kennenlernten, zusammenfanden, welche Reisen sie gemeinsam machten und noch planten, wie groß diese Liebe war. Immer wieder versichern sie sich dieser und sagen es: „ICH LIEBE DICH. Wir sagen es die ganze Zeit. Wir sagen es, statt etwas anderes zu sagen.“ Und immer wieder spricht sie im Text ihren Mann direkt als ein Du an. Wir Leser*innen nehmen auch dadurch sehr nah am Geschehen teil. Das ist manchmal nicht leicht (besonders wenn sich noch persönliche Verbindungen dazu finden). 

Über den Tod ihres Mannes und die Zeit danach erfahren wir nichts, obwohl ich gerne mehr zu Abschied und Trauer gelesen hätte, aber vielleicht war es Hanne Ørstavik einfach nicht möglich darüber zu schreiben. Es ist ohnehin außergewöhnlich, ein so persönliches, schmerzlich offenes Buch zu schreiben und zu ver-öffentlichen. Danke, Hanne Ørstavik!

Und danke Andreas Donat, für die sensible Übersetzung. Das Buch erschien im Karl Rauch Verlag. Eine Leseprobe gibt es hier. Und ein kurzes Video der Autorin zu ihrem Buch hier:

Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar!

Weitere Rezensionen auf meinem Blog, alle Romane der Autorin sehr empfehlenswert:

Hinweis: Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat keinerlei Auswirkung auf meine Wahrnehmung und Rezension des Buches.